2. KAPITEL
Fünf Monate später
Faust’s Fork, in der Nähe von Banff, Alberta, Kanada
Haruki Ito wanderte allein am Flussufer entlang, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.
Er hob seine Nikon ans Auge und stellte den Zoom ein, bis der Bär in der Ferne seinen Sucher ganz ausfüllte. Ein weiblicher Grizzly, der in den Rocky Mountains am Ufer des reißenden Faust River Forellen jagte.
Mit dem Foto des Grizzlys erfüllte sich ein Traum für Ito, der gerade ein paar Tage Urlaub genoss. Er arbeitete als Nachrichtenfotograf bei der Yomiuri Shimbun, einer der größten Tagezeitungen in Tokio. Jetzt aber betätigte er den Auslöser ganz privat und drehte gerade für ein weiteres Bild am Schärfering, als an der Peripherie seines Sichtfelds etwas verschwommen auftauchte.
Er zoomte es heran und knipste ein Bild – eine kleine Hand, die aus dem rasch dahintosenden Wasser ragte.
Ito lief am Ufer entlang und kämpfte sich durch dichtes Gebüsch und über glitschige Felsen, während er ab und zu einen Blick auf die Hand erhaschte, dann auf einen Arm und schließlich auf einen Kopf, als der Fluss sein Opfer in einen Strudel gespült hatte.
Er trat vorsichtig an die kleine Ausbuchtung mit dem wirbelnden Wasser heran. Dann legte er seine Kameraausrüstung ab, ging Schritt für Schritt in das hüfthohe Wasser und streckte sich angespannt nach dem Kinderkörper.
Ein weißer Junge. Etwa acht oder neun Jahre alt, schätzte Ito. Sweatshirt, Jeans und Turnschuhe.
Er war tot.
Traurigkeit stieg in Ito auf.
Als er den Jungen ans Ufer zog, ließ ihn ein plötzliches Krachen und Splittern zusammenzucken. Ein Kanu war in die Felsen neben ihm gerast. Es war leer.
Er blickte suchend über den Fluss und schauderte.
Gibt es noch mehr Opfer?
Ito lief zurück zum Wanderweg, wo es ihm gelang, zwei Frauen – deutsche Touristinnen auf Fahrradtour – anzuhalten. Binnen einer Stunde hatten die Parkaufseher eine Such- und Rettungsaktion organisiert.
Die Gegend war als Faust’s Fork bekannt, ein felsiges Gebiet mit Flüssen, Seen, Wäldern, Gletschern und Bergketten, das sich zwischen dem Banff National Park und Kananaskis County erstreckte. Es war durchsetzt mit Wanderpfaden und abgelegenen Zeltplätzen. Der Zugang war nur zu Fuß oder per Pferd erlaubt. Mit dem Fahrzeug erreichte man lediglich einige Ausflugsziele am Flussufer sowie ein paar Zeltplätze entlang des Flusses, die nur durch eine alte Holzfällerstraße miteinander verbunden waren.
Nachdem man den Tod des Jungen bestätigt und die Möglichkeit weiterer Opfer eingeräumt hatte, unterrichtete die Parkleitung nicht nur die Royal Canadian Mounted Police, sondern auch Gerichtsmediziner, Sanitäter, Feuerwehrmänner und die Park Ranger vor Ort. Naturschutzbeauftragte und andere Stellen wurden ebenfalls in Kenntnis gesetzt. Sie grenzten das zu durchsuchende Gebiet ein und teilten es in verschiedene Sektionen auf.
Rettungsboote wurden zum Fluss gebracht, konnten in dem Abschnitt, in dem man den Jungen gefunden hatte, jedoch nicht nach Überlebenden suchen. Die Strömung war zu stark. Man stellte Suchteams zusammen, die das Gebiet zu Fuß, zu Pferde und mit Geländewagen durchkämmten. Alle Helfer hatten Funkgeräte dabei, manche auch Suchhunde. Ein Hubschrauber und ein Flugzeug beteiligten sich an der Suche, ebenso wie viele Gruppen mit Freiwilligen, die noch weitere Camper in Faust’s Fork verständigten.
Etwas weiter flussaufwärts stand Daniel Graham in der Nähe eines entlegenen Zeltplatzes allein auf einem kleinen Anstieg, der einen weiten Blick auf den Fluss, die Berge und den Himmel eröffnete.
Er betrachtete die bronzene Urne in seiner Armbeuge und liebkoste die Blätter und Tauben, die in einem Schmuckband um die Mitte eingraviert waren. Nach einiger Zeit schraubte er den Deckel ab, schüttelte die Urne und übergab ihren Inhalt dem Wind. Feine, sandige Asche wirbelte und tanzte über die Wasseroberfläche, bis die Urne leer war.
Graham blickte zu den schneebedeckten Gipfeln, als ob sie die Antwort auf etwas bereithielten, das ihn sehr beschäftigte. Doch er bekam nicht die Zeit, darüber in Ruhe nachzudenken. Die Stille, die er gesucht hatte, wurde durch einen dröhnenden Hubschrauber gestört, der in weniger als dreißig Metern Höhe über den Fluss flog.
Kurz darauf kehrte er um und verschwand im Tiefflug in die entgegengesetzte Richtung.
Muss sich wohl um eine Suchaktion handeln, dachte Graham. Er stellte die Urne beiseite und suchte den Fluss prüfend nach einem Anzeichen für den Helikoptereinsatz ab. Nicht lange nach dessen Abdrehen hörte er das undeutliche Knistern und Knarzen von Funkgeräten, als zwei Männer in orangefarbenen Overalls seinen Zeltplatz betraten.
“Sir, wir sind vom Such- und Rettungsdienst”, sagte der erste. “Auf dem Fluss gab es einen Bootsunfall. Verschiedene Mannschaften suchen nach Überlebenden. Bitte geben Sie uns Bescheid, wenn Ihnen irgendetwas auffällt.”
“Wie ernst ist es?”
Die Männer musterten Graham, der in Jeans und T-Shirt vor ihnen stand. Er war in den späten Dreißigern, gut einen Meter achtzig groß und muskulös gebaut. Sein markantes Kinn schmückte ein dunkler Dreitagebart, der seine eindringlichen, tief liegenden Augen noch betonte.
Er zog eine lederne Brieftasche aus seiner Jackentasche und öffnete sie, damit die Männer das goldene Abzeichen sehen konnten – die Krone, umgeben von einem Kranz von Ahornblättern, mit den Worten “Royal Canadian Mounted Police” versehen. Daneben der Bisonkopf, der von dem Spruchband mit dem Motto Maintiens le Droit eingerahmt war. Der Ausweis identifizierte ihn als Daniel Graham, Corporal der RCMP, der Royal Canadian Mounted Police.
“Sie sind ein Mountie?”
“Beim Dezernat für Gewaltverbrechen in Calgary. Im Moment außer Dienst. Wie ernst ist der Unfall? Gab es Todesopfer?”
“Mindestens eines. Ein Junge. Wir haben noch keine weiteren gesicherten Informationen.”
“Sind schon irgendwelche Kollegen von mir eingetroffen? Können Sie Ihren Einsatzleiter fragen?”
Einer der Männer griff nach seinem Funkgerät, hielt kurz Rücksprache mit seinem Einsatzleiter und übergab dann an Graham. Von dem Einsatzleiter erfuhr er, dass Mounties von Banff und Canmore auf dem Weg waren. Weitere hatte man zur Unterstützung angefordert.
“Haben Sie einen Unglücksort und die Identität des Opfers?”, fragte Graham.
Ein Parkleiter informierte Graham, dass man die Leiche eines männlichen Kindes, etwa acht bis zehn Jahre alt, ungefähr einen Kilometer flussabwärts von Grahams Standort gefunden habe. Offenbar sei ein Kanu gekentert, die Parkaufsicht vermutete weitere Opfer.
“Es wird alles Menschenmögliche getan”, sagte der Einsatzleiter.
“Ich helfe bei der Suche und arbeite mich zum Fundort des Jungen vor. Geben Sie das bitte weiter”, sagte Graham.
Die beiden Männer gingen weiter flussaufwärts, während Graham seine paar Habseligkeiten einpackte und so rasch, wie es das unwegsame Gelände zuließ, auf den Fluss zusteuerte. Die Unterbrechung hatte ihn vom eigentlichen Grund seiner Anwesenheit abgelenkt. Graham schob seine persönlichen Probleme beiseite, um sich der Tragödie zu widmen, die sich ihm hier bot.
Er hielt inne, um mit dem Fernglas die zerklüfteten Ufer und das Wasser abzusuchen, konzentrierte sich besonders auf Felsen, die aus dem Wasser ragten. Sie erzeugten kräftige Wirbel und eine in allen Regenbogenfarben schimmernde Wassergischt, wenn die Strömung gegen sie schlug. Während er die Gegend absuchte, hörte Graham über sich das charakteristische Geräusch der Hubschrauberrotoren und das entfernte Surren des einmotorigen Flugzeugs.
Als er an eine gefährliche Stelle kam, rutschte er auf den feuchten Felsen aus und schlug sich das Knie an. Doch er ging weiter und bahnte sich seinen Weg zwischen den schroffen Steinformationen, die das Tor für einen Wasserfall bildeten. Er hörte donnerndes Rauschen.
Während er über das Gestein balancierte, glaubte Graham etwas Buntes zwischen einigen größeren Felsen zu erspähen, an denen sich das Wasser in der Mitte des Flusses schäumend brach. Er suchte nach einem sicheren Stand und setzte das Fernglas an. Die Gischt behinderte seine Sicht, doch er war überzeugt, dass er durch den sprudelnden Wasserwirbel etwas Pinkfarbenes an dem Felsen erblickte. Er verschaffte sich eine bessere Position, sodass er mehr Details erkennen konnte: einen kleinen Kopf, einen Arm, eine Hand.
Es ist ein Kind. Ein Mädchen. Das durch die Strömung gegen den Fels gepresst wird. Das um sein Leben kämpft.
Sie war knapp fünfzig Meter von ihm entfernt und wurde durch eine Haube aus Gischt verdeckt. Sie konnte jeden Moment von dem Felsen weggespült und in Richtung Wasserfall getrieben werden. Den Sturz würde sie nicht überleben.
Es gab keine Zeit zu verlieren. Er hatte weder Funkgerät noch Handy bei sich. Es waren auch keine anderen Rettungskräfte in Sicht. Er musste die Entscheidung allein treffen.
Während er an dem rauschenden Fluss stand und auf den winzigen pinkfarbenen Fleck starrte, fühlte Graham die Vibrationen des Wassers in seinem Brustkorb. Er wusste, wie gefährlich es war, hier und jetzt selbst ins Wasser zu gehen. Er hatte nur eine Chance, sie zu erreichen. Wenn er versagte, würde ihn die Strömung davontragen – und dann müsste er um sein Leben kämpfen, bevor sie ihn zum Wasserfall trieb und er auf die Felsen darunter stürzte.
Nach allem was geschehen war – was hatte er in seinem Leben zu verlieren?
Graham kannte das Risiko. Vermutlich musste er sterben. Doch das würde auch das Kind, wenn er nicht versuchte, es zu retten.
Er musste sie herausholen.
Er eilte ein Stück zurück flussaufwärts, streifte seine Stiefel ab, legte Marke, Fernglas und alles andere ab, was ihn behindern konnte, und ließ sich in das kalte Wasser gleiten.
Der Fluss drohte ihn mit sich zu reißen, und das Adrenalin schoss in seinen Körper, als er gegen die Strömung ankämpfte und sich einen Weg zwischen den Felsen bahnte. Weiße Blitze zuckten vor seinen Augen, als sein Bein gegen einen Stein prallte. Schmerz durchzog ihn, und er ging unter. Das Wasser rauschte in seinen Ohren, er schluckte Wasser.
Er drückte sich wieder an die Wasseroberfläche, keuchte und spuckte einen Schwall Flusswasser. Nach Luft schnappend versuchte er sich zu orientieren und das Mädchen auszumachen. Der pinkfarbene Fleck, sein wichtigster Anhaltspunkt, war verschwunden. Stromschnellen und Gischt verdeckten ihn, er konnte den Standort des Mädchens nur ahnen.
Er wurde gegen einen Felsen gedrückt, was ihm fast die Luft abschnürte. Er packte ihn, um sich daran hochzuziehen. Gerade als er ein Stück flussabwärts etwas Pinkfarbenes schimmern sah, zog ihn die Strömung unerbittlich weiter, wobei er sich die Hand an einer Felskante aufschnitt.
Graham wurde erneut nach unten gedrückt. In dem aufgewühlten Wasser sah er Beine, die sich um einen Fels vor ihm pressten. Mit letzter Kraft schaffte er es, dorthin zu schwimmen. Die Strömung drückte ihn gegen den Felsen.
Er war unter Wasser, konnte sich nicht bewegen, kam nicht an die Oberfläche.
In seinen Ohren klingelte es. Seine Lungen zerbarsten fast. Er würde es nicht schaffen.
“Mach weiter, Daniel“, hörte er die Stimme seiner Frau. “Du musst weitermachen.”
Er mobilisierte seine letzten Kräfte, um sich gegen den Sog an die Oberfläche zu kämpfen. Keuchend holte er Luft und klammerte sich an den Felsbrocken. Einige Sekunden später war er wieder bei sich und arbeitet sich langsam um das Gestein herum. Er griff so weit wie möglich aus, bis er erst kleine Finger berührte, dann eine Hand und schließlich den Arm des Mädchens. Er schob sich weiter, bis er ihr ins Gesicht sehen konnte.
Ihre schreckgeweiteten Augen starrten ihn an.
Ihre Lippen waren blau.
Sie lebte, doch sie zitterte am ganzen Körper, stand unter Schock.
Sie war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.
Graham schob sich näher, schlang den Arm um sie und löste ihre Hände vom Felsen. Sie blutete aus einer Kopfwunde. Graham arbeitete sich mit ihr wieder um den Felsen herum, bis zu einem Punkt, an dem er die Position besser kontrollieren konnte. Er presste sich und das Mädchen gegen den Felsen und hoffte, dass alles nicht vergebens war.
Während er sie festhielt, sah sie ihn eindringlich an.
Er legte den Mund an ihr Ohr, um sie zu trösten.
“Alles wird wieder gut”, sagte er. “Ich helfe dir. Halt durch. Halt einfach nur durch.”
Sie starrte ihn an, und ihre Lippen bewegten sich.
Er legte sein Ohr an ihren Mund und bemühte sich, ihre Worte im Getöse der Stromschnellen zu verstehen, doch er war sich nicht ganz sicher, was sie sagte.
“…Daddy … nicht … weh …”