19. Kapitel

Michael saß auf dem Beifahrersitz von Tommys Lexus 5. Sein Herz raste, und seine Gedanken überschlugen sich.

Abby hatte sich zerstreut angehört. Immer, wenn sie mit ihm über Belanglosigkeiten sprach, stimmte etwas nicht. Er hätte sie gerne gefragt, was los war, doch er musste das Gespräch schnell beenden. Wenn er noch länger mit ihr gesprochen hätte, hätte sie ihn durchschaut, und er wäre gezwungen gewesen, ihr alles über Viktor Harkov zu erzählen. Er hasste es, sie anzulügen. Er hatte sie nicht belogen. Michael hoffte inständig, dass sie es nicht in den Nachrichten hörte, ehe er es ihr sagen konnte. Vielleicht hatte er Glück, denn sie schaute sich selten die Nachrichten im Fernsehen an.

Er wollte zuerst mehr Informationen haben, ehe er mit ihr über den Mord sprach. Und es gab nur eine Möglichkeit, an Informationen zu kommen.

Tommy überquerte die Straße. Er öffnete die Fahrerseite, stieg aber nicht ein. Er sah mitgenommen aus und brauchte ein paar Minuten, bis er sich gefasst hatte. Tommy Christiano brauchte nie ein paar Minuten, um sich zu fassen. Vor allem nicht, wenn er mit Michael sprach.

»Was ist los, Mann?«, fragte Michael. »Sprich mit mir.«

Tommy hob den Blick. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«

Michael wollte sich das nicht ansehen, aber er hatte das Gefühl, keine andere Möglichkeit zu haben. »Ja. Komm, bringen wir es hinter uns.«

Zuerst fiel ihm der Gestank auf. Es war nicht ganz so schlimm wie bei den bereits vermoderten Leichen, die er im Laufe seiner Dienstjahre schon gesehen hatte, aber es war schlimm genug. Viele der Kriminaltechniker, die in dem Büro hin und her liefen, trugen einen Mundschutz.

Sie standen in der Diele und warteten, bis die ermittelnden Detectives sie hereinbaten. Es gab eine Zeit, als alle, die befugt waren, sich an einem Tatort aufzuhalten, jederzeit den Tatort betreten durften. Das war nicht mehr der Fall. Nachdem es zu viele Tatorte mit verfälschten Spuren gegeben hatte, die bei Prozessen nicht als Beweise zugelassen wurden, hatte sich das geändert.

Michael hörte Gespräche in dem Büro. Er lauschte angestrengt und schnappte hier und da ein Wort auf: Telefon ... Strom ... gezackt ... Augenlid ... Blutspuren.

Über gestohlene Akten oder Akten überhaupt hörte er nichts. Auch das Wort Adoption fiel nicht. Er schöpfte wieder ein wenig Hoffnung.

Fünf Minuten später winkte Detective Powell sie herein.

Als Michael sich vor fast fünf Jahren mit Viktor Harkov getroffen hatte, humpelte der Mann. Harkov, der schon damals seit vielen Jahren an Diabetes und zahlreichen anderen Krankheiten litt, machte einen sehr schwächlichen Eindruck. Er verfügte jedoch über einen scharfen Verstand. Michael hatte dem Mann niemals persönlich bei einem Prozess gegenübergestanden. Er kannte aber ein paar Staatsanwälte, die mit ihm zu tun gehabt hatten, und Tommy gehörte auch dazu. Sie stimmten alle darin überein, dass Viktor Harkov Kew Gardens nie unvorbereitet betrat. Er war viel cleverer, als er aussah. Das war alles Taktik.

Jetzt sah Viktor Harkov kaum noch wie ein Mensch aus.

Der Tote saß zusammengesackt auf dem Schreibtischstuhl und bot einen grässlichen Anblick. Er war leichenblass; alle Farbe war aus dem Gesicht gewichen. Sein Mund war geöffnet und entblößte vergilbte Zähne. Es sah aus, als würde er einen stummen Schrei des Entsetzens ausstoßen. Auf dem Zahnfleisch klebten getrocknetes Blut und Speichel. Dort, wo das linke Auge gesessen hatte, befand sich ein verbrannter Fleischklumpen mit einem roten Fleck in der Mitte. Aus einem Nasenloch sickerte Schleim.

Als Michael sich auf die andere Seite von Harkovs Schreibtisch stellte und den Toten betrachtete, traute er seinen Augen nicht. Es sah so aus, als wäre Harkovs Hose zerrissen oder aufgeschnitten worden. Auch der Bereich rund um die Genitalien war verbrannt. Die Haut dort war schwarz und aufgerissen. Michael hatte oft gesehen, dass Mordopfern Demütigungen zugefügt wurden. Die Palette reichte von Opfern von Sexualstraftätern über Opfer von Bandenkriegen, die kaum noch identifiziert werden konnten, bis hin zur fast unmenschlichen Gewalt bei Mord aus Eifersucht. Und immer war es eine Demütigung, so wie diese Menschen im Tode gesehen wurden. Vielleicht war ein gewaltsamer Tod schon an sich eine letzte Demütigung, die das Opfer nicht rächen konnte. Michael hatte das immer als Teil seiner Arbeit als Staatsanwalt angesehen. Nicht unbedingt Rache zu üben – obwohl jeder, der auf der Seite des Staates stand und leugnete, dass Rache auch Teil seiner Motivation war, log –, sondern eher in einem Gerichtssaal aufzustehen und ein wenig Würde wiederherzustellen für diejenigen, die sich nicht erheben konnten.

Eine so brutale Demütigung, wie sie Viktor Harkov angetan worden war, hatte Michael noch nie zuvor gesehen.

Auf dem Schreibtisch stand ein altes avocadogrünes Telefon aus den Siebzigern mit Nikotinflecken. Unter dem Telefon ragten zwei lange Kabel hervor. Eines schlängelte sich über den Schreibtisch und war mit Harkovs großem Zeh verbunden. Das andere Kabel, an dessen Ende eine Krokodilklemme hing, lag auf Harkovs linkem Bein. Die Krokodilklemme war geschwärzt.

Aber das war nicht das Schlimmste. Der Grund, warum der Schreibtisch voller dunklem, getrocknetem Blut war, war ein anderer. Dem, der den alten Mann gefoltert und ermordet hatte, hatte der Mord nicht ausgereicht.

Er hatte dem Mann beide Hände abgehackt.

Michael schaute von dem verstümmelten Leichnam auf und ließ seinen Blick über den Tatort schweifen. Zuerst wusste er selbst nicht genau, warum. Vielleicht, um sich eine Verschnaufpause von diesem Entsetzen zu gönnen. Vielleicht, um eine Rechtfertigung zu suchen, warum dieser Mann in seinem Büro so übel zugerichtet worden war. Plötzlich wurde ihm bewusst, was ihn dazu motivierte. Er suchte nach etwas, das ihm verriet, in welchem Maße er sich Sorgen machen musste. Im ersten Augenblick beschämte es ihn zutiefst, als er begriff, dass er die grausame Tat, die Viktor Harkov zugefügt worden war, ausblendete und nur an sich dachte. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb auf Desiree Powell haften. Michaels Herzschlag setzte aus.

Powell beobachtete ihn.

Sie standen in dem kleinen Vorraum. Michael schaute auf den Aktenschrank. Er bestand aus Stahl und hatte fünf Schubladen. Die unterste Schublade war ein Stück weit geöffnet. Ein Kriminaltechniker verteilte mit einem Pinsel Puder auf dem Aktenschrank, um die Fingerabdrücke zu sichern.

»Haben Sie den Schrank so vorgefunden?«, fragte Michael. »Es war nur eine Schublade geöffnet?«

Tommy nickte.

Michael schaute unter den Schreibtisch. Dort stand ein alter Computer von Dell, wahrscheinlich ein Pentium II aus den Neunzigern. Auch er war mit dem schwarzen Puder bedeckt, um Fingerabdrücke zu sichern. Die Kriminaltechniker würden das ganze Computersystem mit ins Labor nehmen, um weitere Untersuchungen durchzuführen und die Daten auf der Festplatte zu sichten. Doch bei einem so grausamen Mord wie diesem wurden die Fingerabdrücke sofort vor Ort genommen, um sie so schnell wie möglich ins System eingeben zu können. Die alte Weisheit, dass die ersten achtundvierzig Stunden einer Mordermittlung die entscheidenden waren, war nicht nur eine Weisheit, sondern eine Tatsache.

Wenn Michael zum Schauplatz eines Mordes fuhr, hielt er sich immer an der Seitenlinie und verfolgte voller Vertrauen und Respekt die Arbeit der Kriminalbeamten. Er beobachtete, wie sie sich vorsichtig dem Tatort näherten und auf alle Aspekte der Spurensicherung achteten – Fingerabdrücke, Haare und Fasern, Blutspuren, Dokumente. Nie zuvor hatte er den Wunsch verspürt, sich einzumischen und zu helfen. Jeder hatte seinen Job, und die Kriminaltechniker in Queens County gehörten zu den besten der Stadt. Doch als er jetzt zusah, wie die Spurensicherung im Schneckentempo mit der Arbeit begann, fühlte er sich hilflos, und seine Hoffnung schwand. Am liebsten hätte er die Aktenschränke durchwühlt, um zu sehen, welche Akten fehlten. Er hätte sich gerne die Disketten und CDs in Viktor Harkovs Schreibtisch angesehen und jede Erwähnung der Namen von Michael und Abby Roman gelöscht. Am liebsten hätte er mitten in dieses verstaubte, hässliche Büro ein Streichholz geworfen, damit alle wichtigen Unterlagen in der Kanzlei vernichtet wurden. All das hätte er gerne getan. Falls seine Beziehung zu Viktor Harkov nämlich bekannt werden würde, bestand tatsächlich die Möglichkeit, dass ihnen Charlotte und Emily weggenommen wurden. Und das wäre das Ende seines Lebens.

Im Augenblick konnte er nichts weiter tun, als an der Seitenlinie abzuwarten.

Und alles zu beobachten.

Nachdem der Leichnam fünfzehn Minuten später in die Gerichtsmedizin in South Queens gebracht worden war, standen Michael und Tommy neben Tommys Auto. Alle anderen Wagen in der Straße hatten einen Strafzettel. In Tommys Auto lag auf dem Armaturenbrett die Sonderparkgenehmigung der Bezirksstaatsanwaltschaft Queens County.

Eine ganze Weile sagte keiner von beiden ein Wort.

»Du musst los«, sagte Tommy schließlich. »Dein Prozess beginnt gleich.«

Ehe Michael antworten konnte, klingelte Tommys Handy. Er trat zur Seite und meldete sich. Während Tommy telefonierte, schaute Michael die Straße hinunter zum Astoria Park. Er sah die Arbeiter, die das riesige Schwimmbecken in dem Park reinigten und Vorbereitungen für die Sommersaison trafen. Michael erinnerte sich an viele heiße Tage im Juli und August, als er als Kind in das klare blaue Wasser gesprungen war, ohne sich um irgendetwas zu sorgen.

Tommy klappte das Handy zu. »Bis jetzt wissen wir noch nicht allzu viel«, sagte er. »Erstens haben sie auf dem Aktenschrank ein Dutzend Fingerabdrücke gesichert. Sie lassen sie jetzt durchlaufen. Zweitens sieht es so aus, als wären in dem Büro keine Sicherungskopien. Sie haben sich die Festplatte des Computers kurz angesehen und festgestellt, dass alles gelöscht wurde.«

»Glaubst du, sie können die Daten wiederherstellen?«

»Das haben sie schon häufiger geschafft.«

»Dann hat der Mord also doch etwas mit Harkovs Job zu tun.«

»Das wissen wir noch nicht«, sagte Tommy. »Aber da ist noch etwas. Sie sind ziemlich sicher, dass der Täter aus dem Telefon und den Kabeln eine Art Foltergerät gebastelt hat.«

»Aus dem Telefon?«

»Ja. Ich hab gehört, die Kabel sollen so an das Telefon angeschlossen gewesen sein, dass Strom hindurchfloss, sobald das Telefon klingelte. Die Kriminaltechniker nehmen an, dass der Täter sie an den Genitalien und dem linken Auge des alten Mannes befestigt hatte.«

»Mein Gott.«

»So ein Scheißkerl. Sie haben die Anrufe von dem Telefon in Harkovs Büro überprüft und festgestellt, dass dort innerhalb von zehn Minuten sechzehn Mal von einem Wegwerfhandy aus angerufen wurde.«

»O Gott.«

»Offenbar wollte der Mörder irgendetwas von Harkov wissen, aber das arme Schwein gab es nicht so schnell preis.«

»Und was ist mit seinen Händen?«

»Der Gerichtsmediziner nimmt an, sie wurden nach Eintritt des Todes abgehackt. Unmittelbar danach.«

»Und so hat der Sohn seinen Vater gefunden?«

»Kannst du dir das vorstellen?«, fragte Tommy. »Wir haben erfahren, dass Viktor vor einem Jahr zu seinem Sohn gezogen ist«, fuhr er fort. »Sie standen sich wohl recht nahe.«

»Hat Powell schon eine Aussage von ihm?«

»Nur eine vorläufige. Ich habe noch etwas Interessantes erfahren. Joseph Harkov hat Powell erklärt, er würde nicht zulassen, dass die Polizei die Sachen des alten Mannes durchsucht.«

Weil Viktor Harkov etwas zu verbergen hat, dachte Michael. Bei jedem Atemzug drehte sich ihm der Magen um.

»Wie du dir sicher vorstellen kannst, ist Powell nicht sehr glücklich darüber«, fügte Tommy hinzu.

»Wurde das Ermittlungsverfahren offiziell eingeleitet? Wo ist der Beschluss?«

»Calderon hat ihn heute Morgen auf den Weg gebracht. Er war schon in Arbeit, bevor du mich angerufen hast.«

Michael wusste, wie so etwas ablief. Ein Ermittlungsbeschluss in einem Mordfall wurde normalerweise vorrangig erteilt, da die Zeit von größter Bedeutung war. Er konnte jeden Augenblick kommen, aber es konnte auch noch ein paar Stunden dauern.

»Lebt sonst noch jemand in der Wohnung der Harkovs?«, fragte Michael.

»Ich glaub nicht.«

»Meinst du, der alte Mann könnte Unterlagen in seiner Wohnung aufbewahrt haben? Sicherungskopien zum Beispiel?«

Tommy schwieg und schaute auf die Uhr. Er wusste, was in Michael vorging.

»Komm, lass uns gehen.«