32. Kapitel

Aleks wühlte in dem Raum, den Michael und Abigail Roman als Arbeitszimmer benutzten, in dem kleinen Aktenschrank mit den beiden Schubladen. Er überflog die Geschichte ihres Lebens und prägte sich die Eckdaten und Ereignisse ein. Er erfuhr viele Dinge. Er erfuhr, dass sie ein eigenes Haus besaßen und es bar bezahlt hatten. Sie besaßen ebenfalls ein Haus mit einem Ladenlokal auf dem Ditmars Boulevard. Aleks betrachtete die Bilder des mit Brettern vernagelten Gebäudes. Er erinnerte sich, dass dieses Haus in dem Zeitungsbericht, den er über Michael gelesen hatte, erwähnt worden war. Dort waren Michaels Eltern getötet worden. Die Pikk-Street-Bäckerei. In einem Umschlag lagen zwei Schlüssel.

Heiratsurkunde, wichtige Dokumente, Steuerbescheide, Grundstücksurkunden – die Eckpfeiler des modernen amerikanischen Lebens. Schließlich fand er die Dokumente, die er suchte. Die Adoptionsurkunden der Mädchen, Dokumente, die als Geburtsurkunden dienen würden.

Aleks setzte sich vor den Computer und begab sich auf die Suche nach einer bestimmten Behörde. Kurz darauf hörte er, dass eine Wagentür zugeschlagen wurde. Er spähte aus dem Fenster.

Kolya war zurück.

Sie standen in der Küche. Aleks roch, dass Kolya Marihuana geraucht hatte. Er beschloss, vorerst nichts zu sagen.

»Probleme?«, fragte er stattdessen.

»Nein.«

»Hast du den Führerschein?«

Kolya griff in die Tasche, zog einen Umschlag heraus und reichte ihn Aleks.

Aleks öffnete den Umschlag und zog den laminierten Führerschein heraus. Er hielt ihn ins Licht und betrachtete das schimmernde Hologramm. Es war gute Arbeit. Zufrieden steckte er den Führerschein in seine Brieftasche.

»Wo hast du ihn hingebracht?«

Kolya nannte ihm den Namen und die Adresse des Motels sowie die Zimmernummer und die Telefonnummer. Dank seines ausgezeichneten Gedächtnisses brauchte Aleks sich nichts aufzuschreiben.

Er schaute auf die Uhr. »In circa einer Stunde komme ich zurück. Wenn ich wieder da bin, fährst du zu dem Motel und sorgst dafür, dass Michael Roman das Zimmer nicht verlässt. Ist das klar?«

Kolya verzog das Gesicht. »Das ist nicht besonders kompliziert.«

Aleks starrte dem jungen Mann ein paar Sekunden in die Augen, bis Kolya den Blick abwandte.

»Du wirst dich eine Weile dort aufhalten müssen«, fügte Aleks hinzu. »Du musst ihn bewachen, bis ich das Land verlassen habe.«

»Das Geld ist okay, Bruder. Keine Sorge.«

Bruder, dachte Aleks. Je eher er diesen Ort verließ, desto besser. »Gut.«

»Was soll ich dann mit ihm machen?«, fragte Kolya.

Aleks spähte auf den Griff der Pistole, die unter Kolyas Hosenbund steckte. Kolya sah den Blick. Keiner der beiden Männer sagte ein Wort.

Aleks betrachtete die Fotos der Mädchen. Er hatte sie vor der weißen Küchenwand, einem neutralen Hintergrund, fotografiert. Er nahm eine Schere aus der Schublade und schnitt die Passfotos aus. Für ihre Reisepässe brauchte er zwei Fotos von Anna und zwei von Marya.

Die Mädchen saßen auf der Couch und schauten sich einen Zeichentrickfilm mit sprechenden Fischen an.

Aleks hockte sich vor die Couch. »Wir gehen zur Post«, sagte er. »Habt ihr Lust?«

»Kommt Mama mit?«, fragte Marya.

»Nein. Sie muss arbeiten.«

»Im Krankenhaus?«

»Ja, im Krankenhaus. Aber auf dem Rückweg können wir uns etwas zu essen kaufen. Habt ihr Hunger?«

Anna und Marya sahen zuerst ein wenig ängstlich aus, doch dann nickten sie beide.

»Was möchtet ihr essen?«

»McNuggets«, antworteten die Mädchen, nachdem sie einen schuldbewussten Blick gewechselt hatten.

Abby starrte auf die Tür am Ende der Treppe und wartete. Wie jede Mutter hatte sie immer Angst um ihre Töchter gehabt. Ein Fremder in einem Auto, eine tödliche Kinderkrankheit. Sie hatte sich auch vor den rechtlichen Konsequenzen der nicht ganz legalen Adoption gefürchtet und sogar einstudiert, was sie sagen würde, wenn sie jemals vor einem Richter oder bei einer Behörde aussagen müsste. Das inständige Flehen einer verzweifelten Mutter um ihr Kind.

Aber mit so etwas hätte sie niemals gerechnet.

Ein paar Minuten später stieg Aleks die Treppe hinunter. Abby hatte längst aufgehört, sich gegen die Fesseln zu wehren. Sie spürte ihre Glieder nicht mehr.

»Brauchen Sie etwas?«, fragte er.

Abby Roman starrte ihn an.

»Ich muss etwas erledigen. Es dauert nicht lange. Ich nehme die Kinder mit.« Er durchquerte den Raum und setzte sich auf die Kante der Werkbank. Abby fiel auf, dass er sein Haar gegelt hatte. Was hatte er vor?

»Kolya bleibt hier. Sie werden tun, was er sagt.«

Abby sah auch den großen Briefumschlag in seiner Hand, auf dessen Vorderseite sie ihre Handschrift erkannte. Es war der Umschlag, in dem die Adoptionspapiere von Charlotte und Emily lagen.

Das Blut gefror ihr in den Adern. »Das können Sie nicht machen.«

»Anna und Marya wurden mitten in der Nacht aus dem Bett ihrer Mutter gestohlen. Sie gehören mir.«

Abby musste ihn fragen. Vielleicht könnte sie der Antwort irgendetwas entnehmen, was sie wissen musste. »Warum nennen Sie die Kinder Anna und Marya?«

Aleks betrachtete sie eine Weile. »Möchten Sie die Antwort auf diese Frage wirklich hören?«

Abby war sich nicht sicher. Auf jeden Fall war es gut, wenn er weiterredete. Und wenn er ihr eine Gelegenheit bot, irgendwie einzuhaken, würde sie die ergreifen. Sie bemühte sich, keine Angst zu zeigen. »Ja.«

Aleks wandte den Blick kurz von ihr ab.

»Es ist die Geschichte eines Prinzen und seiner drei Schwestern ...«

In den folgenden fünf Minuten erzählte Aleks ihr die Geschichte. Was Abby befürchtet hatte – dass sie es zwar mit einem gefährlichen, aber geistig gesunden Menschen zu tun hatte –, stimmte nicht. Dieser Mann war verrückt. Er glaubte, Koschtschei zu sein. Er glaubte, dass er gemeinsam mit seinen Töchtern unsterblich sein würde. Er glaubte, seine Töchter trügen seine Seele in sich.

Besonders die Tatsache, dass die Mädchen es wussten, nahm Abby den Atem und jagte ihr wahnsinnige Angst ein. Sie hatten sich die Bilder genau dieser Geschichte in der Bücherei angesehen.

Nachdem Aleks ihr die Geschichte erzählt hatte, stand er auf und musterte sie eine Weile. Vielleicht wartete er auf eine Reaktion. Abby war zunächst sprachlos.

»Es wird Ihnen niemals gelingen, das Land mit ihnen zu verlassen«, sagte sie dann. »Man wird Sie schnappen.«

»Wenn ich sie nicht haben kann, nehme ich ihre Essenz mit«, erwiderte Aleks.

»Was soll das heißen?«

Aleks strich über die Glasfläschchen an seinem Hals, ehe er die Treppe wieder hinaufstieg.

Mein Gott, dachte Abby. Ein Glasfläschchen war mit Blut gefüllt. Die beiden anderen waren leer. Wenn es sein musste, würde er die Mädchen töten.

Der Gedanke, Charlotte und Emily niemals wiederzusehen, brach Abby das Herz.