38. Kapitel
Während die Kriminaltechniker das Haus der Arsenaults unter die Lupe nahmen, kehrten Powell und Fontova ins Büro zurück. Sondra und James Arsenault folgten ihnen in die Stadt, um sich Verbrecherfotos anzusehen. Vielleicht konnten sie den Mann, der bei ihnen eingebrochen war, identifizieren.
Powell und Fontova überprüften fünfunddreißig Namen und stellten fest, dass viele Klienten, deren Fälle Harkov verloren hatte, nicht mehr in New York lebten. Von den sieben, die noch hier lebten, saßen zwei im Gefängnis. Fünf gingen einer geregelten Arbeit nach und hatten seit der Inhaftierung eine mehr oder weniger reine Weste.
Niemand hatte Vorstrafen, die auch nur im Entferntesten auf dieses extreme Gewaltpotential hinwiesen, dessen Zeugen sie in Harkovs Kanzlei geworden waren. Hier handelte es sich nicht um schwere Körperverletzung mit Todesfolge oder einen tödlichen Unfall, der sich bei einer aus dem Ruder gelaufenen tätlichen Auseinandersetzung ereignet hatte. Das war das Werk eines richtigen Psychopathen.
Nicht immer war klar ersichtlich, ob es sich um einen Mord handelte. Kürzlich hatten sie in einem Fall ermittelt, in dem der Mitarbeiter einer Tankstelle mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt worden war. Als der Mann dreißig Minuten später von Detectives vernommen wurde, erlitt er einen Herzinfarkt. Er brach zusammen und starb noch am Tatort. Mit einem ähnlichen Fall hatten sie es zu tun, ehe Powell ins Morddezernat versetzt wurde. Damals war ein Mann auf einem Spielplatz in Forest Hills angegriffen und mit einem Messer verwundet worden. Der Mann fiel ins Koma, aus dem er jahrelang nicht erwachte. Der Angreifer wurde verhaftet und wegen schwerer Körperverletzung zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, von denen er acht absitzen musste. Drei Wochen, nachdem der Angreifer aus der Haft entlassen wurde, starb der Mann im Koma.
Handelte es sich in diesen Fällen um Mord? Für Desiree Powell war das keine Frage und auch nicht für alle Kollegen, mit denen sie jemals zusammengearbeitet hatte. Es war jedoch nicht die Polizei, die darüber zu entscheiden hatte. Das entschied der Staatsanwalt. Außerdem reichte es nicht aus, wenn ein Polizist von der Schuld oder Schuldfähigkeit eines Verbrechers überzeugt war. Er musste es auch beweisen können.
Powell überlegte, welcher Kandidat in Frage kommen könnte. Keiner stach besonders hervor.
Sie reichte Marco Fontova die Liste. Die ehemaligen Mandanten wohnten in Jackson Heights, Elmburst, Briarwood und Cypress Hills. Mit anderen Worten, er musste durch ganz Queens und halb Brooklyn fahren.
Fontova griff in die Tasche, zog einen Ein-Dollar-Schein heraus und reichte ihn Powell.
»Wofür ist das Geld?«, fragte sie.
»Muss ich etwa nach Cypress Hills fahren, in dieses Scheißviertel?«
Powell nickte und nahm das Geld entgegen. »Wenn es nötig ist, setzen Sie sich mit dem Morddezernat in Brooklyn in Verbindung.«
Fontova verzog das Gesicht. Die Detectives in Brooklyn und die in Queens liebten sich nicht gerade. Manchmal mussten sie zusammenarbeiten, aber das musste ihnen nicht gefallen.
Grummelnd nahm Fontova seine Jacke und verließ das Büro.
Powell lehnte sich zurück. Es hatte Vorteile, die Dienstälteste zu sein, dachte sie, aber dazu gehörte sicherlich nicht die Tatsache, dass sie älter war als die Hälfte ihrer Kollegen.
Sie schaute sich die Liste der Leute an, die sie befragen würde, und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Im Gegensatz zu dem, was die Leute gemeinhin glaubten, schmeckte der Kaffee im Morddezernat von Queens gut. Die Frau oder Freundin eines Kollegen – Powell war nicht immer ganz auf dem Laufenden – hatte ihrem Mann oder Freund ein Abo für die Lieferung des »Kaffees des Monats« geschenkt. Vielleicht handelte es sich um eine verlorene Wette oder die Drohung, peinliche Bürointerna auszuplaudern, jedenfalls war der Kaffee schließlich in dem kleinen Kühlschrank in dieser Abteilung gelandet. Heute tranken sie eine Kona-Mischung.
Powell setzte sich an den Computer.
Sie legte die Back-up-CD ein, die von Viktor Harkovs Festplatte angefertigt worden war. Offenbar hatte er alle möglichen Informationen gesammelt und auch Bilddateien der Speisekarten aller Takeaways in der Nähe seiner Kanzlei gespeichert. Powell kämpfte sich durch die erste Hälfte der CD. Nichts.
Sie wollte das Büro schon verlassen, als sie versteckt in einem der Verzeichnisse eine Datenbank mit einer Hand voll Namen und Adressen entdeckte. Sie war separat von den anderen abgespeichert worden. In dem Verzeichnis befanden sich auch Dateien mit Briefen und anderer Korrespondenz. Diese Datei hieß NYPL 15.25 EINFLUSS DER TRUNKENHEIT AUF DIE SCHULDFÄHIGKEIT. Aber darum ging es hier nicht. Stattdessen fand Powell eine kurze Liste mit Namen, Adressen und anderen Daten mit der Überschrift ADOPTIONEN 2005 (2).
Was haben wir denn da?, dachte Powell.
Im April 2005 hatte Viktor Harkov die Adoption von zwei Zwillingspärchen vermittelt. Zwei Mädchen wurden von Sondra und James Arsenault adoptiert. Das wusste Powell bereits. Außer den beiden kleinen Mädchen, die Sondra und James Arsenault adoptiert hatten, wurde ein in Estland geborenes weibliches Zwillingspärchen, deren Adoption in Helsinki abgewickelt wurde, von einem Paar adoptiert, das damals noch in Whitestone in Queens wohnte. Als Powell die Namen sah, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Das war ein Gefühl, das sie besonders liebte.
Sie nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer.
»Tommy. Hier ist Desiree Powell.«
»Hallo«, sagte Tommy Christiano. »Haben Sie schon Arbeit für uns?«
»Und wovon träumen Sie nachts?«
»Was gibt’s denn?«
»Kennen Sie Michael Romans Frau?«
Tommy zögerte kurz. Powell ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Klar. Sie ist großartig. Michael hat eine tolle Frau geheiratet.«
»Was macht sie beruflich?«
»Sie arbeitet in einem Krankenhaus in Crane County.«
»Dort, wo sie jetzt wohnen?«
»Ja.«
»Das ist praktisch«, sagte Powell. »Ist sie Ärztin?«
»Nein. Examinierte Krankenschwester. Warum fragen Sie?«
»Wissen Sie, wo sie früher gearbeitet hat?«, fuhr Powell fort, ohne auf Tommys Frage einzugehen. Ihre Taktik entging einem Staatsanwalt mit Sicherheit nicht.
»Sie hat früher im Downtown Hospital in der Notaufnahme gearbeitet.«
B kommt gerade um die Ecke und gleitet auf C zu, dachte Powell. Sie war noch nicht ganz am Ziel, aber sie konnte es förmlich riechen. Sie spürte, dass ihr Adrenalinspiegel stieg. Während Powell sich Notizen machte, plauderte sie noch ein wenig mit Tommy. Sie hätte ihm gerne noch mehr Fragen über Michael Romans Frau und seine Kinder gestellt. In diesem Stadium der Ermittlungen war es aber klüger, sich zurückzuhalten. Tommy Christiano und Michael Roman waren eng befreundet.
»Ist Michael zufällig noch im Büro?«
»Nein, er hat für heute Feierabend gemacht.«
»Okay, Tommy. Vielen Dank.«
»Kein Problem. Rufen Sie mich an, wenn Sie ...«
»Sicher«, unterbrach Powell ihn. »Ich halt Sie auf dem Laufenden.«
Ehe Tommy noch etwas sagen konnte, legte Powell auf und wandte sich wieder dem Computer zu. Sie erinnerte sich an Sondra Arsenaults Worte.
Ihren Nachnamen kenne ich nicht, aber ich erinnere mich, dass sie Krankenschwester war. Krankenschwester für Notfallmedizin. Ihr Vorname war Abby.
Powell klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Sie loggte sich ins Internet ein und begann eine Suche nach Michael Roman. Nach ein paar Sekunden fand sie einen Artikel, der vor ein paar Jahren in dem Magazin New York abgedruckt worden war. Es handelte sich um eine Titelgeschichte über den mit einer Autobombe ausgeführten Mordanschlag, den Michael Roman überlebt hatte. Powell erinnerte sich gut an den Vorfall. Den Artikel hatte sie noch nie gelesen.
Sie überflog ihn und achtete besonders auf die wichtigsten Informationen. Da der Artikel recht lang war, beschloss Powell, nach bestimmten Stichwörtern zu suchen. Sie landete sofort einen Treffer.
»Interessant«, murmelte sie.
Michael Romans Frau hieß Abigail.
Sondra und James Arsenault saßen in einem Raum des 112. Reviers. Sondra, die noch nie zuvor in einem Polizeirevier gewesen war, hätte nicht gedacht, wie ungeheuer bedrückend es sein konnte, sich dort aufzuhalten.
Als Sozialarbeiterin lernte sie die unterschiedlichsten Menschen kennen. Zugegeben, es lag in der Natur der Sache, dass viele Menschen, mit denen sie durch ihre Arbeit in Kontakt kam, Probleme hatten. Für Sondra Arsenault machte aber gerade das den Reiz und die Herausforderung ihres Jobs aus. Es stimmte zwar, dass einige Therapeuten, die es beruflich mit psychisch Kranken zu tun hatten, unter starker Selbstüberschätzung litten und die Patienten so lange formten und modellierten, bis sie in ihr Bild von Normalität passten. Aber die meisten von Sondras Kollegen waren sehr engagiert. Sie sahen Menschen, die eine Therapie begannen, nicht als »Rohmaterial« an, das irgendwie neu geformt werden konnte, sondern sie waren der Meinung, dass nur wenige Verhaltensweisen unveränderlich waren und man ein paar Anpassungen vornehmen konnte.
Das hatte sie bis heute auch geglaubt. Als sie sich die Verbrecherfotos auf dem Monitor ansah, wurde ihr bewusst, dass sie in einer Stunde mehr Unheil gesehen hatte als in den vergangenen achtzehn Jahren in ihrem Job.
Als sie in diese Gesichter blickte, wurde sie an den Unterschied zwischen der Arbeit in der Stadt und in den Vororten erinnert. Vielleicht hatte Detective Powell recht gehabt, als sie sie fragte, wo sie ihren Job ausübte und ob vielleicht im Vergleich zu dem angenehmen, sicheren Leben in den Vororten ein Unterschied bestehen könnte zu dem, was sich in einer Großstadt abspielte.
Ja, Detective Powell hatte recht. Es bestand tatsächlich ein Unterschied.
Powell betrat den kleinen, fensterlosen Raum. »Wie läuft’s?«
Sondra hob den Blick. »Diese Menschen haben alle das Gesetz übertreten?«
Powell räumte ein paar Unterlagen zur Seite und setzte sich hin. »Einige mehr als einmal«, erwiderte sie mit einem verständnisvollen Lächeln. »Einige mehr als zehn Mal. Einige arbeiten sich durch das ganze Alphabet: Autodiebstahl, Betrug, Einbruch, Fahren ohne Führerschein.« Als Powell den letzten Punkt aufzählte, zuckte sie zusammen, aber es schien niemand zu bemerken. »Kommt Ihnen irgendjemand auf den Fotos bekannt vor?«
»Ja, und das macht mir richtig Angst«, erwiderte Sondra. »Ich habe mehrere Leute gesehen, die mir bekannt vorkamen. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.«
»Es ist nicht schlimm, wenn Sie den Mann, der in Ihr Haus eingebrochen ist, nicht in unserer Verbrecherdatei finden. Vielleicht ist er gar nicht im System. Es ist aber immer einen Versuch wert.«
Powell griff in einen großen braunen Briefumschlag. Sie hatte zwei Fotos aus dem Artikel im Magazin New York kopiert. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gerne ein paar andere Fotos zeigen.«
»Kein Problem«, sagte Sondra.
Powell reichte ihr das erste Foto. Es war das Bild von Michael Roman, das auf dem Cover der Zeitschrift abgebildet war. Michael trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, dessen oberster Knopf geöffnet war. Er lehnte an einem BMW-Cabrio und hatte das Jackett lässig über die Schulter geworfen. Powell musste zugeben, dass er wie ein Model aus dem Gentlemen’s Quarterly aussah. Das Logo der Zeitschrift hatte sie abgeschnitten und alles andere auch, was darauf hindeuten könnte, dass das Bild aus einer Zeitschrift stammte. Sie wollte Sondra Arsenault nicht den Eindruck vermitteln, es könnte sich um eine berühmte Persönlichkeit handeln, auch wenn Michael es in gewissen New Yorker Juristenkreisen sicherlich war. Das könnte die Objektivität der Frau trüben, obwohl Powell glaubte, dass sie umsichtig und gewissenhaft war. Sie schätzte sie nicht so ein, als würde sie schnell ins Schwärmen geraten. »Kennen Sie diesen Mann?«
Sondra nahm die Kopie entgegen, betrachtete sie eingehend und schüttelte schließlich den Kopf. »Nein.«
»Dieses Foto ist fünf Jahre alt. Sind Sie sicher?«
»Ja. Ich bin ganz sicher.«
»Er kommt Ihnen überhaupt nicht bekannt vor?«
Sondra schaute sich das Foto noch einmal an, aber vermutlich nur aus reiner Höflichkeit. »Ich habe diesen Mann noch nie in meinem Leben gesehen.«
»Okay. Vielen Dank. Mr Arsenault?«
James Arsenault schüttelte sofort den Kopf. Powell fiel auf, dass seine Lippen aufgerissen und weiß waren. Er hielt eine kleine Flasche Schmerztabletten in der Hand. Wahrscheinlich schluckte er alle zwanzig Minuten eine ohne Wasser. Der Mann war ein Wrack.
Powell steckte das erste Foto wieder in den Umschlag und reichte Sondra das zweite Foto, das sie ebenfalls so ausgeschnitten hatte, dass nichts auf die Zeitschrift hinwies. »Und was ist mit dieser Frau?«, fragte sie. »Kennen Sie sie?«
Sondra nahm die Farbkopie des Zeitschriftenfotos entgegen. »Das ist sie!«, rief sie. »Das ist die Frau, die mir Viktor Harkovs Telefonnummer gegeben hat.«
»Das ist Abby?«
»Ja. Keine Frage.«
»Und Sie wissen weder, wie sie mit Nachnamen heißt, noch, wo sie wohnt oder arbeitet oder sonst irgendetwas über sie?«
»Nein. Tut mir leid. Ich habe sie auf dieser Konferenz kennengelernt, und wir sprachen über Adoptionen. Sie hat mir erzählt, dass sie und ihr Ehemann gerade ein Kind adoptiert hatten und dass sie einen sehr guten Anwalt kennt. Sie gab mir Viktor Harkovs Telefonnummer, und das war alles.«
»Hat Sie Ihnen irgendetwas über seine Methoden erzählt, über seine Arbeitsweise?«
»Nein«, sagte Sondra vielleicht in vehementerem Ton als beabsichtigt. »Ich meine, später hatte ich schon den Eindruck, Abby könnte vielleicht nicht gewusst haben, dass der Typ ein bisschen ...«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Powell wollte Sondra Arsenaults Satz nicht mit einem abwertenden Wort beenden, denn der Mann, um den es ging, lag jetzt auf einem Stahltisch in South Jamaica und wurde obduziert. Sie wussten alle, wer er war und was er getan hatte. Die Frage – falls sich diese Frage überhaupt stellte – war, was Abby Roman über den Mann wusste und seit wann sie es wusste. Bevor sie den Arsenaults Harkov empfohlen hatte oder danach?
Viktor Harkov hatte 2005 die illegalen Adoptionen von zwei Zwillingspärchen vermittelt. In beiden Fällen waren es Mädchen. Wenn Harkovs Killer in das Haus der Arsenaults eingedrungen war, suchte er nun möglicherweise das andere Zwillingspärchen. Vielleicht hatte er es schon gefunden. Vielleicht war tatsächlich eine andere Familie in Gefahr.
Wie in Kap der Angst, dachte Powell.
Sie musste sich diesen Film besorgen und ihn sich ansehen.
Während die Arsenaults mit Hilfe des Polizeizeichners ein Phantombild des Mannes anfertigten, der in ihr Haus eingebrochen war, verließ Detective Desiree Powell das Morddezernat. In einem Coffee-Shop auf dem Lefferts Boulevard aß sie schnell noch einen Kirschstrudel und trank einen Kaffee.
Zwanzig Minuten später war sie auf dem Van Wyck Expressway und steuerte auf eine kleine Stadt namens Eden Falls in Crane County zu.