24. Kapitel

Das Fenster, dachte Powell. Warum stand das Badezimmerfenster offen?

Als Powell mitten in Joseph Harkovs heruntergekommener Wohnung stand, versuchte sie, sich Viktor Harkovs letzte Stunden vor Augen zu führen. Das war etwas, was sie sehr gut konnte. Powell verstand nicht immer alle Feinheiten der kriminaltechnischen Untersuchungen. Sie besaß jedoch das Talent zu erraten, welche Motive jemanden antrieben und wie das Opfer die letzten Stunden seines Lebens verbracht hatte.

In all den Jahren bei der Polizei hatte sie vor zahlreichen Hindernissen gestanden, die sie alle mit der eisernen Entschlossenheit, erfolgreich zu sein und weiterzukommen, und mit dem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Logik aus dem Weg geräumt hatte.

Sie war in Kingston, Jamaika, aufgewachsen, ein schüchternes, ernstes Mädchen und eine von fünf Töchtern von Edward und Destiny Whitehall. Sie waren arm, litten aber niemals Hunger. Bis Destiny im Alter von einunddreißig Jahren an Krebs starb, wusch und flickte sie die Wäsche für die kleineren Hotels an der Bucht und sorgte dafür, dass die Kleidung ihrer Kinder immer sauber und gebügelt war.

Desiree, ein schlaksiges Mädchen mit dünnen Armen und Beinen, war gerade fünfzehn Jahre alt, als sie Lucien Powell heiratete. Sie war erst vierzehn, als Lucien immer wieder schüchtern um ihre Hand anhielt, was ihr vor Verlegenheit die Röte in die Wangen trieb. Berauscht von Desirees noch nicht voll erblühter Schönheit, folgte er ihr Tag für Tag in diskretem Abstand und schwärmte in den höchsten Tönen von ihr. Einmal schenkte er ihr einen Korb voller Lilien. Desiree hielt die Blumen, solange es ging, am Leben. Als sie schließlich verblüht waren, legte sie sie zwischen die Seiten eines abgegriffenen Buches, um sie zu pressen. Es war Die weiße Hexe von Rosehall von H. G. de Lisser – ihr Lieblingsbuch.

Nach über sechs Monaten dieser schüchternen Annäherungsversuche brachte Lucien sie eines Tages nach Hause. Als sie auf der Veranda ihrer Eltern standen und Lucien Powell ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab, war es um Desiree geschehen. Sieben Monate später heirateten sie mit dem Segen ihrer Familien.

Drei Tage vor Desirees sechzehntem Geburtstag wurde Lucien in einer kleinen Gasse in Kingston erschossen. Er wurde das Opfer einer Racheaktion der Polizei. Die »Tollwütigen« wurden sie genannt – eine brutale Sondereinheit der Polizei. Vier Kugeln wurden auf Lucien abgefeuert – eine in die Kehle, eine in den Bauch, eine in jede Schulter. Das Zeichen des Kreuzes.

Lucien war ein hart arbeitender junger Mann – von Beruf Maurer –, der ab und zu ein paar krumme Dinger drehte. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: »Sagt Des, dass ich die Kugeln nicht gehört habe.«

Sechs Monate später zog Desirees Vater mit der Familie nach New York. Ihr Vater, der inzwischen ebenfalls verwitwet war, ließ sich mit ihnen in Jamaica in Queens nieder. Er wusste nicht, dass dieses Viertel nichts mit der karibischen Insel seiner Geburt zu tun hatte. Doch ihr Vater würde eines Tages erfahren, dass dieser Stadtteil seinen Namen um 1666 herum von den Briten erhalten hatte. Er leitete sich von Jameco ab, dem Wort für Biber in der Sprache der Algonkin-Indianer. In diesem bunt gemischten Viertel von Queens, das mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und nur etwa eine Meile vom JFK Airport entfernt war, lebten heutzutage viele Jamaikaner.

In ihrem untröstlichen Kummer stürzte Desiree sich ins Studium, und nach gut drei Jahren hatte sie ihren Abschluss in Kriminalistik der City University of New York in der Tasche.

Im Laufe der Jahre hatte sie viele Liebhaber, die sich immer nach ihrem Terminkalender und ihren Bedingungen richten mussten. Mit Mitte dreißig machte sie den Fehler, sich mit einem verheirateten Lieutenant aus Süd-Brooklyn einzulassen. In diesem Fall war die Einsamkeit so groß, dass sie ihren gesunden Menschenverstand ausschaltete. Aber das war schon eine Weile her. Nun hatte sie ihren Job, ihre beiden streunenden Katzen, Luther und Vandross, und ein halbes Glas Wild Turkey – nicht mehr, aber auch nicht weniger – jeden Abend, wenn sie sich vor dem Schlafengehen ihre Lieblingsserien ansah, die sie immer aufnahm. Doch am wichtigsten war ihr der Job.

Die Eingangstür von Harkovs Wohnung war erst kürzlich mit einem Sicherheitsriegel versehen worden. Die Fenster waren alle geschlossen und mit Schlössern sowie vertikalen Stahlriegeln gesichert. Daher ließen sich die Schiebefenster nicht öffnen. Alle Türen und Fenster waren sicher verschlossen, bis auf eines. Das Badezimmerfenster.

Warum?

Powell wies die Kriminaltechniker an, das Badezimmerfenster, die Fensterbank und die Scheibe auf Fingerabdrücke zu untersuchen und besonderes Augenmerk auf das Schloss und den Stahlriegel zu legen. Als die beiden Kriminaltechniker ihrer Arbeit nachgingen und in Viktor Harkovs Wohnung nach Spuren suchten, befragte Marco Fontova die anderen Bewohner des Hauses. Desiree Powell untersuchte den Bereich rund um das Badezimmerfenster. Dort lagen kein zerbrochenes Glas und keine frischen Farbpartikel vom Fensterrahmen, was auf einen Einbruch hätte hinweisen können.

Warum stand das Fenster dann weit offen? Vor dem Fenster hing kein Fliegengitter, und gleich dahinter war eine Feuertreppe. Jeder konnte problemlos hier einbrechen. In dieser Wohnung waren keine Wertgegenstände zu finden, aber trotzdem. In Queens vergaß niemand, die Fenster zu schließen.

War jemand in der Wohnung gewesen und durchs Fenster verschwunden?

Warum war der Netzstecker des Computers gezogen?

Powell kehrte zu dem Schreibtisch im Wohnzimmer zurück. Sie legte eine Hand auf den Monitor und stellte fest, dass er noch warm war. Das bedeutete, dass ihn eben erst jemand ausgeschaltet hatte. Powell schaltete die Geräte ein und wartete darauf, dass der Computer hochfuhr. Während des Prozesses wurde der Nutzer informiert, dass der Rechner nicht vorschriftsmäßig heruntergefahren worden war. Falls Joseph Harkov panische Angst vor Feuer hatte oder meinte, ein paar Pennies Stromkosten sparen zu können, warum fuhr er den Computer dann nicht richtig herunter?, fragte Powell sich.

Fontova kehrte zurück, streifte Latexhandschuhe über und begann ohne große Begeisterung, sich in Harkovs Zimmer umzusehen. »Erinnern Sie mich daran, niemals Jura zu studieren«, sagte er. »Das ist echt eine verlauste Scheißbude.«

Fontova rollte mit den Augen, zog eine dünne Rolle Geldscheine aus der Hosentasche und reichte Powell einen der Scheine. Sie nahm ihn wortlos entgegen. Die beiden hatten eine Wette abgeschlossen, dass jeder, der während der Fastenzeit ein Schimpfwort benutzte oder fluchte, einen Dollar zahlen musste. Nach ungefähr einem Monat stand es etwa unentschieden.

»Dieser Typ war ein Anwalt der kleinen Leute«, sagte Powell. »Und vermutlich kein guter. Es ist fast unmöglich, so wenig Geld zu verdienen.«

Knurrend öffnete Fontova Schubladen und Schränke, hob Papiere hoch und leerte Hosen- und Jackentaschen. Er hatte es ebenso eilig wie Powell, diesen tristen Ort zu verlassen.

Sie würden Harkovs alten Computer und alle Disketten, Dokumente und Papiere mitnehmen. Der Mord sah ganz nach einem Racheakt aus. Der Mörder musste einen tief sitzenden Hass angestaut haben, und so etwas passierte nicht über Nacht. Es musste hier irgendwo einen Hinweis geben. Und den würden sie finden.