69. KAPITEL
Highway 200, auf dem Weg nach Cold Butte, Montana
“Wurde die Nummer angezeigt? Dann rufen Sie zurück”, sagte Graham.
Maggie sah nach. Keine Nummernanzeige. Sie drückte auf Rückruf und erhielt ein Besetztzeichen. Graham reichte ihr sein Notizbuch und deutete auf die Informationen des Verkehrsregisters über Burt Russell. “Versuchen Sie diese Nummer.”
Es klingelte, dann eine automatische Ansage. Die Nummer war derzeit nicht in Betrieb. Maggie versuchte es bei der Schule. Die Leitung war besetzt.
“Verdammt, verdammt, verdammt!”, rief sie.
Der Motor jaulte auf, als Graham scharf nach rechts auf den Seitenstreifen lenkte. Die zusammengedrängten Autos, Vans, Busse und Kleinlaster neben ihnen verschwammen, als sie fast eine Meile lang weiterrasten, bevor eine Sirene ertönte.
Ein Wagen der Montana Highway Patrol mit eingeschaltetem Blaulicht erschien im Rückspiegel. In der Ferne dahinter bemerkte Graham einen weißen Sedan, der dem Polizeiwagen folgte. Die Verkehrspolizei hatte nichts übrig für Fahrer, die aus der Spur ausscherten und dadurch Nachahmer inspirierten.
An einer Kreuzung kurz vor ihnen bildeten mehrere Polizeiwagen einen künstlichen Engpass, an dem Verkehrspolizisten den Verkehr auch auf Nebenstraßen umleiten wollten. Einer von ihnen sprach in sein Schultermikrofon, trat Graham in den Weg und deutete mit dem Finger auf ihn.
Graham hielt an.
Als sie sich dem Wagen näherten, öffneten drei Polizisten ihre Pistolenholster und wiesen Graham und Maggie an, ihre Hände gut sichtbar auf das Armaturenbrett zu legen. Der weiße Sedan hinter ihnen scherte unbemerkt wieder in den Verkehr ein.
Graham verhielt sich kooperativ, als sie seine Marke musterten und Maggies kalifornischen Führerschein überprüften.
Moe Holman, der älteste der Polizisten und chronischer Kaugummikauer, erkannte Graham aus der Zeit, als er an der Grenze zwischen dem kanadischen Coutts und Sweetgrass in Montana gearbeitet hatte. Er sagte seinem Kollegen, dass er sich um die Sache kümmern würde, und winkte Graham zur Seite.
“Hallo, Moe.”
Die Männer begrüßten sich mit einem Händedruck.
“Herrje, Daniel, was zum Teufel tust du? Deine Beifahrerin ist weit weg von zu Hause, und du hast nicht das Recht, hier wie ein Verrückter zu rasen. Der Papst wird dich nicht vor meinem Ticket bewahren.”
Graham erklärte, dass Maggie dringend zu einer Adresse in Cold Butte müsse, um nach ihrem Jungen zu sehen. Es handele sich um eine häusliche Angelegenheit, die mit Grahams Fall einer toten Familie zusammenhänge, und er habe schon das FBI in Billings alarmiert.
Kaugummi kauend nickte Holman, während er zugleich dem Verkehrsfunk lauschte. Als Allerletztes konnte sein Team jetzt noch mehr Arbeit gebrauchen. Die Sache mit dem Papst hatte sie genug strapaziert. Er ließ Graham mit einer Verwarnung weiterfahren und funkte den Beamten an der Absperrung sein Einverständnis.
“Fahr vorsichtig, Daniel. Hier sind heute viele komplett vergeistigte Menschen unterwegs.”
Der Verkehr kam wieder etwas in Fluss, als Graham und Maggie nach links abbogen und auf dem zweispurigen Highway, der Montanas Mittelpunkt durchschnitt, in Richtung Osten nach Lone Tree weiterfuhren.
Maggie kämpfte gegen die Tränen an, während sie verzweifelt versuchte, eine Verbindung zu Logan oder der Schule wiederherzustellen. Ihre Finger zitterten, als sie die Nummer eingab. Oft bekam sie gar kein Freizeichen, weil das Netz durch die vielen Gespräche während des Ereignisses völlig überlastet war.
Kein Glück.
Sie versuchte es weiter.
Graham kam gut voran, indem er die Gegenspur zum Überholen nutzte, sobald sie frei war. Vor einer weiten Kurve reihte er sich gerade zwischen mehreren langsam fahrenden Lastwagen ein, als ein Auto mit Hochgeschwindigkeit an ihnen vorbeiraste.
Ein weißer Sedan.
“Dieser Idiot fährt viel zu schnell.” Graham schüttelte den Kopf. “Wir sind fast da.”
Er reichte Maggie eine Karte von Cold Butte und begann, seinen Plan zu erläutern. Maggie markierte mit einem Finger die Schule, mit dem anderen die Chrystal Creek Road, als das Hupen des Lasters vor ihnen sie zusammenzucken ließ.
“Oh Gott!”
Die Bremslichter vor ihnen glühten rot auf, der Anhänger geriet auf den Seitenstreifen, wodurch Kieselsteine gegen ihren Wagen geschleudert wurden. Der Laster hielt abrupt, und irgendwas schoss mit hoher Geschwindigkeit aus dem Qualm der qualmenden Reifen.
Etwas, das direkt auf Graham und Maggie zuraste.
Maggie schlug die Hände vors Gesicht, um sich bei dem drohenden Einschlag zu schützen, als Grahams geschulter Instinkt übernahm. Er trat auf die Bremse, scherte auf den Seitenstreifen aus. Ein entgegenkommendes Fahrzeug raste nur wenige Zentimeter an ihnen und dem Laster hinter ihnen vorbei.
Im Rückspiegel erhaschte Graham einen Blick auf den weißen Sedan, der sich wie eine Rakete von ihnen entfernte. Er schoss zwanzig, dreißig Meter durch die Luft, bevor er neben dem Highway auf dem Feld aufschlug. Dort überschlug er sich mehrmals in einer Metall und Glas spuckenden Staubwolke, die mit einem Donnerknall in einen Feuerball aufging, bis zuletzt nur noch eine schwarze Rauchsäule zum Himmel stieg.
Der Fahrer im Laster vor ihnen griff seinen Feuerlöscher und rannte zu dem brennenden Wrack. Graham und der Fahrer aus dem Laster hinter ihnen folgten ihm. Sie waren noch knapp zwanzig Meter von dem Wagen entfernt, als grelle Explosionen die Luft zerrissen, deren Druckwellen die Männer zu Boden warfen.
Die Luft stank nach Benzin und geschmolzenem Plastik. Flammen und Hitze umgaben den auf dem Dach liegenden Wagen und machten es den Männern unmöglich zu helfen.
“Allmächtiger, da sind zwei Leute drin!”, rief einer der Trucker. “Die können das unmöglich überleben!”
Während der Wagen langsam ausbrannte, jaulten Sirenen auf. Kurz darauf trafen Fahrzeuge der Montana Highway Patrol ein, dazu zwei Löschzüge, ein Wagen des Sheriffs und eine Ambulanz.
Wasser verdampfte zischend, als die Feuerwehrmänner den Brand löschten.
Moe Holman schüttelte angesichts des Chaos ungläubig den Kopf. “Wir müssen diesen Straßenabschnitt für unsere Untersuchungen sperren. Wer hinten im Stau steht, wird den Papst wohl nicht zu sehen bekommen. Heute kommt es ja wirklich immer besser.” Während es in seinem Funkgerät knisterte, betrachtete Holman den Verkehrsstau, den seine Leute unter Kontrolle zu bringen suchten.
“Glauben Sie wirklich, dass er es auf Sie abgesehen hatte?”, fragte er Graham und die Fernfahrer, wobei er sich Notizen machte. “Das klingt verrückt. Vielleicht hatte er einen Schlaganfall?”
“Anfall, von wegen.” Einer der Fahrer spuckte aus und nickte in Richtung Graham. “Für mich sah es so aus, als ob er ihn gezielt ins Visier genommen hätte, wie so ein verdammter Kamikaze-Pilot.”
Graham bemerkte Maggie, die im Gras kniete, und ging zu ihr. Sie betrachtete einen verbogenen Gegenstand aus Metall.
“Was ist das?”
Ohne es zu berühren, deutete sie auf ein verkrümmtes Stück abgeschmolzenes Metall, die Überreste eines Autokennzeichens aus Montana mit dem Logo der Mietwagenfirma.
“Das ist der Kerl, den wir gerade auf dem Parkplatz gesehen haben.” Sie blätterte in ihrem Notizbuch. “Vielleicht der gleiche Typ wie im Flugzeug. Und ich meine mich zu erinnern, dass er uns auch im Restaurant in Las Vegas beobachtet hat.” Sie blickte Graham an. “Was geht hier vor?”
“Gehen Sie zurück zum Wagen. Versuchen Sie es weiter mit Ihren Anrufen.”
Graham zog Moe Holman zur Seite, um allein mit ihm sprechen zu können.
“Moe, möglicherweise gibt es eine Verbindung zwischen den Todesopfern in diesem Wagen und meinem Fall, und vielleicht stellt sich uns hier eine noch unerkannte Bedrohung dar.”
Holman fiel beinahe der Kaugummi aus dem Mund.
“Hier? Gegen den Papst?”
“Könnte sein.”
“Durch wen und wie?”
“Ich weiß es nicht.”
“Beim Briefing heute Morgen haben wir nichts davon gehört. Keine Warnungen oder Ähnliches. Vielleicht bringst du das mit der Seattle-Sache von gestern durcheinander.”
“Was für einer Seattle-Sache?”
“Ich habe nur gehört, dass da eine Art Sicherheitslücke in Seattle gewesen ist. Sie haben sich offenbar darum gekümmert, halten die Details aber unter dem Deckel. Ich glaube nicht, dass darüber überhaupt etwas in der Presse steht. Uns sagen sie sowieso nichts, wir sind nur die Verkehrspolizei.”
Graham dachte über Holmans Worte nach.
“Was verschweigst du mir über deinen Fall, Daniel?”
“Mein Fall könnte mit unbestätigten Geheimdienstinformationen aus Afrika in Zusammenhang stehen.”
“Afrika? Was zur Hölle weißt du noch?”
“Ein Reporter aus Washington, D. C., der dieser Story nachging, kam kürzlich beim Camping in der Nähe von Banff mitsamt seiner Familie ums Leben. Es sah nach einem Unglücksfall aus, aber wir sind nicht wirklich sicher.”
“Was bedeutet das? Kennst du die Leute aus dem Wagen?”
“Nein. Wenn du das Kennzeichen überprüfst und einen Namen erhältst, alarmiere bitte das FBI und die Leute vom Sicherheitsteam des Papstes. Frag nach Secret Service Agent Blake Walker. Gib ihm meine Handynummer.”
“Da kannst du dich drauf verlassen. Aber ich verwette meinen linken Fuß, dass das FBI mich wegen dieses Unfalls zuerst anruft. Ich erzähle ihnen, was du gesagt hast.” Holman nickte in Richtung eines Militärhubschraubers, der über der Unglücksstelle kreiste. “Sie sperren den Luftraum von Great Falls nach Cold Butte für den Papst ab. Die Show geht bald los.”
“Ich muss weiter”, sagte Graham. “Du hast ja alles, was du von mir brauchst.”
“Kannst du so lange warten, bis ich dir jemanden mitgeben kann? Dann wäre mir wohler.”
“Wie lange?”
“Bis wir die Dinge hier unter Kontrolle haben. Im Moment können wir niemanden erübrigen.”
“Ich möchte jetzt los, Moe.”
Holmans Funkgerät knackte, die nächste Unfallmeldung. Ein Bus mit Pilgern aus South Dakota war in der Nähe von Sand Springs auf ein Wohnmobil aufgefahren. Keine ernsthaft verletzten Insassen, nur ein weiteres Verkehrsproblem.
“Das passiert eben, wenn sich die Bevölkerung eines Staates plötzlich verdreifacht und sich jeder entschließt, an diesem Tag vor deinem Haus zu parken.”
Holman kaute weiter und winkte Graham zum Abschied zu, bevor er wieder in sein Funkgerät sprach.
Um die verlorene Zeit aufzuholen, fuhr Graham so schnell, wie es ihm der dichte Verkehr erlaubte.
Er nutzte jede Lücke, um einzuscheren, und winkte den Fahrern, die er schnitt, entschuldigend zu. Er versuchte Walker zu erreichen, doch sein Handy bekam keine Netzverbindung. Maggie studierte die Karte und versuchte ebenfalls vergeblich, ihre Nummern anzurufen.
Als Cold Butte vor ihnen lag, klingelte Grahams Telefon.
“Dan, hier ist Stotter. Wo sind Sie?” Es rauschte in der Leitung. “Graham? Können Sie mich hören?”
“Noch in Montana. Kurz vor Cold Butte. Bevor Sie mich in der Luft zerreißen …”
“Cold Butte? In Ordnung. Hören Sie, da ist etwas aufgetaucht. Arnie Danton hat am Tatort einen Luminoltest gemacht und in der Nähe des Flusses Blut gefunden. Ich weiß, wir hätten das vorher machen sollen. Arnie sagt, es wäre uns entgangen, wenn Sie nicht so eine Ahnung gehabt hätten.”
“Hat er eine Waffe gefunden?”
“Könnte ein Stein gewesen sein. Der Täter hat ihnen anscheinend den Schädel eingeschlagen und sie dann ins Kanu gelegt. Um einen Unglücksfall im Fluss vorzutäuschen. Fast perfekt.” Bei Stotter klingelte ein Telefon. “Wir haben noch einiges an Laborarbeit vor uns, also bleiben Sie auf Empfang!”
“Warten Sie! Mike, ich brauche Hilfe. Sie müssen Special Agent Blake Walker erreichen. Er ist vom Secret Service und hier unten für die Sicherheit des Papstes zuständig. Machen Sie ihn auf Jake Conlin alias Burt Russell aufmerksam. Das Straßenverkehrsamt von Montana hat ihn in seinen Akten. Er könnte mit einer nicht identifizierten Frau und einem männlichen Kind zusammen sein. Wenn Tarver ermordet wurde, wird seine Verschwörungstheorie schon plausibler.”
“Wir kümmern uns drum.”
Als Maggie und Graham der Stadt näher kamen, verlangsamte sich der Verkehr allmählich, bis er endgültig ins Stocken geriet. Einige Leute hatten ihre Wagen neben dem Highway im Gras geparkt. Sie öffneten Türen und Kofferraum, holten Klappstühle, Kühltaschen, Decken, Transparente und Plakate heraus.
Willkommen, Heiliger Vater. Montana liebt den Papst.
In einigen Fällen kümmerten sich Männer und engagierte Jugendliche um ältere Menschen in Rollstühlen.
Alle zwanzig oder dreißig Meter standen ein Freiwilliger oder ein uniformierter Beamter, die den stetigen friedlichen Menschenstrom Richtung Schule und Buffalo Breaks dirigierten, wo sich der Schrein befand und wo der Papst eine Messe vor Tausenden von Zuschauern halten wollte.
“Wir müssen uns aufteilen”, sagte Graham. “Sie gehen zur Schule, fragen dort nach Special Agent Blake Walker. Ich kümmere mich um das Haus in der Chrystal Creek Road.”
Bevor sich Maggie von ihm trennte, nahm sie Grahams Hand, drückte sie und sah ihm in die Augen. Sie wollte ihm so vieles sagen, doch die Zeit drängte.
“Gehen Sie schon – und finden Sie Ihren Sohn”, sagte er.
Ihr Kinn bebte. Sie nickte und schloss sich dann der Menge an, während über ihnen die Hubschrauber über den wolkenlosen Präriehimmel donnerten.
Die Zeit lief ab.