17. KAPITEL
Los Angeles, Kalifornien
Bitte, lieber Gott, lass es Logan sein.
Auf der Mattscheibe vor Maggie tauchten verschwommene Bilder eines Jungen auf.
Lass es ihn sein. Bitte.
Einige Tage nach ihrer Tortur bei Madame Fatima war in Maggie neue Hoffnung aufgekeimt.
“Wir glauben, dass dies Ihr Sohn ist”, sagte Ned Rimmer, als er das Video anhielt und ein verschwommenes Bild zu sehen war.
Rimmer war ein Detective des Los Angeles Police Department, der sich seit sechs Jahren “in Frühpension” befand, nachdem er durch die Kugel eines Dealers sein linkes Auge verloren hatte. Rimmer trug eine Augenklappe, hatte sein Haar zum Pferdeschwanz gebunden und zeigte sich meistens missmutig Er war noch immer Ermittler, nur nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Rimmer und seine Frau Sharmay, eine Notruf-Fahrdienstleiterin mit Vorliebe für extravagante Creolen, gehörten zur Guardian Rescue Society, einer nationalen Gruppe von Ordnungshütern, die freiwillig Geld, Wissen und Zeit opferten, um durch einen Elternteil entführte Kinder aufzuspüren, die durch die Maschen des Gesetzes gefallen waren.
Logans Akte war ihnen vor Monaten zugegangen, als Maggie sich zum ersten Mal bei Selbsthilfegruppen angemeldet hatte, die ihr Anliegen rasch weiterverbreiteten.
Sie hatte nie von der Society gehört, bis Sharmay sie heute im Buchladen angerufen, sich vorgestellt und dann gesagt hatte: “Wir glauben, dass eines unserer Mitglieder vielleicht ihren Sohn Logan gefunden hat.”
Sprachlos vor Überraschung und mit laut klopfendem Herzen umklammerte Maggie den Hörer.
“Hallo? Maggie?”
“Mein Gott, Sie haben ihn? Wo ist er? Geht es ihm gut? Ich muss ihn sehen!”
“Noch haben wir ihn nicht. Wir würden die Details gerne in unserem Büro in Los Angeles besprechen. Bitte kommen Sie, sobald es Ihnen passt, damit wir den Fall vorantreiben können.”
Eine Stunde später parkte Maggie, nachdem sie Sharmays Wegbeschreibung gefolgt war, in einer Straße, die genau auf der Grenze zwischen Culver City und West L. A. lag.
Die Los-Angeles-Sektion der Society befand sich im ersten Stock, gleich über dem Flying Emerald Dragon Restaurant. Der Geruch frittierter Hähnchen und gebratenen Gemüses erfüllte das Büro, als Maggie vor dem Bildschirm saß.
“Hier ist es”, sagte Rimmer. “Dieses Filmmaterial erhielten wir über unsere New Yorker Sektion von Wayne Kraychinski, einem Detective des New York Police Department im Ruhestand.”
Laut den Rimmers hatte Kraychinski Logans Profil mit seinen Schulregistern verglichen, wie er das bei allen Fällen tat, von denen seine Sektion erfuhr.
Kraychinski stieß in Queens auf einen Jungen, auf den Logans Alter und äußere Beschreibung zutrafen. Laut Aktenlage war der Junge kürzlich mit seinem Vater in die Gegend gezogen, einem Trucker, auf den Jake Conlins Profil passte.
Kraychinski und einige der anderen Mitarbeiter begannen mit der Observation.
“Wir haben eine ganze Reihe von Aufnahmen, die sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen erstrecken”, sagte Rimmer.
Die Kamera wackelte, und ein Junge von acht bis zehn Jahren in einem Kapuzensweatshirt kam ins Bild. Maggie konnte auf der unscharfen Aufnahme allerdings weder sein Gesicht deutlich erkennen noch seine Figur oder seinen Gang einordnen. Der Junge lief mit einer Gruppe gleichaltriger Kinder über den Schulhof zum Basketball-Platz.
“Nun, und hier wohnen sie.”
Der Film zeigte eine Ansammlung einzeln stehender Häuser in der Nähe des New Yorker Stadtteil Queens. Vor einem der Häuser stand ein Truck ohne Auflieger. Ein grüner Peterbilt. Als Frau eines Truckers kannte Maggie sich mit den verschiedenen Modellen aus. Jake fuhr einen Kenworth, aber er konnte ihn natürlich verkauft oder gegen einen Peterbilt eingetauscht haben.
Als Nächstes sah man den Jungen mit anderen Kindern im Park.
Wieder war er nur von hinten zu sehen. Er trug eine Baseballmütze und saß auf dem Rasen neben dem Skateboard-Parcours. Maggie hielt den Atem an, als er sein Gesicht zur Seite wandte, doch ein Schatten verdunkelte das Bild, bevor es ganz verschwand.
Maggie schlug die Hand vor den Mund, um ein Aufstöhnen zu unterdrücken.
War das Logan gewesen? Sie konnte nicht sicher sein.
“Nun”, sagte Rimmer, “diese nächsten Szenen, die Schlüsselszenen, wurden von Kraychinskis Freundin Ella Bell aufgenommen. Sie war früher Zollbeamtin. Ella benutzte eine Minikamera in ihrem Hut und näherte sich den Jungs unter einem Vorwand.”
Die Kamera wackelte, als sie sich auf eine Gruppe von Jungen auf einer Parkbank zubewegte. Man hörte eine Frauenstimme, die ein bisschen nach Long Island klang. Die Sprecherin blieb unsichtbar, während die Kamera der Gruppe immer näher kam.
“Entschuldigt, Jungs, könnt ihr mir helfen? Ich habe mich verirrt und könnte euren Rat gebrauchen.”
Ein Stadtplan wurde auf der Bank ausgebreitet.
“Ich suche das Vander Building. Weiß jemand, wo das ist?”
Die Jungen drängten sich um den Stadtplan, immer wieder tauchten ihre Gesichter auf. Die Kamera konzentrierte sich auf einen etwa zehnjährigen Jungen mit einer Baseballmütze.
“Das ist er”, sagte Rimmer. “Sehen Sie genau hin.”
“Hübsche Mütze”, sagte die Frau. “Magst du die Yankees?”
“Ja.”
Der Mützenschirm warf einen Schatten auf das Gesicht des Jungen.
“Du bist nicht von hier”, sagte die Frau. “Wo kommst du her?”
“Er ist neu, kommt aus Ohio”, antwortete ein anderer Junge.
“Stimmt das?”
Das Gesicht des Jungen war jetzt ganz scharf und füllte den Bildschirm, als er nickte.
“Das Vander Building liegt in der Richtung”, deutete ein weiterer Junge mit dem Finger. Die Bilder verschwammen vor Maggies Augen, während ihr Herz sank. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter.
“Das ist nicht Logan.”
“Sind Sie sicher?”, fragte Rimmer. “Denn manchmal verändert der andere Elternteil Frisur und Haarfarbe.”
“Dieser Junge ist nicht mein Sohn!“
“Halt das Video an, Ned.” Sharmay tätschelte Maggies Schulter. “Es wird schon wieder gut, Liebes.”
“Tut mir leid, dass ich laut geworden bin. Das ist nicht Logan. Es tut mir leid. Bitte richten Sie allen Beteiligten meinen herzlichen Dank aus. Danke für Ihre Mühe.” Maggie nahm ihre Tasche und ging zur Tür.
“Wir werden weitersuchen”, rief Sharmay hinter ihr her. “Sie werden ihn wiedersehen, das weiß ich.”
Draußen wurde es allmählich dunkel.
Maggie kämpfte mit ihren Emotionen, als sie zum Wagen eilte.
Wie hatte sie so dumm sein können? Wie hatte sie sich selbst so viel Hoffnung machen können?
Als sie mit bebenden Händen die Autoschlüssel aus der Tasche holte, fielen sie zu Boden. Beim Bücken sah sie zufällig zum Ende der Straße.
Undeutlich erblickte sie einen Mann, der am Ende des Blocks in seinem Wagen saß und Zeitung las.
Als Maggie in ihr Auto einstieg, legte er die Zeitung beiseite und startete den Motor. Als sie losfuhr, verließ auch der Mann hinter ihr seinen Parkplatz.
Er fuhr einen blauen Chevrolet Impala mit getönten Scheiben und blieb stets einige Wagenlängen hinter ihr zurück. Seine Stoßstange war auf der Fahrerseite verkratzt.
Maggie hatte ihn beim Blick in den Rückspiegel bemerkt, dachte aber, während sie Richtung Freeway fuhr, nicht weiter darüber nach. Sie war mit anderen Dingen beschäftigt.
Es herrschte reger Verkehr.
Im Radio wurde ein liegen gebliebener Wagen auf dem San Bernardino Highway gemeldet, also wich Maggie auf eine andere Route aus. Ihr Herz schlug noch immer bis zum Hals. Ihr wurde bewusst, dass sie Logan vielleicht nie wiedersehen würde.
Nein. Bitte. Nein. Sie würde es nicht überleben. Jake, wo bist du? Sag es mir, bitte.
Maggie wischte sich die Tränen fort und konzentrierte sich auf den langsam vorwärts kriechenden Strom von Rücklichtern vor ihr. Und auf Sharmays Worte, die sie gebetsmühlenartig wiederholte.
“Sie werden ihn wiedersehen, ich weiß es.”
Maggie wollte das nur zu gern glauben.
Sie musste es glauben.
Als sie etwa neunzig Minuten später ihre Ausfahrt erreichte, war der Kummer einer bleiernen Erschöpfung gewichen. Auf ihrem Weg durch Blue Rose Creek bemerkte sie, dass ihr Tank fast leer war. Sie bog bei einer 24-Stunden-Chevron-Tankstelle ein, die sie kannte und mochte, weil sie sauber und gut beleuchtet war.
Eine Frau konnte sich hier auch nachts sicher fühlen.
Nachdem sie getankt und die Kreditkarte in den Automaten gesteckt hatte, hielt Maggie plötzlich inne.
Das ist merkwürdig.
Ein blauer Chevy Impala mit getönten Scheiben und einer auf der Fahrerseite zerbeulten Stoßstange stand in einer entfernten Ecke des großen Parkplatzes.
Handelte es sich etwa um denselben Wagen, der ihr kurz hinter Culver City aufgefallen war?
Das konnte nicht sein. Sie war nicht ganz richtig im Kopf. Oder nur zu müde. Oder beides. Schreib es einfach diesem schrecklichen Tag zu, sagte sie sich, als sie den Motor anließ und losfuhr.
Wenige Minuten später wartete sie an einer Kreuzung auf grünes Licht und dachte daran, zu Hause ein heißes Bad zu nehmen, um ihre Nerven zu beruhigen. Im Außenspiegel nahm sie wahr, dass ein blauer Impala zwei Wagen hinter ihr in ihre Spur einfädelte.
Was zur Hölle?
Als die Ampel auf Grün wechselte, setzte Maggie rasch den anderen Blinker und bog nach rechts statt nach links ab, wobei sie in den Rückspiegel schaute.
Der Impala bog ebenfalls rechts ein.
Sie wurde verfolgt!
Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Du wirst nicht verfolgt. Vermutlich bedeutet es gar nichts. Bestimmt nur ein Zufall. Zum Beweis bog sie an der nächsten Ecke links ein.
Und schaute in den Rückspiegel.
Der Impala fuhr ebenfalls links.
Maggie bekam Gänsehaut, als ihr alle möglichen Schreckensszenarien durch den Kopf gingen. Sie drückte aufs Gas. Sie kannte das Viertel nicht und fuhr die nächste Straße rechts ab. Der Impala folgte ihr.
Maggie drückte das Gaspedal noch weiter hinunter und blickte Hilfe suchend zu den dunklen Häusern entlang der stillen Straße. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, sah unverwandt in den Rückspiegel.
Als eine scharfe Kurve vor ihr lag, bog Maggie kurzentschlossen in eine leere Auffahrt, und ließ ihren Wagen unter einem dunklen Carport verschwinden.
Sie schaltete Motor und Scheinwerfer aus und nahm den Fuß von der Bremse.
Sie ließ sich tiefer in den Sitz gleiten und spähte zur Straße. Sie sah den Impala vorbeirauschen und seine Rücklichter in der Dunkelheit verschwinden.
Maggie setzte sich auf und legte den Kopf zurück. Sie atmete mehrmals tief durch, während sie sich fragte, was zur Hölle hier eigentlich geschah.
War sie tatsächlich verfolgt worden? Sollte sie vielleicht besser die Polizei benachrichtigen? Sie stellte sich vor, wie das ablaufen würde.
Ach ja, wieder diese Verrückte. Wie können wir Ihnen helfen? Wie war das? Autoräuber? Teenager? Die Fantasien einer verwirrten Frau?
Maggie konzentrierte sich auf die Ziffern ihrer Armbanduhr. Das beruhigte sie etwas. Nachdem fünfzehn Minuten vergangen waren, ließ sie den Motor an und fuhr nach Hause.
Kein Anzeichen von dem Impala.
Sie seufzte erleichtert.
Als sie die Tür aufschloss und ins Haus trat, fühlte sie sich wie benommen.
Schlafen.
Vergiss die Badewanne.
Geh schlafen.
Doch sie bemerkte das rote Blinken an ihrem Anrufbeantworter.
Eine Nachricht.
Sie drückte auf die Play-Taste.
Das Band piepte, bevor es die Nachricht abspielte. Maggie erkannte die Stimme wieder.
“Hier ist Helga, die Freundin von Madame Fatima. Madame hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass sie Informationen über Ihren Sohn hat. Informationen, von denen Sie wissen sollten.”