18. KAPITEL
Cold Butte, Lone Tree County, Montana
Pater Andrew Stone beobachtete, wie das Gras der Great Plains wellenförmig im Wind wogte. Meile über Meile, so weit das Auge reicht.
Atemberaubend in seiner majestätischen Schönheit.
Unsterblich durch seine schmerzvolle Geschichte.
Der Zukunft so würdig.
Bald würde der Papst eintreffen und dieses Land segnen, die Buffalo Breaks, wo so viele von Stones Vorfahren gestorben waren.
Sein Herz schwoll bei dem Gedanken, dass ein Traum wahr werden würde.
Jüngste Bedenken allerdings stellten den Besuch des Papstes infrage, den ersten in diesem Winkel des Landes.
Stone machte sich keine Sorgen.
Denn wenn er eines von einem alten Freund gelernt hatte, dann, dass Gottes Plan nicht zu durchkreuzen war.
“Pater Stone! Wir sind bereit!”
Etwa hundert Meter hinter ihm rief der Direktor von Cold Buttes einziger Schule zum Meeting des Planungskomitees, das für den Papstbesuch verantwortlich war. Es ging um den Brief aus Washington.
Stone hatte ihn gelesen.
Die Abteilung Personenschutz vom Secret Service hatte den Vatikan auf die letzten Berichte der Sicherheitsdienste aufmerksam gemacht – unbestätigte Informationen über Bedrohungen und mögliche Attentate. Unabhängig von dem Brief hatte die Washington Post jüngst berichtet, dass immer mehr einflussreiche kirchliche Organisationen des Landes einen Mordversuch befürchteten und den Vatikan drängten, einige Stationen des Papstbesuches zu streichen. Darunter seinen geplanten Aufenthalt hier in Lone Tree County.
Mit einer Kopie des Briefes und des Zeitungsartikels machte sich Stone auf den Weg zur Schule. Er war sicher, dass der Besuch letztlich stattfinden würde. Sein Glaube war verankert in seiner Hingabe zu Gott und seinen Blutsbanden zu dem Land, in dem er geboren war.
Stone war ein Abkömmling der Swift Fox, einem kleinen Stamm in den Plains, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts durch die Pocken fast ausgerottet wurde. Zu jener Zeit war Schwester Beatrice Drapeau, eine französische Nonne, mit den Jesuiten eingetroffen. Sie blieb, um sich um die Sterbenden zu kümmern, bis sie selbst der Krankheit zum Opfer fiel.
Die Erkrankten, die zu ihrem Gedenken beteten, überlebten.
Ihre Geschichte hatte Stone dazu inspiriert, Priester zu werden. Nach dem Theologiestudium und der Priesterweihe wurde er in den Vatikan versetzt, wo er in den Archiven über die Rolle der Kirche in der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner forschte. Dort freundete er sich mit einem klugen Kardinal an, den die Geschichte vom Vermächtnis der Nonne und von Stones Berufung sehr ergriff.
“Das Opfer von Schwester Beatrice darf nicht vergessen werden”, sagte der Kardinal mit erhobenem Finger zu Stone, als er nach Lone Tree County zurückkehren sollte. “Eines Tages, mein Bruder, werde ich ihr zu Ehren eine Pilgerreise nach Montana unternehmen.”
Jahre später wurde der Kardinal zu Stones großer Verwunderung zum Papst gewählt. Wenige Monate darauf schrieb ihm sein alter Freund einen persönlichen Brief.
“Mein Bruder, um unserer guten Schwester Beatrice Drapeau zu gedenken, werde ich an ihrem nächsten Todestag wie versprochen eine Pilgerreise in die Great Plains unternehmen. Sie können diese Neuigkeit gerne weitergeben, damit auch andere an der Reise teilnehmen.”
Stone behielt den Wortlaut des Briefes für sich, verbreitete die Neuigkeit über den bevorstehenden Papstbesuch in Montana aber über das Internet.
Anders als bei Besuchen des Präsidenten wurden Papstbesuche wegen der umfassenden Vorbereitungen meist schon im Vorfeld bekannt gegeben. Doch Stones Eröffnung war schon lange vor der offiziellen Ankündigung des Vatikans über einen Papstbesuch in den USA erschienen. Das ärgerte den Secret Service, weil es jedem, der einen Angriff plante, genug Vorbereitungszeit gab.
Als Stone nun die Schule betrat und seinen Platz bei dem Meeting einnahm, erwartete er eine hitzige Debatte über irgendwelche allerletzten Versuche, den Papstbesuch in Montana abzusagen.
“Allein der Gedanke an eine Absage ist zu diesem Zeitpunkt völlig lächerlich”, sagte der Reverend aus dem Bischofsbüro der Diözese Great Falls-Billings.
“Absolut”, stimmte die Dame vom Gouverneursbüro zu. “Es sind nur noch wenige Wochen bis zu dem großen Ereignis.”
“Aus dem Brief geht hervor, dass amerikanische und ausländische Geheimdienste Informationen über Bedrohungen und mögliche Anschläge abgefangen haben”, ertönte die Stimme eines Beamten vom Secret Service durch die Freisprecheinrichtung. “Zugegeben, das ist nicht ungewöhnlich, doch das Ausmaß hat stark zugenommen und beunruhigt uns. Vor allem weil verschiedene Anschlagspläne gegen Staatsführer und andere Ziele in den letzten sechzehn Monaten gerade noch vereitelt worden sind. Der Secret Service rät dem Vatikan keineswegs, Stationen seines Besuches abzusagen. Wir liefern nur die nötigen Informationen, damit der Vatikan seine Entscheidung treffen kann.”
“Diese in der Post zitierten Gruppen wollen die Route verkürzen und schlagen vor, den Besuch in Lone Tree ausfallen zu lassen”, sagte der Reverend.
“Das hat absolut nichts mit dem Secret Service zu tun”, sagte der Agent.
“Wir sind uns der schwierigen Zeiten bewusst, doch irgendeine Station des Besuchs zu diesem Zeitpunkt abzusagen widerspricht der kirchlichen Mission des Heiligen Vaters”, sagte der Priester in Washington, der den Staatssekretär des Heiligen Stuhls vertrat. “Jeder einzelnen Station kommt eine Schlüsselrolle zu in der ökumenischen Arbeit des Pontifex.”
In Montana sollte der festliche Tag mit einem Vorsingen des Kinderchors in der Schule beginnen, bevor der Papst in Buffalo Breaks eine Messe für etwa hunderttausend Menschen halten wollte. Dort würde er den Ort segnen und bestätigen, dass es Gott den Menschen erlaube, über ihre Makel hinauszuwachsen, um zu beweisen, dass der christliche Geist noch nicht erloschen ist.
“Hat jemand an die Konsequenzen gedacht, die eine Absage des ersten Papstbesuches in der Geschichte dieses Bundesstaates mit sich bringen würde?”, fragte der Schuldirektor. “Denken Sie an all die Vorbereitungen, die Unterbringung von Reisegruppen, die Buchungen der Motelzimmer – von Great Falls bis nach Billings, Lewistown, Miles City, und sogar bis hinein nach North Dakota. Allein die Kosten, die durch unsere Ankündigung entstanden sind. Ganz zu schweigen von all den Sicherheitschecks, denen jeder von uns bereits unterzogen wurde. Und dann der Chor … Meine Güte, die Kinder haben in den letzten Monaten doch so hart gearbeitet.”
Als Stone das Nicken reihum am Tisch sah, hielt er sich lieber aus der Diskussion heraus.
“Zu diesem Zeitpunkt liegt die Entscheidung nicht bei uns”, sagte der Beamte vom Secret Service.
“Ja, das ist richtig”, bestätigte sofort der Priester vom Heiligen Stuhl. “Wir müssen geduldig die endgültige Entscheidung des Vatikans abwarten.”