44. Kapitel

»Des.«

Lucien stand an der Ecke. Wie ein Sonnenstrahl durchbrach sein strahlendes Lächeln den Dunst eines Sommerabends in Kingston. Seine beiden dürren Freunde – zwei lustige Jungen, die niemals Glück oder Vorteile brachten – stießen ihm in die Rippen.

Eifersüchtig, dachte sie. Kein Wunder, denn sie war eine Prinzessin.

Sie hatte Schmetterlinge im Bauch. Von irgendwoher hallte der Klang von Peter Toshs »Glass House« herüber.

»Des.«

Detective Desiree Powell schlug die Augen auf. Es war nicht Lucien. Es war Marco Fontova. Sie hatte das Gefühl, jemand hätte ein großes Klavier auf ihre Rippen gestellt und es mit Ambossen beschwert, und jetzt würde das gesamte Team der New York Ranger darauf trainieren. Wenn sie nicht diese wahnsinnigen Schmerzen in der Brust gehabt hätte, hätte sie gelacht. Sie verlor wieder die Besinnung, konnte Lucien aber nicht mehr finden.

Er war verschwunden.

Allmählich kam Powell wieder zu sich. Es dauerte eine Weile, bis sie ein Wort herausbrachte. »Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte sie. Ihre Stimme klang wie die einer anderen, wie eine alte zerkratzte Aufnahme aus den Zwanzigern.

Fontova schaute auf die Uhr. Seine Angst und Sorge um sie war ihm anzusehen. Das war süß. »Ich weiß nicht.«

»Warum schauen Sie auf die Uhr, wenn Sie es nicht wissen?«

»Ich weiß nicht.«

»Verblute ich?«

Fontova schüttelte den Kopf. »Nein.«

Hinter Fontova stand jemand. Es war eine blonde Sanitäterin, die zu jung und zu hübsch war, um diesen Job zu machen. Als Powell versuchte, sich mühsam aufzurappeln, befahl die junge Sanitäterin ihr, liegen zu bleiben, doch das hatte Powell nicht vor. Mit Fontovas Hilfe richtete sie sich auf und lehnte sich gegen die Wand, worauf höllische Schmerzen durch ihren Körper schossen. Alles drehte sich vor ihren Augen, und sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Einen Augenblick verharrte Powell reglos, und dann griff sie an ihren Gürtel. Da stimmte etwas nicht. »Wo sind meine Handschellen?«

Fontova wandte kurz den Blick ab. Er hasste es, ihr schlechte Nachrichten zu überbringen. »Ich glaube, sie wurden Ihnen gestohlen. Ihre Dienstmarke ebenfalls.«

»Verflixt und zugenäht!«

Fontova runzelte die Stirn. »Das wären dann zwei Dollar.«

»Was? Zugenäht ist doch kein Schimpfwort.«

»In diesem Kontext schon.«

Powell war speiübel. Galle stieg ihr in die Kehle. Sie drehte den Kopf nach links und sah die Kevlar-Weste, die sie ihr ausgezogen hatten. Sie war aufgerissen und wies mehrere Einschusslöcher auf. »Mein Gott.«

»Sind Sie okay?«, fragte Fontova.

Powell starrte ihn an.

»Okay. Gut. Da ist etwas, was Sie sich ansehen sollten.«

»Wo?«

Fontova zeigte auf die Treppe. Powell hob den Blick. »Das könnte eine Weile dauern. Eine Woche vielleicht.«

»Warten Sie.« Fontova stand auf und stieg die Treppe im Eilschritt hinauf. Wahrscheinlich wollte er der hübschen blonden Sanitäterin zeigen, wie gut er in Form war. Als er ein paar Minuten später zurückkehrte, hielt er Powell das Handy vor die Augen. Sie schaute aufs Display und sah in grellen Farben – größtenteils rot – eine männliche Leiche, die in einen Schrank gestopft worden war. Das Gesicht sah aus, als wäre es durch einen Fleischwolf gedreht worden.

»Mein Gott!«

»Das Schlafzimmer sieht aus wie ein Schlachtfeld.«

Powell schaute sich das Bild genauer an. Das Opfer war nicht zu identifizieren. »Ist das Michael Roman?«

Fontova schüttelte den Kopf und zeigte ihr eine Beweistüte, in der eine große Lederbrieftasche steckte, die an einer Kette hing. »Sein Name ist Nikolai Udenko.«

»Haben Sie ihn überprüft?«

Fontova nickte. »Ein kleiner Fisch. Hat wegen eines Raubüberfalls auf Rikers Island gesessen. Es liegt kein aktueller Haftbefehl gegen ihn vor.«

»Und warum liegt er tot in diesem hübschen Haus?«

Diese Frage konnte Fontova nicht beantworten.

»Ma’am?«

Powell spähte zu der Sanitäterin hinüber. Sie hasste es, Ma’am genannt zu werden, aber die junge Frau war höchstens vierundzwanzig, und in dem Fall war es wohl angebracht. »Ja?«

»Ich muss mir jetzt endlich Ihre Rippen ansehen.«

Als die Sanitäter ihre verletzten und vermutlich gebrochenen Rippen zehn Minuten später verbanden, dachte Powell darüber nach, was alles passiert war.

Seitdem ihr der Fall zugeteilt worden war, glaubte sie, einen Ermittlungsansatz zu haben. Sie glaubte, dass es der Punkt war, an dem alle Mordermittlungen begannen, nämlich mit dem Mord selbst. Logisch, nicht wahr?

Nein. Nicht immer.

»Wir haben einen Anruf vom 105. Revier bekommen«, sagte Fontova, der am Esszimmertisch saß. Als Desiree Powell, deren Oberkörper bis auf den BH entblößt war, ein Verband angelegt wurde, schaute er in die andere Richtung. »Offenbar hat ein Streifenbeamter in einem der billigen Motels auf der Hempstead Avenue mit einem Mann gesprochen. Über den Notruf war die Information eingegangen, dass sich zwei Männer auf dem Parkplatz dort prügelten.«

»Und weiter?« Powell zuckte zusammen. Bei jeder Silbe schossen Schmerzen durch ihre Brust. Die Sanitäterin half ihr, die Bluse überzustreifen.

»Der Polizist hat gesagt, der Mann hatte keinen Ausweis bei sich und behauptete, Staatsanwalt aus Queens zu sein.«

»Staatsanwalt?«

Fontova nickte. »Laut Aussage des Polizisten war sein Name Michael Roman.«

»Okay.«

»Sie haben ihn überprüft und ihn gehen lassen. Allerdings sind sie zur Rückseite des Motels gefahren und haben dort gewartet, bis er weggefahren ist. Er hatte einen Ford Contour von 1999.«

»Wurde das Kennzeichen überprüft?«

Fontova schaute in seine Notizen. »Ja. Der Wagen ist auf eine Firma namens Brooklyn Stars zugelassen.«

»Was zum Teufel soll das denn sein? Ein Roller Derby Team?«

»Ein kleiner Autohändler in Greenpoint. Wahrscheinlich eine Werkstatt, in der gestohlene Wagen ausgeschlachtet werden. Ich hab den Laden überprüft. Raten Sie mal, wem er gehört?«

Powell hätte ihre Hände in die Luft geworfen, wenn die Bewegung nicht höllische Schmerzen ausgelöst hätte. »Ich habe starke Schmerzen. Keine Ratespiele bitte.«

»Nikolai Udenko.«

»Das nette Opfer in diesem Haus?«

»Genau.«

Powell schaute aus dem Fenster. Obwohl sie wahnsinnige Schmerzen in der Brust hatte, dachte sie angestrengt über den Fall nach.

»Dann fassen wir mal zusammen. Wir haben im 114. Revier ein Mordopfer, das gefoltert wurde. Es handelt sich um einen zwielichtigen Anwalt, und wir wissen, dass es zwischen ihm und Michael Roman eine Verbindung gibt. Und dieser Mann wurde heute Nachmittag auf der Hempstead Avenue gesehen. Er fuhr einen Wagen, der einem Mann gehörte, den wir gerade aufgeschlitzt in dem hübschen Vorstadthaus des eben erwähnten Mr Roman gefunden haben.«

»Ja.«

»In einem Haus, in dem ich mit seiner eingeschüchterten Frau gesprochen habe, bevor mich drei Kugeln trafen ...«

»Vier.«

»Vier Kugeln auf die Weste.« Powell rutschte auf dem Stuhl unruhig hin und her. Als sie von dem vierten Schuss erfuhr, verschlimmerten sich schlagartig die Schmerzen. »Und jetzt sind die Frau und die beiden Mädchen verschwunden.«

»Spurlos.«

Powell schwirrte der Kopf von den ganzen Fakten. »Verdammter Mist!«

»Genauso würde ich es auch ausdrücken, aber während der Fastenzeit verzichte ich auf alle Wörter dieser Art.«

Fontova hielt eine zweite Beweistüte hoch, in der etwas steckte, das für Powell wie eine.25-Halbautomatik aussah.

»War das meine Eintrittskarte in den Himmel?«, fragte sie.

»Ja.«

»Dieses kleine Ding? Das ist mir fast ein bisschen peinlich.« In Wahrheit konnte man mit einer.25er genauso jemanden abknallen wie mit einer.38er, wobei neben dem Kaliber auch der Patronentyp eine Rolle spielte. Powell dankte Gott, dass es nur eine.25er gewesen war. Aus der kurzen Entfernung hätte die Weste sie nicht geschützt, wenn es ein größeres Kaliber gewesen wäre.

»Ich hab die Seriennummer überprüft«, sagte Fontova. »Und es stellte sich heraus, dass diese kleinkalibrige Waffe auf keine andere als Abigail Reed Roman, examinierte Krankenschwester, einunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Eden Falls, New York, registriert ist.«

Powell starrte ihren Partner ungläubig an. »Ich bin beeindruckt. Wie aus dem Lehrbuch, nicht wahr?«

»Posaune es in die Welt hinaus, schöne Frau.«

»Ich weiß vielleicht nicht viel, aber eins ist sicher.« Powell richtete sich mühsam auf.

»Und das wäre?«

»Ich weiß, dass sie nicht auf den Abzug gedrückt hat.«

Als die Spurensicherung sich auf den Weg nach Eden Falls machte, sprach Powell über Handy mit Lieutenant John Testa, dem Chef des Morddezernates Queens. Testa war ein attraktiver Mann Anfang sechzig mit dichtem silbernem Haar und funkelnden, kleinen grauen Augen. Ein durchdringender Blick von ihm, und man gab Dinge zu, die man gar nicht getan hatte. Er hatte eine Schwäche für Desiree, die allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, und deshalb konnte sie ihn meistens um den Finger wickeln. Sie versicherte ihrem Vorgesetzten, dass es ihr gut ging (es ging ihr gar nicht gut), flehte ihn an, sie nicht von den Ermittlungen abzuziehen (sie hasste es, ihn anzuflehen), und präsentierte ihm alle Fakten, die sie hatten. Ihre Schmerzen erwähnte sie nur am Rande. Sie verriet ihm nicht, dass sie das Gefühl hatte, sie sei von einem Pferd getreten worden, und dass es ihr sogar Schmerzen bereitete, das Handy in der Hand zu halten. Testa gab nach und ließ sie weiter an dem Fall arbeiten.

Wie versprochen wurde fünf Minuten später ein Haftbefehl auf den Namen Michael Roman erlassen.