1. Kapitel

EDEN FALLS, NEW YORK – VIER JAHRE SPÄTER

An dem Tag, als Michael Roman fünf Jahre nach dem letzten Tag seines Lebens begriff, dass er ewig leben würde, färbte sich seine ganze Welt rosarot. Genau genommen war es ein helles Rosarot: rosarote Tischdecken, rosarote Stühle, rosarote Blumen, rosarote Kreppgirlanden, sogar ein riesengroßer rosaroter Sonnenschirm, der mit lächelnden rosaroten Häschen geschmückt war. Es gab rosarote Tassen und rosarote Teller, rosarote Gabeln und Servietten und einen großen Teller, auf dem sich Muffins mit rosarotem Zuckerguss türmten.

Das Einzige, was das Haus davor bewahrte, bei den Zuckerhaus-Immobilien gelistet zu werden, war ein kleiner Fleck grünes Gras, das man zwischen den unzähligen Klapptischen aus Aluminium und den Plastikstühlen kaum sehen konnte. Und dieses Gras würde nie wieder so sein wie zuvor.

Dann hatte er im Geiste noch etwas anderes Grünes vor Augen. Grüne Geldscheine, die sich verabschiedeten.

Was all das wohl kostete?

Als Michael hinter dem Haus stand, dachte er an den Augenblick, als er es zum ersten Mal gesehen hatte und wie perfekt es ihm erschienen war.

Es war ein Ziegelsteinhaus im Kolonialstil mit drei Schlafzimmern, braunen Fensterläden und farblich passenden Stützpfeilern, das weit von der kurvenreichen Straße entfernt lag. Das Haus stand inmitten großer Platanen einsam auf einem kleinen Hügel. Eine meterhohe Hecke schirmte es gegen die Straße und die Nachbarn ab. Hinter dem Haus befanden sich eine Garage für zwei Fahrzeuge, ein Schuppen für Gartengeräte und ein großer Garten mit Sichtschutzzaun. Das Grundstück, hinter dem der Wald begann, senkte sich hinab zu einem gewundenen Bach, der in den Hudson River mündete. Nachts war es hier schaurig still. Für Michael, der in der Stadt aufgewachsen war, war es eine große Umstellung gewesen. Anfangs hatte ihm die Abgeschiedenheit zugesetzt. Abby ging es genauso, doch das hätte sie niemals zugegeben. Die nächsten Häuser waren in alle Richtungen vierhundert Meter entfernt. Im Sommer waren die Bäume so dicht belaubt, dass man hätte meinen können, in einem riesigen grünen Kokon zu wohnen. Als im letzten Jahr während eines starken Sturms zweimal der Strom ausfiel, hatte Michael sich wie auf dem Mond gefühlt. Seit diesem Vorfall hatte er große Vorräte an Batterien, Kerzen, Konserven und sogar zwei Ölöfen angeschafft. Wahrscheinlich könnten sie eine Woche im Yukon überleben, wenn es sein müsste.

»Der Clown kommt um ein Uhr.«

Michael drehte sich zu seiner Frau um, die mit einem Teller Plätzchen, die mit rosarotem Zuckerguss überzogen waren, den Hof überquerte. Sie trug eine enge weiße Jeans, ein taubenblaues Roar Lion Roar-T-Shirt der Columbia University und Flipflops aus dem Drogeriemarkt. Irgendwie schaffte sie es immer, wie Grace Kelly auszusehen.

»Kommt dein Bruder auch?«, fragte Michael.

»Sei nett zu ihm.«

Abigail Reed Roman war einunddreißig Jahre alt und vier Jahre jünger als ihr Ehemann. Im Gegensatz zu Michael, der aus einfachen Verhältnissen stammte, war Abby als Tochter eines weltbekannten Herzchirurgen in einem herrschaftlichen Haus in Pound Ridge aufgewachsen. Mitunter hätte man meinen können, Michael, der schnell auf hundertachtzig war, hätte überhaupt gar keine Geduld, doch seine Frau war meistens die Ruhe selbst. Es sei denn, sie wurde in die Enge getrieben. Dann konnte auch sie fuchsteufelswild werden. Das konnte nach fast zehnjähriger Tätigkeit als Krankenschwester in der Notaufnahme des New York Downtown Hospital nicht ausbleiben. Zehn Jahre lang Drogensüchtige, Schwerstverletzte, Todkranke, zerstörte Seelen.

Doch das war in einem anderen Leben.

»Hast du den Kuchen mit Zuckerguss überzogen?«

Scheiße, dachte Michael. Das hatte er ganz vergessen, und das war gar nicht seine Art. Er war nicht nur derjenige, der in dieser kleinen Familie meistens das Kochen übernahm, sondern er war auch fürs Backen zuständig. Sein Bienenstike war so lecker, dass sogar starke Männer schwach wurden. »Mach ich sofort.«

Als Michael zurück zum Haus lief und dabei den rosaroten Luftballons auswich, dachte er über diesen Tag nach. Seitdem sie vor einem Jahr aus der Stadt hierhergezogen waren, hatten sie noch nicht viele Partys gegeben. In Michaels Kindheit schienen sich in der winzigen Wohnung seiner Eltern in Queens ständig Freunde, Nachbarn, Verwandte und Kunden der Familien-Bäckerei aufzuhalten. Eine Symphonie osteuropäischer und baltischer Sprachen hallte über die Feuerleiter auf die Straßen von Astoria. Selbst in den letzten Jahren, seit sein Stern im Büro des Bezirksstaatsanwalts aufgegangen war, hatten er und Abby jedes Jahr höchstens eine Hand voll Cocktailempfänge oder Dinnerpartys für einflussreiche Gäste gegeben.

Doch hier in diesem Vorort sprachen sie immer seltener Einladungen aus, bis fast gar nicht mehr bei ihnen gefeiert wurde. Alles schien sich nur noch um die Mädchen zu drehen. Vielleicht war das nicht der beste Schachzug für seine Karriere, aber Michael war mit seinem Leben rundum zufrieden. An dem Tag, als die Mädchen in sein Leben traten, änderte sich alles.

Als Michael zehn Minuten später in der Küche stand und der Kuchen mit Zuckerguss überzogen und dekoriert war, hörte er, dass sich vier kleine Füße näherten und dann stehen blieben.

»Wie sehen wir aus, Daddy?«

Michael drehte sich um. Als er seine vier Jahre alten Zwillinge, die beide gleich gekleidet waren, dort Hand in Hand in ihren weißen Kleidchen – und natürlich mit rosaroten Bändern im Haar – stehen sah, war er überglücklich.

Charlotte und Emily. Die beiden Hälften seines Herzens.

Vielleicht würde er ewig leben.

Um zwölf Uhr war die Party in vollem Gange, und die Kinder kreischten vor Vergnügen. Eden Falls war ein kleiner Ort in Crane County in der Nähe des Hudson River, ungefähr fünfzig Meilen von New York entfernt. Im Norden von Westchester County gelegen – und daher noch weiter von Manhattan entfernt und für junge Familien erschwinglicher – schienen hier ungewöhnlich viele Kinder unter zehn Jahren zu wohnen.

Michael hatte das Gefühl, sie wären alle eingeladen worden. Er fragte sich, wie viele Freunde vierjährige Mädchen haben konnten. Sie gingen noch nicht einmal zur Schule. Hatten sie ihre eigenen Seiten bei Facebook? Twitterten sie schon? Waren sie in sozialen Netzwerken wie Chuck E. Cheese?

Michaels Blick wanderte über das ausgelassene Getümmel. Es waren mindestens zwanzig Kinder mit den dazugehörigen Müttern, die alle Kleidung mit den Logos von J. Crew, Banana Republic oder Eddie Bauer trugen. Die Kinder waren ständig in Bewegung. Die Mütter standen mit ihren Handys in den Händen herum, unterhielten sich leise und nippten an Kräutertee und Beerensaft.

Um halb eins brachte Michael den Kuchen in den Garten. Er wurde mit lautem Beifall begrüßt, doch seine Töchter schauten ihn mit gerunzelten Augenbrauen an, als würde sie etwas bedrücken. Michael stellte den großen Kuchen auf einen der Tische und hockte sich hin, um mit den Mädchen zu sprechen.

»Gefällt euch der Kuchen?«

Die Mädchen nickten im Einklang.

»Wir wollten dich aber was fragen«, sagte Emily.

»Was denn, mein Schatz?«

»Ist das ein Bio-Kuchen?«

Aus dem Munde einer Vierjährigen hörte sich das Wort fast wie Chinesisch an. »Bio?«

»Ja«, sagte Charlotte. »Das muss ein Bio-Kuchen sein. Und gutenfrei. Ist der gutenfrei?«

Michael schaute zu Abby hinauf. »Haben sie sich wieder diese Kochsendungen angesehen?«

»Noch schlimmer«, erwiderte Abby. »Ich musste ihnen ein paar Folgen von Gesunder Appetit mit Ellie Krieger aufnehmen.«

Michael begriff, dass er seinen Töchtern eine Antwort schuldig war. Sein Blick wanderte über den Boden, den Himmel, die Bäume und noch einmal zu seiner Frau, von der keine Hilfe zu erwarten war. »Okay, ich würde sagen, dieser Kuchen hat gutenfreie Eigenschaften.«

Charlotte und Emily musterten ihn skeptisch.

»Was ich sagen will, ist«, fuhr Michael fort und griff in die Trickkiste, ohne die er als Anwalt aufgeschmissen wäre. »Er hat gutenfreie Elemente.«

Die Mädchen wechselten einen dieser typischen Zwillingsblicke, mit denen sie geheimes Wissen austauschten. »Ist okay«, sagte Charlotte schließlich. »Du backst gute Geburtstagskuchen.«

»Danke, meine Damen«, sagte Michael, der ungeheuer erleichtert war, aber auch ein wenig perplex. Immerhin war dies hier erst der dritte Kuchen, den er für sie gebacken hatte, und er konnte sich kaum vorstellen, dass sie sich an die ersten beiden erinnerten.

Als Michael sich anschickte, den Kuchen anzuschneiden, sah er, dass die Mütter leise tuschelten. Sie schauten alle auf den Weg, der am Haus vorbei in den Garten führte, fuhren sich schnell mit den Händen durchs Haar, strichen über ihre Kleidung und legten ein Lächeln auf. Für Michael konnte das nur eines bedeuten: Tommy war im Anmarsch.

Thomas Christiano gehörte zu Michaels ältesten Freunden. Die beiden waren in ihrer jugendlichen Sturm- und Drangzeit in allen Kneipen in Queens und auch in vielen in Manhattan oft die letzten Gäste gewesen. Er war der einzige Mann, der Michael jemals hatte weinen sehen, und das war in der Nacht, als Michael und Abby Charlotte und Emily nach Hause gebracht hatten. Bis heute behauptete Michael, es sei eine allergische Reaktion gewesen, doch Tommy wusste es besser.

Als der gut aussehende Tommy mit den weichen Gesichtszügen und Michael mit dem jungenhaften Gesicht und den meerblauen Augen in den Zwanzigern waren, sorgten sie überall für Aufsehen. Der dunkle Tommy und der blonde Michael, die an Starsky und Hutch erinnerten, hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Sie waren beide knapp über eins achtzig, stets gut gekleidet, erfolgreich und selbstbewusst. Während Tommys Geschmack zu Missoni und Valentino tendierte, waren es bei Michael Ralph Lauren und Land’s End. Die beiden waren das dynamische Duo.

Doch auch das war einige Jahre her.

Tommy schlenderte über den Rasen, und wie immer waren aller Augen auf ihn gerichtet. Sogar wenn er zu einem Kindergeburtstag ging, warf er sich in Schale – schwarzes Armani-T-Shirt, cremefarbene Leinenhose, schwarze Lederslipper. Tommy wusste, dass auch auf einem Kindergeburtstag oder vielleicht gerade auf einem Kindergeburtstag eine Reihe von Frauen in den Zwanzigern oder Dreißigern anwesend waren. Er wusste ebenfalls, dass ein gewisser Prozentsatz von ihnen geschieden war oder getrennt lebte oder sich in Trennung befand. Tommy Christiano setzte auf Prozente. Das war einer der Gründe, warum er zu den Staatsanwälten in Queens County, New York, gehörte, denen der größte Respekt entgegengebracht wurde.

Die Nummer eins allerdings, der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt in Kew Gardens, der am meisten gefürchtet wurde, das war Michael Roman.

»Abigail«, sagte Tommy und küsste Abby nach europäischer Sitte auf beide Wangen. »Du siehst klasse aus.«

»Klar«, sagte Abby und zeigte auf ihre ausgelatschten Sandalen und die zerschlissene Jeans. Doch sie errötete dennoch. Es gab nicht viele Leute, die Abby Roman in Verlegenheit bringen konnten. »Ich sehe aus, als wäre ich gerade an den Rockaway Beach gespült worden.«

Tommy lachte. »Die schönste Meerjungfrau aller Zeiten.«

Abby errötete ein zweites Mal und schlug Tommy freundschaftlich auf die Schulter. Da Abby mit einer fast an Besessenheit grenzenden Begeisterung Pilates betrieb, nahm Michael an, dass der Schlag wehgetan hatte. Tommy wäre allerdings eher gestorben, als sich etwas anmerken zu lassen.

»Weißwein?«, fragte Abby.

»Klar.«

Kaum drehte Abby sich um und lief auf das Haus zu, rieb Tommy sich die Schulter. »Mein Gott, deine Frau hat aber Kraft.«

»Du musst mal Touch Football mit ihr spielen. Wenn wir es spielen, stehen immer Sanitäter bereit.«

In der nächsten halben Stunde schauten zahlreiche Mitarbeiter aus dem Büro des Bürgermeisters und des Bezirksstaatsanwalts von Queens County kurz vorbei. Michael fühlte sich geschmeichelt, doch er war auch ein wenig verwundert, als Dennis McCaffrey, der Bezirksstaatsanwalt persönlich, mit zwei riesigen Teddybären für die Mädchen auftauchte. Kürzlich hatte Michael Dennis McCaffrey auf der Geburtstagsparty des fünfjährigen Sohnes des stellvertretenden Bürgermeisters getroffen. Diesem Jungen hatte der Bezirksstaatsanwalt, der seine gewählte Position seit neunzehn Jahren innehatte und der Mann mit dem größten politischen Geschick war, den Michael jemals kennengelernt hatte, nur einen recht mickrigen Pinguin von Beanie Baby geschenkt. Seit Michaels Ruf als einer der fähigsten Staatsanwälte der Stadt sich immer weiter festigte, wurden die Plüschtiere für seine Kinder anscheinend immer größer.

Um ein Uhr kam die Unterhaltungskünstlerin in Gestalt einer großen Frau in einem Federkleid, die den Künstlernamen Chickie Noodle the Clown trug. Im ersten Augenblick dachte Michael, sie könnte für eine Kinderparty etwas zu alt sein, doch diese Befürchtung erwies sich als vollkommen unbegründet. Diese Frau hatte richtig was drauf und besaß genügend Energie und Geduld, um mit zwanzig Kindern fertig zu werden. Neben Luftballonfiguren drehen, Gesichter bemalen und irgendetwas, das sich Merry Madcap Olympics nannte, gehörte auch die obligatorische Piñata zu ihrem Programm. Die Kinder durften sich aussuchen, welche Figur sie haben wollten, einen Hai oder einen Schmetterling. Die Kinder stimmten für den Schmetterling.

Michael stellten sich spontan zwei Fragen. Die erste lautete: Welcher Clown bringt eine Pappmascheefigur in Form eines Haifisches mit? Und die zweite Frage, die vielleicht noch interessanter war, lautete: Was waren das für Kinder, die Lust hatten, mit einem Plastikstock auf einen Schmetterling einzuprügeln?

Vorstadtkinder, die kamen auf solche Ideen. Sie hätten in Queens bleiben sollen, wo es sicher war.

Um halb drei trottete das Pony in den Garten. Es entstand wahnsinniger Tumult, als die Kinder Chickie Noodle, die sich mit einem Stapel Zauberhüte aus Pappe im Staub drehte, einfach stehen ließen. Ein Kind nach dem anderen durfte auf dem Shetlandpony namens Lulu, das alles ungerührt über sich ergehen ließ, über den Hof reiten. Michael musste zugeben, dass das eine tolle Idee war. Der Besitzer des Ponys, der Mann, der das Tier führte, war ein kleiner, freundlicher Cowboy in den Sechzigern mit O-Beinen und einem riesigen Stetson-Hut. Er sah aus wie ein auf die Größe eines Shetlandponys geschrumpfter Sam Elliott.

Um halb vier durften die Mädchen ihre Geschenke auspacken. Und was für Geschenke! Michael musste daran denken, dass er und Abby im Laufe des nächsten Jahres oder so, wenn die Gegeneinladungen ins Haus flatterten, Geschenke für jedes Kind auf dieser Party kaufen mussten. Ein kostspieliger Brauch in diesen Vororten.

Während die Zwillinge sich durch den Berg Geschenke wühlten, nahm Abby zwei kleine Kartons in die Hand und schaute auf die Karte. »Das hier ist von Onkel Tommy.«

Die Mädchen rannten mit ausgestreckten Armen auf Tommy zu. Tommy hockte sich auf den Boden und wurde von den beiden gedrückt und geküsst. Jetzt errötete er. Trotz zwei kurzer Ehen hatte er keine eigenen Kinder. Er war der Patenonkel von Charlotte und Emily und nahm diese Aufgabe mit der Ernsthaftigkeit eines englischen Erzbischofs wahr.

Die Mädchen liefen zurück zum Tisch. Als sie das Geschenkpapier von den kleinen Kartons entfernt hatten und Michael das Logo sah, dachte er, ihn trifft der Schlag. Ein zweiter Blick war nicht nötig. Er kannte dieses Logo ganz genau.

»Juhu!«, schrien die Zwillinge wie aus einem Munde. Natürlich hatten sie nicht die geringste Ahnung, was in den Kartons war, aber das spielte auch keine Rolle. Die Kartons waren in glänzendes Papier eingepackt; die Kartons waren für sie, und der Berg der Geburtstagsgeschenke wuchs unaufhörlich.

Michael warf Tommy einen Blick zu. »Du hast ihnen iPods gekauft?«

»Was ist schlecht an iPods?«

»Mensch, Tommy, sie sind vier

»Na und? Hören sich Vierjährige keine Musik an? Ich habe mir Musik angehört, als ich vier war.«

»Vierjährige laden sich keine Musik runter«, sagte Michael. »Warum hast du ihnen nicht gleich Handys gekauft?«

»Das kommt nächstes Jahr.« Tommy trank einen Schluck von seinem Wein und zwinkerte Michael zu. »Vier ist zu jung für Handys. Was bist du nur für ein Vater!«

Michael lachte, doch er musste daran denken, dass seine Töchter gar nicht mehr so weit von Handys und Laptops und Autos und Verabredungen mit Jungs entfernt waren. Er konnte es kaum ertragen, dass sie schon zur Vorschule gingen. Wie sollte er damit klarkommen, wenn sie erst Teenies waren? Er spähte kurz zu Charlotte und Emily hinüber, die die nächsten beiden Geschenke auspackten.

Noch waren sie kleine Mädchen.

Zum Glück.

Gegen vier Uhr neigte sich die Party langsam ihrem Ende zu, und die Eltern machten langsam schlapp. Die Kids fielen noch immer wie die Heuschrecken über Kekse, Schokoladenkuchen, Limonade und Eis her.

Tommy wollte gerade aufbrechen, als er Michaels Blick auffing. Die beiden Männer zogen sich in einen abgelegenen Winkel des Gartens zurück.

»Wie geht es dem Mädchen?«, fragte Tommy leise.

Michael meinte Falynn Harris, das stille Mädchen mit dem traurigen Engelsgesicht. Sie war die Hauptzeugin – nein, die einzige Zeugin – in seinem nächsten Mordprozess. »Sie hat bis jetzt noch kein Wort gesprochen.«

»Der Prozess beginnt am Montag?«

»Montag.«

Tommy nickte und dachte kurz nach. »Brauchst du etwas?«

»Danke, Tommy.«

»Vergiss Rupert Whites Party morgen nicht. Du kommst doch, oder?«

Michael warf Abby instinktiv einen Blick zu. Sie wischte einem Nachbarsjungen gerade Zuckerguss von Gesicht, Hals und Armen. Der Junge sah aus wie ein rosarotes rundes Gemälde. »Ich muss das mit meiner Befehls- und Kommandozentrale absprechen.«

Tommy schüttelte den Kopf. »Ehemänner!«

Michael sah, dass Tommy auf dem Weg zum Wagen stehen blieb und mit Rita Ludlow sprach, einer geschiedenen Frau in den Dreißigern, die am Ende der Straße wohnte. Vermutlich hatte jeder Mann unter neunzig hier in Eden Falls schon das eine oder andere Mal von dieser hochgewachsenen Schönheit mit dem kastanienbraunen Haar und der tollen Figur geträumt.

Es war keine Überraschung, dass sie Tommy nach einem kurzen Plausch ihre Telefonnummer gab. Tommy drehte sich um, zwinkerte Michael zu und schlenderte auf seinen Wagen zu.

Manchmal hasste Michael Roman seinen besten Freund.

Da auf den Einladungen zwischen zwölf und sechzehn Uhr stand, konnte es nur eines bedeuten, als sie vor dem Haus eine Autotür zuschlagen hörten. Abbys Bruder Wallace gab sich die Ehre. Er kam nicht einfach nur deshalb zu spät, weil es angesagt war, sondern weil er es cool fand. Und das war in Anbetracht seiner Vergangenheit schon bemerkenswert.

Wallace Reed war ein spindeldürrer Mann mit Sommersprossen und beginnender Glatze. Er war der Junge in der Highschool, der die Schutzumschläge seiner Bücher bügelte. Er war auch der Junge, der in der Schulband Triangel gespielt hätte, wenn ihn nicht jemand beim Vorspielen ausgestochen hätte, und er daher nur die zweite Triangel spielte.

Jetzt war er Präsident des Raumfahrtunternehmens WBR Aerospace mit einem Jahresgehalt in zweistelliger Millionenhöhe. Er wohnte in einer herrschaftlichen Villa in Westchester County und verbrachte den Sommer in einem dieser meergrünen luxuriösen Landhäuser in Sagaponack auf Long Island, die im Hamptons Magazine abgebildet wurden.

Obwohl Wallace zum Klub der eingeschworenen Computerfreaks gehörte, hatte er mit einer schier unglaublichen Anzahl schöner Frauen Affären gehabt. Es war schon erstaunlich, wie sehr man mit ein paar Millionen sein Image aufpolieren konnte.

Seine heutige Belle du jour war mit Sicherheit keinen Tag älter als vierundzwanzig. Sie trug ein Kleid mit Nackenbändchen von Roberto Cavalli und burgunderrote Ballerinas. Das sagte Abby jedenfalls. Michael hätte Ballerinas nicht von einem platten Reifen unterscheiden können.

»Endlich mal eine Frau, die weiß, wie man sich kleidet, wenn man zu einem Kindergeburtstag geht«, sagte Abby leise.

»Sei nett.«

»Ich tippe auf Whitney«, flüsterte Abby.

»Ich sage, sie heißt Madison.« Sie hatten um fünf Dollar gewettet.

»Das ist meine Lieblingsschwester«, sagte Wallace, der diesen Spruch ständig zum Besten gab. Abby war seine einzige Schwester. Er küsste sie auf die Wange.

Wallace trug ein pflaumenblaues Polohemd, eine beigefarbene Freizeithose mit einer messerscharfen Bügelfalte und grüne Wildlederstiefel. Barney, der bunte Dino, nach seinem Einkauf bei L. L. Bean. Er zeigte auf die junge Frau. »Das ist Madison.«

Michael wagte es nicht, seiner Frau einen Blick zuzuwerfen. Das war unmöglich. Die Zwillinge, die eine neue Freundin witterten, rannten herbei.

»Oh, das müssen die Geburtstagskinder sein«, sagte Madison und hockte sich hin. Die Mädchen machten auf schüchtern und legten ihre Finger auf die Lippen. Sie waren sich noch nicht im Klaren, welches Geschenkepotential in dieser Frau steckte.

»Ja, das sind Charlotte und Emily«, erwiderte Abby.

Madison lächelte, stand wieder auf und tätschelte die Köpfe der Mädchen, als wären sie Schnauzer. »Wie niedlich! Wie die Brontë-Schwestern.«

Abby warf Michael einen verzweifelten Blick zu.

»Stimmt«, sagte Michael. »Die Brontë-Schwestern.«

Es herrschte einen Moment Stille, die länger andauerte als die nach der Szene, in der Rock Hudson aus dem Schrank stieg.

»Die Schriftstellerinnen?«, fragte Madison und blinzelte ungläubig mit den Augen. »Die britischen Schriftstellerinnen

»Sicher«, sagte Abby. »Unter anderem haben sie auch geschrieben ...«

Die nächste lange Pause.

»Sturmhöhe? Jane Eyre?«

»Ja. Ich habe diese Bücher in meiner Jugend verschlungen. Michael auch.«

Michael nickte und hörte gar nicht mehr auf zu nicken. Er kam sich vor wie ein Wackeldackel am Heckfenster eines Autos mit kaputten Stoßdämpfern.

Die Mädchen umkreisten die vier Erwachsenen. Michael hörte förmlich die Titelmusik von Der weiße Hai. Die Geschenke von Onkel Wallace waren wie Oscars. Der beste Film kam immer zum Schluss.

»Möchtet ihr jetzt eure Geschenke haben?«, fragte Wallace.

»Ja!«, trällerten die Mädchen. »Jaaa!«

»Sie stehen vor dem Haus.«

Die Mädchen wollten gerade loslaufen, doch dann warteten sie, bis Wallace sie an die Hand nahm. Sie waren nicht dumm und wussten, wie sie ihren Opfern die größte Beute entlockten. Obwohl Charlotte einmal gesagt hatte, Onkel Wallace würde nach Essiggurken riechen.

»Er hat gesagt, sie stehen vor dem Haus«, sagte Michael, als die Truppe um die Ecke verschwand. »Sie hat er gesagt.«

»Ich weiß.«

»Er hat ihnen keine Fahrräder gekauft. Sag mir bitte, dass er ihnen keine Fahrräder gekauft hat. Wir haben darüber gesprochen.«

»Er hat es mir versprochen, Michael. Keine Fahrräder.«

Seinen Töchtern die ersten richtigen Fahrräder zu kaufen, das war eine wichtige Sache, eine Sache zwischen Vater und Töchtern, auf die Michael sich schon riesig freute. Er würde nicht zulassen, dass ein Millionär, der Eau de Essig auflegte, ihm dieses Erlebnis streitig machte.

Als Michael die Juhuschreie hörte, stieg Verzweiflung in ihm hoch. Kurz darauf rasten seine Töchter in ihren beiden rosaroten, batteriebetriebenen Barbie-Jeeps um die Ecke.

Mein Gott, dachte Michael.

Und schon fuhren sie ihre eigenen Autos.

Zwanzig Minuten später versammelten sich die letzten Gäste in der Einfahrt. Alle bedankten sich, küssten sich auf die Wangen und versprachen, sich bald wieder einmal zu treffen. Quengelige Kids wurden in SUVs gepackt, und die Party war vorbei.

Charlotte und Emily standen mit einem Stück Kreide auf der Terrasse hinter dem Haus. Sie malten die Felder für das Himmel-und-Hölle-Spiel auf die Steinplatten. Emily fand einen geeigneten Stein im Blumengarten, und die Mädchen spielten ein Spiel. Wie immer ging es nicht um den Sieg. Keines der Mädchen wollte die Schwester in irgendetwas übertrumpfen.

Als sie keine Lust mehr auf das Spiel hatten, malten sie etwas anderes auf die Steinplatten, die detailgetreue Figur eines großen blauen Löwen mit langem, gewundenem Schwanz. Sie malten, ohne ein Wort zu wechseln.

Um sechs Uhr ballten sich am Himmel über Crane County, New York, dunkle Wolken zusammen. Ihre Mutter rief sie ins Haus. Die kleinen Mädchen erhoben sich, schauten auf ihre Zeichnung und flüsterten sich etwas zu. Und dann umarmten sie sich mit verschwörerischen Mienen und gingen ins Haus.

Zwanzig Minuten später begann es zu regnen. Ein dicker Regenguss prasselte auf den Boden und das Gras und erweckte den Frühlingsgarten zum Leben. Es dauerte nicht lange, bis sich auf der Terrasse kleine Pfützen bildeten und das Bild vom Regen weggewaschen wurde.