5. Kapitel

Abby Roman starrte ungläubig auf den jungen Mann.

Er musste um die neunzehn Jahre alt sein und fuhr einen aufgemotzten Escalade mit getönten Scheiben, Spinner-Radkappen und einem Wunschkennzeichen mit dem Aufdruck YO DREAM. Echt klasse! Er sah ein wenig bedrohlich aus, wie er so hoch in dem Geländewagen saß, doch das gehörte sicherlich zu dem großspurigen Auftreten solcher Typen. Abby warf einen Blick auf die Mädchen. Sie saßen auf der Rückbank des Acura und waren noch angeschnallt. Die Zwillinge lauschten beide aufmerksam ihren Hörbüchern, die Michael auf die neuen iPods geladen hatte. Charlotte hörte sich Ein Bär mit Namen Paddington an, und Emily kicherte über Alexander und der schreckliche, fürchterliche, gar nicht gute, sehr schlechte Tag. Die Fenster waren geschlossen. Sie würden nichts hören, falls es etwas zu hören geben würde.

Soll ich, oder soll ich nicht?, fragte Abby sich.

Sie schaute auf die Uhr. Sie hatte achtundvierzig Stunden frei in der Klinik und brauchte mindestens sechzig Stunden, um alles, was sie sich vorgenommen hatte, zu erledigen. Das hatte sie jedoch noch nie daran gehindert, einem Idioten die Meinung zu geigen.

Jedenfalls hinderte es sie jetzt nicht daran.

Sie war zwar in Westchester County aufgewachsen, besaß damals ein Pferd namens Pablo, das natürlich nach Neruda und nicht nach Picasso benannt war, und ging im Broadway Dance Center zum Ballettunterricht. Anschließend hatte sie aber fast zehn Jahre in der Stadt gewohnt und in all den Jahren als Krankenschwester in der Notaufnahme gearbeitet. Außerdem ging es hier ums Prinzip.

Sie zog die Handbremse an und stieg aus dem Wagen.

Als der Junge aus dem Escalade stieg, sah sie, dass er um die eins sechzig groß war – Baggy-Jeans, T-Shirt, Mets Cap, die verkehrt herum auf seinem Kopf saß. Je größer der Geländewagen ... dachte Abby. Er drückte auf die Fernbedienung an seinem Schlüsselbund und schloss den Cadillac ab, worauf kurz die Hupe ertönte. Noch etwas, womit er sich beliebt machen konnte. Er drehte sich um, ging mit dem großspurigen Gang eines kleinen Ganoven auf den Supermarkt zu und starrte auf sein Handy – ein unwiderstehlicher Typ in einem Paar Nike Jordan Six Rings.

»Verzeihung«, sagte Abby mindestens doppelt so laut wie nötig.

Der Junge spähte in ihre Richtung und zog die Kopfhörer aus den Ohren. Er schaute sie an, und dann wanderte sein Blick nach links und rechts. Das konnte nur sie gewesen sein. »Ja?«

»Ich möchte dich was fragen.«

Der Junge musterte sie von oben bis unten und begriff vielleicht, dass sie für eine Frau um die dreißig ziemlich klasse aussah, und vielleicht – nur vielleicht – würde er versuchen, sie anzubaggern. Er lächelte verhalten und runzelte erwartungsvoll die Stirn. »Klar.«

»Bist du eigentlich total bescheuert

Ende des Lächelns, worauf auch das meiste Blut aus seinem Gesicht wich. Er trat ein paar Zentimeter zurück. »Wie bitte?«

»So etwas machst du, um einen Parkplatz zu ergattern?«

Einen Augenblick glich der Junge nicht so sehr einem Reh, das im Scheinwerferlicht gefangen war, sondern einem Reh, das soeben überfahren worden war. »Was mache ich?«

»Du gefährdest mein Leben und das Leben meiner Kinder.« Ein wenig dramatisch, dachte Abby, aber egal.

Der Junge starrte auf den Acura und auf die Mädchen. »Was ... was reden Sie da?«

Abby holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Wie erwartet hatte der Junge nicht die geringste Ahnung. Abby stemmte die Hände in die Hüften. »Okay«, sagte sie. »Noch eine Frage.«

Er wich weiter zurück. Schweigen.

»Wann hast du mich zum letzten Mal gesehen?«, fragte Abby.

Man konnte sehen, dass die Gehirnzellen des Jungen ihre Tätigkeit aufnahmen, aber offenbar ohne Erfolg. »Ich hab Sie noch nie im Leben gesehen.«

Abby ging auf ihn zu und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Das sehe ich ganz genauso. Ich wollte gerade in diese Parklücke fahren, aber dann bist du vor mir da reingebrettert, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen. Du hast mich nicht einmal gesehen.« Abby geriet immer stärker in Rage – ein Todesengel in seinem Element. »Du bist so beschäftigt mit deinem MP3-Player, Handy, SMS, Jay-Z-Gangster-Rap, dass du nicht weiter siehst als bis zu den Spitzen deiner verdammten 37th-Avenue-Serengeti-Fakes.«

Der Junge schaute auf den Boden. Sie waren also nicht echt! Dann hob er den Blick. »Was soll ich tun?«

»Ich möchte, dass du deine Karre da wegfährst.«

Der Junge grinste. Abby wusste, dass ihm das Wort Karre nicht gefallen würde.

»Das ist keine Karre, das ist ein Escalade.«

Toll, dachte Abby. Ein überzeugter Escaladefahrer. Sicher keine Seltenheit. »Egal. Ich möchte, dass du einsteigst, den Motor startest und wegfährst.«

Der Junge schaute sich um. Ungefähr dreißig Meter rundum gab es keinen freien Parkplatz. »Wo soll ich hinfahren?«

Abby funkelte ihn wütend an, als wollte sie sagen: Das ist mir scheißegal!

Eine Sekunde sah es so aus, als würde der Junge nicht nachgeben. Er schaute auf die Windschutzscheibe des Acura. Auf dem Armaturenbrett lag eine Sonderparkgenehmigung – ein großes laminiertes Blatt – der Bezirksstaatsanwaltschaft Queens County, die das Parken überall und auch auf Bürgersteigen erlaubte. Die Bemühungen des Bürgermeisters, diese Sondergenehmigungen einzuschränken, waren bislang fehlgeschlagen.

Der Junge schaute auf seine Nikes ohne Schnürsenkel und rang um eine Entscheidung. Dann gab er sich geschlagen. Er drückte auf die Fernbedienung, schloss den Wagen auf und stieg in provokantem Zeitlupentempo ein. Als er den Weg hinunterfuhr, steuerte er den Wagen lässig mit zwei Fingern und lehnte sich zur Beifahrerseite hinüber, um noch einmal zu zeigen, was für ein cooler Typ er doch war. Er schaute Abby im Rückspiegel an, aber er streckte ihr nicht – wie sie erwartet hatte – den Mittelfinger hin. Offenbar musste er noch in das Geschäft und hatte auf die zweite Runde keinen Bock. Wer würde außerdem Muskatnüsse für die Mama holen, wenn er wegfuhr?

Abby stieg in den Wagen, fuhr in die Parklücke, und bei dem Gedanken an New Yorks Grundsatz Nummer 208 wurde ihr warm ums Herz:

Hart erkämpfte Parklücken sind viel besser als Parkplätze, die einem in den Schoß fallen.

Abby schnallte sich ab und schaute in ihrer Handtasche nach, ob sie das Portemonnaie auch eingesteckt hatte. Sie wollte gerade die Tür öffnen, als von der Rückbank eine Frage gestellt wurde. Es war Emily.

»Mama?«

Abby drehte sich um. Die beiden Mädchen hatten die Kopfhörer aus den Ohren genommen und ihre iPods ausgeschaltet. Wie war es möglich, dass sie solche Dinge so schnell lernten?

»Ja, mein Schatz?«

»Wer war der Junge?«

Abby musste lachen. Junge.

O Gott, wie sie ihre Mädchen liebte.

Die Stadt war wirklich so schön, wie er sie von Fotos, von Ansichtskarten, aus Filmen und aus Liedern kannte. Vom JFK Airport hatte er ein Taxi nach Murray Hill in Manhattan genommen.

Aleks stellte sich vor, er wäre Tourist und hätte vor, eine Woche oder noch länger die Sehenswürdigkeiten von New York zu besichtigen. Er warf einen Blick in die Broschüre. Das UN-Gebäude, die Grand Central Station, die Freiheitsstatue, der Central Park, das Flatiron Building, das Guggenheim-Museum. Es gab so viel zu sehen.

Aber er war kein Tourist. Er musste hier eine Angelegenheit regeln – die wichtigste Angelegenheit seines Lebens.

Das Senzai-Hotel lag an der Ecke East Thirty-Eighth Street und Park Avenue. Die Bilder auf der Website wurden dem Hotel nicht gerecht. Die Marmorböden, die hohen Decken und die Messingausstattung waren überwältigend. Bevor Aleks in Tallinn abgeflogen war, hatte er sich am Flughafen die Haare schneiden lassen. Er wusste, dass in einer Stadt wie New York alle Stilrichtungen vertreten waren, und es gehörte schon einiges dazu, um dort aufzufallen, aber er wollte kein Risiko eingehen. Und mit einer Größe von fast eins neunzig, dem schulterlangen blonden Haar und der schwarzen Kleidung hätte er Aufmerksamkeit auf sich lenken können. Jetzt sah er aus wie ein großer europäischer Geschäftsmann, der zu einer Besprechung in die Stadt gekommen war. Das entsprach durchaus der Wahrheit.

Er checkte in dem Hotel ein. Die junge Frau an der Rezeption war eine Japanerin um die fünfundzwanzig. Sie hatte goldene Strähnen in ihrem glänzenden schwarzen Haar.

Die Empfangsdame begrüßte ihn herzlich und bewegte sich anmutig. Sie machte ihren Job professionell und achtete auf alle Details, was Aleks nicht nur gehofft, sondern erwartet hatte. Das war eines der vielen Dinge, die er an der japanischen Kultur bewunderte. Ihm gefiel auch, dass bei den Japanern vieles ohne Worte ausgedrückt wurde. Mitunter lebte er wochenlang vollkommen zurückgezogen, ohne mit irgendjemandem ein Wort zu wechseln, und das wusste er zu schätzen.

Nachdem sie seine Kreditkarte eingelesen hatte, fragte sie ihn, ob sie etwas für ihn tun könne. In seinem besten Japanisch antwortete Aleks ihr, dass er keine Wünsche habe. Seine Kenntnisse des Japanischen waren ziemlich dürftig, denn er hatte vor einem Kurzurlaub in Tokio während seiner Militärzeit nur einen Schnellkurs absolviert. Sie lächelte wieder und schob den elektronischen Schlüssel über die Theke. Aleks nahm ihn mit einer leichten Verbeugung entgegen, die die Frau erwiderte, und strebte den Aufzügen zu. Ehe er zwei Schritte gegangen war, kam der Portier auf ihn zu und informierte ihn, dass für ihn ein FedEx-Paket angekommen sei und dass es ihm gleich jemand bringen würde. Aleks gab dem Mann Trinkgeld, fuhr mit dem Aufzug in den achten Stock, steckte den elektronischen Schlüssel in den Schlitz und betrat seine Suite.

Der Raum war klein, aber geschmackvoll eingerichtet. Im Einbauschrank befanden sich Hausschuhe, zwei Frotteebademäntel und ein Regenschirm. Aleks hatte dieses Hotel aus verschiedenen Gründen ausgewählt, unter anderem auch wegen der Dachterrasse.

Nachdem er ausgepackt hatte, klopfte es an die Tür. Ein Page brachte ihm sein Paket.

Aleks gab dem jungen Mann Trinkgeld, schloss die Tür ab und schaltete den Fernseher ein. Es schien eine Art Show zu laufen, in der Leute mit anderen in einem Haus eingesperrt waren, die einander offenbar hassten. Aleks wandte den Blick vom Fernseher ab und öffnete das Paket. Es war alles da. Er nahm die beiden Reisepässe und das Bargeld heraus und zog das Barhydt aus der Luftpolsterfolie.

Nachdem er geduscht hatte, zog er sich um und fuhr mit dem Aufzug hinauf zur Dachterrasse.

Obwohl viele Gebäude in Sichtweite höher waren, war die Aussicht spektakulär. Aleks war schon in vielen Städten gewesen, doch ihm stand nie der Sinn danach, auf den Touristenpfaden zu wandeln und auf die Aussichtsplattformen des Eiffelturms oder auf den Triumphpalast in Moskau oder den Commerzbank Tower in Frankfurt zu steigen. Der Blick von oben interessierte ihn nicht. Es war der Blick in die Augen eines Menschen, der ihm alles sagte, was er wissen musste.

Als Aleks an den Rand der Dachterrasse trat, wehte ihm eine warme Brise ins Gesicht. Er hörte das Dröhnen des Verkehrs unten auf der Park Avenue. Zu seiner Linken war die imposante Grand Central Station, ein legendärer Ort, über den er in seinem Leben schon viel gelesen und gehört hatte. New York schien unzählige Legenden hervorgebracht zu haben.

Aleks schaute sich auf der Dachterrasse um und vergewisserte sich, dass er allein war. Dann öffnete er das Flötenetui, führte das Instrument an die Lippen und spielte »Mereschitsja« aus Koschtschei, der Unsterbliche von Rimski-Korsakov. Zuerst pianissimo, dann immer lauter. Die Klänge stiegen in die Morgenluft auf und verhallten über den Dächern der Stadt. Anschließend steckte Aleks das Instrument wieder in das Lederetui und sah sich noch einmal auf der Dachterrasse um. Es war niemand da. Er zog das Barhydt heraus und drückte die rasiermesserscharfe Spitze der Klinge gegen den Zeigefinger seiner rechten Hand, bis ein Blutstropfen auf der Fingerspitze schimmerte.

Als sich der Wind legte, beugte Aleks den Finger, sodass der Blutstropfen hinunter auf die Straße fiel. Er verschwand in der hektischen Stadt unter ihm und markierte sie für immer als einen Ort, an dem Aleks gewesen war. Es war ein Ritual von ihm, das Schlachtfeld mit seinem eigenen Blut zu beflecken. Er wusste, dass hier Menschen sterben würden. Er war es ihnen schuldig, sein Blut mit ihrem zu vermischen.

»Ich werde euch finden, meine Lieblinge«, sagte er und klappte das Messer zu. »Ich bin da.«

Im Supermarkt Stop & Shop auf dem Tall Pines Boulevard herrschte reger Betrieb. Die Kunden deckten sich für das lange Wochenende ein. Wie immer bestanden die Mädchen darauf, den Einkaufswagen zu schieben. Sie stellten sich hinter den Wagen und legten ihre Hände jeweils auf eine Seite der Stange. Abby schaute ihnen nach, als sie den Einkaufswagen durch einen der Gänge schoben. Es war noch gar nicht so lange her, dass sie ihn ohne fremde Hilfe kaum von der Stelle bewegen konnten. Jetzt war das für sie kein Problem mehr.

Abby strich die Artikel auf ihrer Liste durch, die sie in den Wagen gelegt hatten. Charlotte und Emily halfen ihr und holten die Sachen, die in den unteren Regalen standen.

Als sie an der Feinkosttheke warteten, bemerkte Abby, dass beide Mädchen ein Lied summten, das sie irgendwo schon mal gehört hatte. War es eine bekannte Melodie? Hatten die Kinder sie auf ihren Hörbüchern gehört? Abby konnte die Melodie nicht einordnen, aber sie klang so melancholisch, dass plötzlich Unruhe in ihr aufstieg und ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Es kam ihr fast vor wie ein böses Omen, aber sie wusste nicht, was es bedeuten könnte.

Abby wandte ihre Aufmerksamkeit der Kaufhausmusik zu. Es war kein klassisches Stück, sondern die Instrumentalversion eines alten Songs von Billy Joel.

»Was singt ihr da?«, fragte Abby.

Die Mädchen schauten sie an, und einen Augenblick lang sahen sie aus, als wären sie der Gegenwart entrückt und würden sich nicht in einem Geschäft aufhalten, sondern irgendeinem Zauber erliegen. Sie zuckten beide mit den Schultern.

»Habt ihr das im Radio oder auf euren iPods gehört?«

Sie schüttelten beide den Kopf. Kurz darauf schienen sie wieder aus ihrem kurzen Trancezustand zu erwachen.

»Können wir Makkaroni mit Käse haben?«, fragte Charlotte und strahlte plötzlich. Sie meinte nicht die Packung von Kraft. Sie meinte das Fertiggericht. Dieses Geschäft hatte eine erstaunliche Auswahl an Fertiggerichten und bot auch fertige Nudeln mit drei verschiedenen Käsesorten an. In letzter Zeit griff Abby oft auf dieses Angebot zurück. Sie hätte wirklich gerne jeden Abend für ihre Familie gekocht, doch es war viel einfacher, fertige Gerichte zu kaufen.

»Klar«, sagte Abby. »Em? Ist Makkaroni mit Käse okay?«

Emily zuckte nur mit den Schultern. Die Mädchen waren in vielerlei Hinsicht sehr verschieden. Charlotte war diejenige, die Pläne schmiedete, und Emily ließ sich eher treiben.

Sie kauften Müsli (Captain Crunch für Charlotte, Cheerios für Emily), Erdnussbutter (fein beziehungsweise grob), Brot (beide aßen aus irgendwelchen Gründen Mehrkornbrot; Michael fand, es schmeckte wie Baumrinde).

Als sie in der Schlange warteten, überflog Abby die Tafeln mit den Angeboten.

»Können wir Peppermint Patties haben?«, fragte Emily.

Abby wollte schon Nein sagen, aber wie sollte ihr das gelingen, wenn sie in vier der schönsten blauen Augen der Welt schaute? Manchmal war der Zauber einfach zu stark, um ihm zu widerstehen.

»Okay«, sagte Abby. »Aber für jeden nur einen. Und den gibt es erst heute Abend nach dem Essen. Okay?«

»Okay«, sagten sie beide und liefen auf das Regal mit den Süßigkeiten zu. Eine Minute später waren sie wieder da. Emily hatte die großen, einzeln verpackten Pfefferminztaler in der Hand und legte sie in den Einkaufswagen. Es waren drei.

Schon wieder drei, dachte Abby.

»Ich habe gesagt, für jeden einen, mein Schatz«, sagte Abby. Sie nahm einen Pfefferminztaler heraus. »Habt ihr den für mich mitgebracht?«

Keine Antwort.

»Okay. Dann holt noch einen«, sagte Abby. »Einen für Daddy. Dann hat jeder einen.«

Allmählich kam es Abby so vor, als würde sie sich ständig wiederholen. Es war nicht so, dass die Mädchen Michael vergaßen. Abby hatte sie oft beobachtet, wenn sie mit anderen Kindern spielten. Sie waren immer großzügig, wenn es etwas zu teilen gab. Sie und Michael hatten ihnen das schon früh beigebracht.

Andererseits waren die Mädchen erst vier. Man konnte nicht erwarten, dass sie bereits Rechenkünstler waren.

Die Stadtbücherei in Eden Falls befand sich am Fluss in einem kleinen, mit Efeu bewachsenen Gebäude im Mid-Hudson-Stil, in dem auch das Crane County Community Theatre untergebracht war.

Die Mädchen kamen zwar schon recht gut mit dem Computer zurecht, aber Abby hatte furchtbare Angst, sie alleine ins Internet zu lassen. Wenn es sich einrichten ließ, ging sie deshalb mindestens einmal pro Woche mit ihnen in eine konventionelle Bücherei aus Glas und Stein. Sie hatte als Kind viel Zeit in der Hyde Park Library verbracht, und sie wollte ihren Mädchen diese Erfahrung nicht vorenthalten. Ein Buch in der Hand zu halten, das war ein ganz besonderes Gefühl, das kein Computermonitor ersetzen konnte. Weder Charlotte noch Emily hatten jemals Lust, in die Bücherei zu gehen. Eine Stunde später wollten sie gar nicht mehr nach Hause.

Als die Mädchen sich in der Kinderbuchabteilung umschauten, hörte Abby die Sirene eines Rettungswagens, der sich der Bücherei näherte. Die Aufmerksamkeit der ausgebildeten Krankenschwester war sofort geweckt. Das war schon immer so. Seitdem sie ein Kind war, erwarteten alle von ihr, dass sie Medizin studieren würde, um in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und Chirurgin zu werden. Dr. Charles Reed wusste, dass sein Sohn Wallace nicht die erforderliche Disziplin aufbrachte und ihm die Charakterstärke fehlte, um Herzchirurg zu werden oder die harte Assistenzzeit zu meistern. Seiner Tochter traute er das durchaus zu.

Abby hatte gerade das erste Jahr ihres Medizinstudiums an der Columbia hinter sich, als sie eines Nachts auf einem vereisten Bürgersteig in East Village ausrutschte und sich das Handgelenk brach. Während sie in der Notaufnahme des New York Presbyterian Hospital behandelt wurde und die Krankenschwestern bei der Arbeit beobachtete, begriff sie, dass dies genau der Job war, den sie gerne machen wollte. Es reizte sie, die medizinische Versorgung an vorderster Front zu gewährleisten. Ihrem Vater würde das natürlich gar nicht gefallen, doch als sie zur Schwesternschule an der Columbia wechselte, wusste sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Charles Reed brauchte ungefähr dreizehn Jahre, um das zu verkraften, wenn es ihm überhaupt jemals gelang.

Als der Rettungswagen an der Bücherei vorbeifuhr, musste Abby an die Nacht vor fünf Jahren denken, als sie Michael kennengelernt hatte.

An jenem Tag war sie seit fast zwölf Stunden im Dienst. In der Notaufnahme herrschte nicht mehr Betrieb als sonst auch. Es gab nur ein Schussopfer und ein paar Opfer von Familienstreitigkeiten, unter anderem auch einen neunundfünfzigjährigen Ehemann. Seine Frau hatte ihm ein schweres Bügeleisen an den Kopf geworfen, nachdem er vor dem Sex zu ihr gesagt hatte: »Los, du fette Kuh, bringen wir es hinter uns.«

Um Mitternacht hielt ein Rettungswagen vor der Tür. Als sie den bewusstlosen Patienten in die Notaufnahme fuhren, warf der Sanitäter Abby einen Blick zu. In seinen Augen spiegelte sich die Angst, es könnte sich ein Anschlag wie der des 11. Septembers wiederholt haben.

»Bombe«, sagte er leise.

Abby schossen tausend Gedanken durch den Kopf, und die waren alle entsetzlich. Ihr erster Gedanke war, dass die Stadt wieder Opfer eines Anschlags geworden und dieser Mann der Erste von vielen war. Sie fragte sich, wie schlimm es werden würde. Als ihre beiden Kolleginnen einen Raum vorbereiteten, ging Abby ins Wartezimmer. Sie schaltete CNN ein. Zwei Männer schrien sich wegen der Hypothekenkrise an. Kein Anschlag.

Als sie den Behandlungsraum betrat, sah sie ihn.

Michael Roman, der Mann, den sie heiraten würde, die Liebe ihres Lebens, lag reglos auf der Trage. Er hatte die Augen geschlossen, und auf seinem Gesicht klebte schwarze Asche. Abby überprüfte die Werte. Der Puls war stabil, und der Blutdruck lag im Normbereich. Sie betrachtete sein Gesicht, das ausdrucksstarke Kinn, die helle Haut und das blonde Haar, doch jetzt war alles von schwarzer Asche überzogen.

Kurz darauf schlug er die Augen auf, und ihr Leben veränderte sich für immer.

Letztendlich hatte er nur eine leichte Gehirnerschütterung und eine kleine Fleischwunde auf dem rechten Handrücken. Als Abby ein paar Tage später die Fotos des Wagens, in dem die Autobombe explodiert war, und die Schäden an den nahe gelegenen Gebäuden sah, wunderte sie sich wie alle anderen auch, dass die Bombe ihn nicht auf der Stelle getötet hatte.

Die Sirene verstummte in der Ferne. Abby schaute auf die Uhr, und dann glitt ihr Blick zu ihren Kindern.

Die Mädchen waren verschwunden.

Abby sprang hoch. Sie lief in die Kinderbuchabteilung und schaute hinter allen Regalen und hinter den Sonderständern mit Büchern zum Oster- und Pessahfest nach. Auch auf der Damentoilette fand sie Charlotte und Emily nicht. Abby stieg die Treppe hinunter zu der Abteilung, in der die DVDs und CDs standen. Manchmal suchte sie mit den Mädchen hier einen Film aus. Dort saßen vier Kinder, aber ihre waren nicht dabei. Abby beschleunigte ihre Schritte und kehrte ins Erdgeschoss zurück. Sie wollte gerade einen der Bibliothekare ansprechen, als ihr Blick in der Romanabteilung in einen der langen Gänge zwischen den Regalen fiel und sie die beiden entdeckte.

Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder. Die Mädchen saßen nebeneinander am Ende eines Regals. Auf ihren Schößen lag ein riesiges Buch. Abby ging auf die Kinder zu.

»Na, meine Damen.«

Sie hoben den Blick.

»Ihr dürft nicht einfach weglaufen. Eure Mama hat sich Sorgen gemacht.«

»Tut uns leid«, sagte Charlotte.

»Was lest ihr da?« Abby setzte sich zwischen den Kindern auf den Boden, nahm Emily das Buch aus der Hand und schaute auf den Einband.

Russische Märchen und Legenden.

»Wo habt ihr das Buch her?«, fragte Abby.

Emily zeigte auf die unterste Reihe eines Regals ganz in der Nähe.

Abby blätterte zu der Seite zurück, die die Kinder sich gerade angesehen hatten. Auf der linken Seite war eine große farbige Abbildung, ein kunstvoller Holzschnitt einer Märchenfigur. Es handelte sich um einen großen, dürren Mann mit einem spitzen Kinn, wütenden Augen und knorrigen Fingern. Er trug einen schwarzen Samtmantel und eine glanzlose Krone. Auf der rechten Seite war ein Verzeichnis der Geschichten über Koschtschei, den Unsterblichen. Ein wenig genervt überflog Abby die nächsten Seiten.

Offenbar gab es eine Reihe unterschiedlicher Versionen der Legende. In einer Version spielten auch ein Prinz und ein grauer Wolf mit, und eine andere handelte von einem Feuervogel. Doch in einem Punkt stimmten sie alle überein: Koschtschei war ein böser Mann, der das Land und vor allem junge Frauen terrorisierte. Auf konventionelle Weise konnte er nicht getötet werden, weil seine Seele vom Körper getrennt war. Solange seine Seele in Sicherheit war, konnte er nicht sterben. In einer der Geschichten stand, dass es eine Möglichkeit gab, ihn zu töten. Wenn man ihm eine Nadel in den Kopf stach, fiel für diesen großen, garstigen Kerl der Vorhang. Die Nadel musste aber zerbrochen sein.

Eine schöne Kindergeschichte, dachte Abby. Genauso schön wie Wilbur und Charlotte.

Das Beste war, dass ihre Kinder noch nicht lesen konnten.

Als sie mit den Kindern wieder im Wagen saß und nach Hause fuhr, stellte Abby fest, dass ihr die Melodie, die die Mädchen im Supermarkt gesummt hatten, nicht mehr aus dem Kopf ging. Sie kannte sie und erinnerte sich an diese Melodie, wie man sich mitunter an ein Gesicht oder einen Menschen erinnerte, der bei einem wichtigen Ereignis im Leben dabei gewesen war: Hochzeit, Beerdigung, Schulabschluss. Sie war so melancholisch, dass es aber mit Sicherheit keine Hochzeit war.

Abby wusste, es gab nur eine Möglichkeit, die Melodie aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie musste sie durch etwas anderes ersetzen. Daher schaltete sie das Radio ein und wählte einen Sender, der Oldies aus den Neunzigern spielte.

Zwanzig Minuten später fuhr sie in die Einfahrt. Die Sonne schien, und die Mädchen kicherten mal wieder. Als Abby die Einkäufe auspackte, belästigte sie die mysteriöse Melodie nicht mehr, doch ein ungutes Gefühl war geblieben.