30. KAPITEL

Blue Rose Creek, Kalifornien

Maggie drückte auf den grünen Knopf, woraufhin der Automat das Parkticket ausspuckte.

Die Schranke hob sich, und sie parkte vor dem Mercy General Memorial Hospital ein. Madame Fatimas Freundin hatte sie herbestellt, um mehr über Logan zu erfahren.

Als Maggie auf den Eingang zuging, schaute sie zu den Wolken, die sich über ihr zusammenballten, und erinnerte sich an die Unwetterwarnung.

Sie hatte ihren Regenschirm vergessen.

Egal.

Bei dem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatte, war es ihre letzte Sorge, dass sie nass werden könnte. Sie schlief kaum noch. Sie aß nicht. Stück für Stück schien sie aus der Realität in einen Traum abzudriften, der sie auf einer immer dunkler werdenden Straße von einer Enttäuschung zur nächsten führte.

Doch noch gab sie sich nicht geschlagen.

Ein Ziel, ein sonnenklarer Zweck ließ sie weitermachen.

Sie würde niemals aufhören, nach ihrem Sohn und ihrem Mann zu suchen.

Als Maggie sich dem Empfang näherte, blickte die Rezeptionistin sie kühl an.

“Ich bin hier, um Fatima Soleil zu besuchen.”

“Buchstabieren Sie, bitte.”

Maggie tat wie geheißen, und die Frau tippte den Namen ein.

“Und ihr Name?”

“Maggie Conlin.”

“Verwandte oder Freundin?”

“Freundin. Ich wurde von Helga Kimmel benachrichtigt.”

Wieder tippte die Frau etwas ein und fand Maggies Namen.

“Ich brauche einen Ausweis mit Foto.”

“Reicht mein Führerschein?”

Die Frau nickte und tauschte Maggies Führerschein gegen einen Besucherausweis und eine Unterschrift auf der Besucherliste.

“Sie liegt im neunten Stock. Wenn Sie aus dem Fahrstuhl kommen, gehen Sie gleich nach rechts zum Schwesternzimmer.”

“Danke. Können Sie mir etwas über ihren Zustand sagen?”

“Fragen Sie die Schwestern im neunten Stock.”

Als der Fahrstuhl nach oben fuhr, versuchte Maggie ihre Hoffnung zu dämpfen.

Insgeheim glaubte sie, dass Fatima während ihrer Séance etwas gespürt hatte. Auch Maggie hatte etwas gefühlt. Sie konnte schwören, dass sie damals Logans Nähe hatte spüren können. Nun fragte sie sich, welche Information Fatima für sie haben mochte.

Spielt es eine Rolle?

Maggie würde jeder Möglichkeit nachgehen.

Mit einem “Ping” erreichte der Fahrstuhl den neunten Stock.

Ein aseptischer Geruch schlug ihr entgegen. Den Flur hinunter sah sie eine kleine, untersetzte Frau in verblichenen Jeans und einer riesigen geblümten Bluse mit einer Schwester sprechen. Es handelte sich um Helga.

“Entschuldigen Sie, Nancy”, sagte Helga zu der Schwester. “Ich muss mit Maggie reden.”

“Hallo”, begrüßte Maggie sie.

“Kommen Sie hier entlang, da um die Ecke ist eine Wartezone.”

Die hell gestrichenen Wände konnten nicht über den Trübsinn hinwegtäuschen, den die braun-grauen Vinylsessel und die alten Ausgaben längst vergessener Zeitschriften verbreiteten.

Helga setzte sich, rieb sich die blutunterlaufenen Augen und atmete zweimal tief durch.

“Sie gehen davon aus, dass Madame die Nacht nicht überleben wird.”

“Oh mein Gott.” Maggie berührte Helgas Knie. “Es tut mir so leid.”

Helga nickte.

“Der Krebs frisst sie auf. Ihre Zeit ist gekommen. Sie hat keine Schmerzen. Man hat ihr starke Mittel gegeben, und sie ist halb bewusstlos.”

Maggie sah sich rasch um. Weder in der Wartezone noch auf dem Flur war irgendjemand zu sehen.

“Hat sie keine Familie?”

“Ich bin ihre einzige Familie”, sagte Helga. “Madame bat mich, Sie hierher zu bestellen. Sie möchte Ihnen Informationen geben.”

“Sagte sie, worum es geht?”

“Es kann nur die Séance wegen Ihres Sohnes betreffen. Sind Sie bereit, zu ihr zu gehen?”

Maggie nickte, und Helga führte sie zum Krankenzimmer.

“Ich lasse Sie mit ihr allein, bis Sie fertig sind. Die Schwestern überwachen sie von ihrem Zimmer aus. Sie haben also Ihre Ruhe. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn sie mal wieder wegdriftet. Sie bemerkt es, wenn Menschen im Raum sind.”

Maggie drückte langsam die Tür auf und trat ein.

Das Zimmer war schwach beleuchtet und Blumengebinde verströmten einen Wohlgeruch. Das sanfte Brummen der Maschinen, die Fatimas Atmung, Blutdruck und Herzschlag überwachten, wirkte beruhigend.

Auf das, was sie als Nächstes erblickte, war Maggie nicht vorbereitet.

Sie schrak zunächst sogar zurück und wollte die Schwester benachrichtigen, dass Fatima verschwunden sei, wie die zerdrückten Laken auf ihrem Bett zeigten. Maggie brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, dass sich Fatima tatsächlich dort befand – unter den zerdrückten Laken. Ihr Körper war so verwüstet, dass sie nur noch ein lebendes Skelett zu sein schien.

Eine Sauerstoffmaske lag auf ihrem Gesicht. Aus einer Infusion tropfte Morphium in ihren Arm. Sie war nicht bei Bewusstsein.

Der Tod hatte seine Arbeit fast vollendet.

Maggie setzte sich in den Polstersessel neben dem Bett.

Fatima drehte ihr den Kopf zu und öffnete die Augen, um zu zeigen, dass sie ihren Gast wahrgenommen hatte.

“Sie haben nach mir gefragt, und ich bin gekommen.”

Fatima blinzelte und glitt wieder in die Bewusstlosigkeit.

Maggie saß eine Stunde lang bei ihr. Sie wollte aufstehen, um das Zimmer kurz zu verlassen, als sie beinahe aufschrie.

Fatimas eiskalte Finger hatten Maggies Handgelenk gepackt.

Maggie bewegte sich nicht.

Fatimas Griff war fest. Ihre Augen öffneten sich, doch es war nur das Weiße zu sehen. Sie stöhnte, und ihr Kiefer bewegte sich.

“Ich habe Sie angelogen, Maggie. Ich habe etwas gesehen.”

Der Druck ihrer Finger verstärkte sich.

“Wollen Sie wissen, was ich gesehen habe?”

“Ja.”

“Es ist nicht gut. Wollen Sie es wissen?”

Maggies Kinn bebte, und sie musste sich zur Antwort zwingen.

“Ja.”

“Ich sehe es jetzt gerade vor mir. Ihr Sohn lebt.”

“Wo ist er?”

“Aber er ist in Gefahr.”

Fatimas Griff verursachte Maggie Schmerzen. Sie sank neben dem Bett auf die Knie.

“Wo ist er?”

“Er weiß nicht, dass er in Gefahr schwebt.”

“Bitte, ich flehe Sie an, wo ist er?”

“Da ist eine Frau. Ich sehe eine Frau. Da ist Feuer. Explosionen. Zerstörung. Sie trägt etwas.”

“Wer ist die Frau?”

“Die Frau trägt ein Kind.”

“Ist es Logan?”

“Das Kind ist tot.”

“Nein! Oh neeein!”

Fatima lockerte ihren Griff.

Ihr Körper zuckte unkontrolliert hin und her. Ihr Kiefer klappte herunter, und sie wurde ganz still. Die Monitore gaben einen durchdringenden Alarmton von sich.

“Hilfe!”, rief Maggie. “Jemand muss helfen!”

Eine Schwester kam ins Zimmer gelaufen und griff nach ihrem Stethoskop. Sie horchte Fatima ab und drückte dann auf den Knopf der Gegensprechanlage über dem Bett. “Wir haben einen Abgang in 921.”

Maggie schlug die Hände vors Gesicht und zog sich in eine Ecke zurück, um nicht im Weg zu stehen. Alles, was folgte, erlebte sie wie in Trance.

Helga kam herein und schluchzte.

Die Schwestern trösteten sie, und auch Maggie stand ihr bei. Maggie war nicht sicher, wie lange sie bei Helga blieb oder wie sie es zurück zur Rezeption schaffte, um dort ihren Führerschein wiederzubekommen. Sie erinnerte sich, dass es regnete.

Sie erinnerte sich an Donner und Blitze, und auf ihrer Haut prickelte es, während sie zum Wagen lief. Sie erinnerte sich an die Worte der sterbenden Hellseherin, die sie warnte, dass Logan in Gefahr sei.

Die Frau trägt ein Kind.”