25. KAPITEL

Schibam, Wadi Hadramaut, Jemen

Ich bin tot.

Samara lag in einem abgedunkelten Raum. Von ihrem Bett aus konnte sie zwei Gestalten erkennen, die sie beobachteten. Die beiden saßen auf Stühlen, und gegen die hellen Sonnenstrahlen, die durch die hölzernen Fensterläden drangen, konnte sie nur ihre Silhouetten ausmachen.

Ist dies die nächste Stufe des Todes?

Die Pein in der Gruft?

Die alten Frauen hatten ihr die Geschichten erzählt – wie nach dem Tod eines Gläubigen und nach dem Abzug der Trauernden zwei Engel erscheinen und den Toten befragen würden, um über seinen Einzug ins Paradies zu entscheiden.

“Wo bin ich?”

“Bei Freunden, die dir helfen wollen.”

“Mir helfen?”

“In dein nächstes Leben.”

Übelkeit erfasste sie, und sie erbrach sich in die Schale neben ihrem Bett.

In ihrem Kopf hämmerte es. Sie war völlig desorientiert und von Beruhigungsmitteln wie benommen.

Aber am Leben.

Ihr Arm hing an einer Infusion, ihr Körper schmerzte, als Erinnerungsfetzen aufflackerten.

Die Banditen, die das Lager überfielen.

Sie hatte sich tagelang unter den Leichen versteckt. Wie die Körper zuckten, als die Geier sich über sie hermachten!

Der Horror in Bagdad – grelle Lichtblitze, bebende Erde.

Wie sie ihren Sohn im Arm trug.

Als sie schließlich wieder bei sich war, bemerkte sie Ampullen auf dem Nachttisch.

“Samara, wir haben in den wenigen Tagen viel über dich erfahren, seit wir dich in der Wüste gefunden haben.” Die Stimme des Mannes klang weich und mitfühlend, während er in ihren Unterlagen las. “Über unsere Kontakte haben wir von dem Unrecht erfahren, das dir widerfahren ist. Wir wissen von der Tragödie, die vor ein paar Monaten in Bagdad geschah und die dich zu deinem Volk zurückbrachte, deinen entfernten Beduinen-Verwandten, denen du helfen wolltest.”

“Wer sind Sie?”

“Deine Brüder.”

“Meine Brüder?”

“Wir wollen dir helfen.”

“Was ist mit den anderen? Hat irgendjemand von den anderen im Lager überlebt? Die Kinder? Die Mütter? Da war ein alter Mann, der versuchte, mir zu helfen.”

“Es gibt nur dich.”

“Oh nein!”

“Bete mit uns, und du wirst verstehen.”

Samara weinte.

“Wie kann ich beten? Mein Glaube ist zerstört.”

“Das wird sich ändern, deine Bestimmung ruft dich.”

“Meine Bestimmung?”

Etwas nahm Gestalt an.

Fünf Monate waren seit dem Tod von Ahmed und Muhammad vergangen. Fünf Monate, seit Samara sich auf die Suche begeben hatte, und hier und jetzt tauchten die Antworten auf, die sie gesucht hatte. Wie die alte Frau ihr vorhergesagt hatte, erwachte etwas in ihr, als erhebe es sich aus der glitzernden Luftspiegelung einer Fata Morgana.

Obwohl anfangs noch zögerlich und unsicher, stimmte Samara bald in das Gebet der Männer ein, die wie so viele andere in ganz Schibam zu den vorgeschriebenen Zeiten am Tag beteten.

Mit ihren roten und orangefarbenen Lehmhäusern, die sich in den engen Gassen drängten und hoch in den Himmel ragten, war Schibam jene Stadt, wo Weihrauchhändler sich einst zu großen Kamelkarawanen zusammengeschlossen hatten, um die Reise auf der alten Gewürzstraße anzutreten.

Es war die Stadt, in der ihre Vorfahren gebetet und die Traditionen geehrt hatten.

In den folgenden Wochen, in denen Samaras Wunden verheilten, erwiesen sich die Schattenmänner als geduldige Lehrer. Tag für Tag brachten sie ihr alles Nötige bei, um ihr Leben jener Aufgabe zu widmen, die ihr nach ihrer Ansicht nach vorherbestimmt sei.

In dieser Zeit zerbrachen Teile von Samara. Sie zerfielen zu Staub und verschwanden in der Wüste.

Samara wurde wiedergeboren.

Fühlte sich in dem verzehrenden und drogengeschwängerten Ansturm von Gebeten und Fanatismus wie verwandelt.

Die Lehrer führten sie zu ihrer wahren Bestimmung.

Sie klärten sie darüber auf, dass ihr Stammbaum über Generationen zurückreichte zu einem alten Beduinenstamm. Dass nach altem Beduinenglauben ein Mensch in Samaras Situation an einem düsteren Brauch festzuhalten habe. Dass die Familie der Ermordeten Vergeltung an den Verantwortlichen üben müsse.

In einem Akt der Blutrache.

“Tief in dir, Samara, dürstet dein Herz nach Vergeltung. Heiße dieses Gefühl willkommen.”

Nach weiteren Tagen unter dem Einfluss von Drogen und Gebeten akzeptierte sie allmählich, dass ihre Wut der Treibstoff für die Tat war, die sie begehen sollte, bis sie eines Tages laut sagte: “Ich hasse sie. Ich hasse sie für das, was sie getan haben.”

Dann stürzten ihre Lehrer sie in einen emotionalen Albtraum, indem sie ihr die Fotografien ihrer geliebten Familie in die Hand drückten. Samaras gebrochenes Herz erwärmte sich, als sie mit den Fingern die geliebten Gesichter liebkoste.

“Als die Ungläubigen Muhammad und Ahmed ermordeten, wechselten dein Mann und dein Sohn nicht ins Paradies über, so wie du es glaubtest.”

Samara blickte ungläubig auf.

“Wo sind sie dann?”

“Sie stehen an der Schwelle zum ewigen Höllenfeuer.”

“Nein.”

“Das Gleiche gilt für deine Mutter und deinen Vater, die in Griechenland starben. Das Gleiche gilt für deine Verwandten, die im Lager abgeschlachtet wurden.”

Samara weinte um die schönen Kinder, ihre liebevollen Mütter, ihre sanften Väter.

“Sie leiden Qualen, weil du noch nicht gehandelt hast. Du bist die einzige Überlebende. Nur du kannst sie erlösen. Wenn du deine Verwandlung abgeschlossen hast und als willige Kriegerin deine Mission erfüllst, Samara, wirst du sie im Paradies wiedersehen.”

Wenn du eine willfährige Kriegerin wirst.

Nach Wochen der medizinischen Genesung und ununterbrochenen Indoktrination akzeptierte Samara schließlich ihre Lehren.

“Was ist meine Mission?”

“Es wäre zu einfach, zu sagen, dass du Leid mit Leid vergelten musst. Doch auf dich, Samara, wartet eine größere Aufgabe, eine von entscheidender Wichtigkeit. Bist du bereit, auch das größte Opfer zu bringen?”

Die Prophezeiung der alten Frau hatte sich bewahrheitet. Samara hatte ihre Antwort in der Wüste gefunden. Sie musste ihre Familie retten, um sie im Paradies wiederzusehen.

Auch wenn es völlige Selbstaufgabe erforderte.

“Ja, ich bin bereit.”