VIER
Nachdem Bryony einen Griff geschnitzt hatte, befestigte sie ihn mit einem gedrehten Darm an der Klinge. Das neue Messer lag so gut in ihrer Hand, als sei es ein Teil davon. In ihrem Zimmer übte sie damit. Sie vollführte alle möglichen Hiebe und Stiche und warf es sogar auf einen mit Heu gefüllten Sack als Zielscheibe. Bald traute sie sich zu, es an einem echten Opfer zu erproben. Doch auf der Jagd war Dorna immer in der Nähe, und Bryony wollte nicht, dass jemand von ihrem Besuch im Haus der Menschen erfuhr, zumindest noch nicht. Sie musste auf eine Gelegenheit warten, bei der sie allein unterwegs war.
Aus dem Herbst wurde Winter, und Dorna ging immer weniger gern nach draußen. Grund war nicht der alte Wermut – der hatte sich ohnehin seit Wochen nicht mehr sehen lassen –, sondern das Wetter. Einmal war es zu kalt zur Jagd, dann wieder zu nass oder zu windig. Der Unterricht fand jetzt überwiegend in der Eiche statt. Dorna brachte Bryony bei, wie man die Felle mit Hilfe des Gehirns der getöteten Tiere gerbte – zweifellos eine wichtige Arbeit, aber auch eine schmutzige, stinkende Angelegenheit und ein dürftiger Ersatz für frische Luft und Freiheit.
Als die ersten Schneeflocken vom Himmel herunterschwebten, verlor Bryony jegliches Interesse am Gerben, an der Herstellung von Talg und an den anderen alltäglichen Beschäftigungen, die sie bei Dorna lernte. Sie war ruhelos und sehnte sich nach einer neuen Herausforderung. In Gedanken beschäftigte sie sich immer öfter mit dem Haus und seinen seltsamen Bewohnern.
Eigentlich gab es für sie, seit sie das Messer hatte, keinen ernsthaften Grund mehr, dorthin zurückzukehren. Trotzdem lockte es sie. Das Haus war so faszinierend anders als die Eiche. Der Anblick der Möbel, Teppiche und Vorhänge hatte ihr eine merkwürdige Befriedigung verschafft und ihren Sinnen geschmeichelt wie eine gut zubereitete Mahlzeit. Und natürlich interessierten sie auch die Menschen, die das Haus so schön eingerichtet hatten.
Warum wusste ihr Volk so wenig über sie? Bevor die große Spaltung den Feen ihre Zauberkraft geraubt hatte, waren sie ständig durch die Welt außerhalb der Eiche gestreift und hatten ihre Beobachtungen aufgeschrieben. In der Bibliothek standen Abhandlungen über alle erdenklichen Geschöpfe, einschließlich der gefährlichsten Räuber. Wie war es nur möglich, dass die Menschen ihrer Aufmerksamkeit entgangen waren?
Es sei denn – die Erkenntnis dämmerte ihr langsam, traf sie dann aber mit voller Wucht –, es gab irgendwo in der Eiche doch Bücher über Menschen und sie waren nur in Vergessenheit geraten.
Einst, zu einer Zeit lange von Bryonys Geburt, hatte in der Bibliothek rege Betriebsamkeit geherrscht. Die abgenutzten Sitze der Stühle um den großen Tisch in der Mitte, die geknickten Buchrücken und die zerlesenen Seiten der Bücher zeugten von einem Lerneifer, von dem jetzt nichts mehr zu spüren war. Die neuesten Bücher hatten auf einem eigenen Gestell ausgelegen – inzwischen lag darauf nur noch Staub, denn niemand schrieb in der Eiche noch Bücher, genauso wenig wie es noch Maler oder Musiker gab. Die kreativen Fähigkeiten der Feen wie auch ihr leidenschaftliches Interesse an den Wissenschaften schienen erloschen.
Da die Eichenbibliothekarin außer für die Bibliothek auch noch für das Archiv und das Vorratslager zuständig war, hatte Bryony schon damit gerechnet, sie nicht an ihrem Schreibtisch anzutreffen. Wahrscheinlich überprüfte sie zusammen mit den Sammlerinnen, ob ihre Aufzeichnungen über die Vorräte für den Winter stimmten. Oder sie putzte die Laternen und anderen alten Zierrat für die Sonnwendfeier. Bryony nahm den kleinen Hammer und schlug damit gegen den Messinggong auf dem Schreibtisch. Ein tiefer, metallischer Ton breitete sich wummernd im Zimmer und im Gang draußen aus.
Kurz darauf erschien Pechnelke. Sie wirkte gehetzt. Über ihre Wange zog sich ein schmutziger Streifen, und ihre Haare waren ungekämmt. »Was willst du?«, fragte sie.
»Ich suche nach Büchern über die Menschen«, sagte Bryony.
Pechnelke musterte sie misstrauisch. »Schickt die Königin dich?«
»Nein. Ich möchte einfach mehr über die Menschen erfahren.«
Die Bibliothekarin wirkte sichtlich erleichtert. Sie trat hinter den Tisch, schlug den Katalog auf und blätterte. »Hm, ich habe einige Bücher in einer eigenen Sammlung«, sagte sie. »Interessierst du dich für ein besonderes Thema?«
»In einer eigenen Sammlung? Warum stehen sie nicht bei den anderen Büchern?«
In Pechnelkes Blick trat etwas Abwägendes, als überlege sie, was sie von Bryonys Frage halten sollte. »Weil sie … etwas Besonderes sind«, antwortete sie. »Und wertvoll. Ich kann sie nicht jedem geben.«
»Ich dachte, es sei deine Aufgabe, anderen Bücher auszuleihen«, sagte Bryony ungeduldig. »Aber wenn du handeln willst, von mir aus. Ich habe ein schönes, frisch gegerbtes Eichhörnchenfell, genau in der richtigen Größe für eine Bettdecke. Das kannst du haben, wenn du willst. Aber dann will ich alle Bücher sehen, die du hast, nicht nur eins oder zwei.«
Pechnelke starrte sie mit aufgerissenen Augen an, sprachlos über das verlockende Angebot – oder auch über Bryonys Dreistigkeit. Sie blickte verstohlen zur Tür. »Also gut … abgemacht. Aber das bleibt unter uns.« Sie führte Bryony in den hinteren Teil der Bibliothek. »Du bist eine Jägerin und hast deshalb vermutlich deine Gründe, warum du etwas über die Menschen wissen willst. Aber die Königin wäre vermutlich nicht erfreut, wenn auf einmal alle Feen solche Bücher lesen wollten.«
Im hinteren Teil der Bibliothek war, fast unsichtbar im Schatten zwischen zwei Regalen, eine schmale Tür in die Wand eingelassen. Pechnelke sperrte sie mit einem Schlüssel auf, der am Schlüsselbund an ihrem Gürtel hing, und ließ Bryony in eine Kammer treten. In der Kammer standen ein Stuhl und ein hohes, mit Büchern überladenes Regal. »Bitte«, sagte sie.
»Welche handeln von Menschen?«, fragte Bryony.
»Alle.« In Pechnelkes Stimme schwang Ungeduld. »Eine Lampe und eine Zunderbüchse findest du auf dem obersten Regalbrett. Mach die Tür zu, wenn du liest, und gib mir Bescheid, wenn du fertig bist. Ich muss wieder ins Vorratslager.« Sie verschwand, und Bryony stand allein vor dem Regal und überlegte, wo sie anfangen sollte.
Es sah so aus, als hätte sie doch noch eine interessante Beschäftigung für den Winter gefunden.
Ab da suchte Bryony die geheime Kammer so oft auf, wie sie konnte. Pechnelke gewöhnte sich an ihre Anwesenheit und ließ ihr sogar ganz selbstverständlich den Schlüssel da. Bis zur Wintersonnenwende hatte Bryony alle Bücher gelesen, einige sogar zweimal.
Sie wusste jetzt, dass die Einstellung der Eichenfeen zu den Menschen sich seit der Entstehungszeit der Bücher dramatisch verändert hatte. Vor der großen Spaltung waren die Feen bestens über die menschlichen Gepflogenheiten informiert gewesen und hatten sich sehr für die Menschen interessiert. Bestimmt waren sie damals mutiger gewesen, weil sie noch zaubern konnten. Trotzdem war Bryony überrascht, dass sich die Bücher mit allen nur denkbaren Aspekten des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft beschäftigten.
Unter anderem erfuhr Bryony, dass Menschen gar nicht zaubern konnten. Die vielen Wunder, die sie im steinernen Haus gesehen hatte, waren lediglich das Werk erfindungsreicher Köpfe und geschickter Hände. Die Menschen fraßen auch keine Feen und jagten sie auch nicht zum Zeitvertreib. Offensichtlich glaubten nur wenige, dass es überhaupt Feen gab. Sie kannten Feen nur aus albernen Märchen. Bryony las die Märchen mit einer Mischung aus Belustigung und Abscheu. Männer brachten Feen darin durch List dazu, sich mit ihnen zu vermählen, oder Feen raubten Kinder der Menschen und schoben ihnen stattdessen hässliche Missgeburten unter. In einer Geschichte stellte eine Fee sogar eine menschliche Hebamme dazu an, ihr bei der Geburt zu helfen – ein absurder Gedanke, wo doch alle wussten, dass Feen aus Eiern schlüpften und dass die Mutter sterben musste, bevor die Tochter geboren werden konnte!
Bryony las auch, dass die Männer und Frauen der Menschen sich manchmal gegenseitige Treue schworen und lebenslang zu einem Paar verbanden. Vielleicht hatten die beiden aus dem steinernen Haus deshalb nicht miteinander gehandelt, sondern sich beieinander bedankt, als sei das ganz normal. Trotzdem verstand Bryony nach wie vor nicht, wie man sich so sehr an eine andere Person binden konnte. Es war doch auf jeden Fall besser, frei zu sein und niemandem etwas zu schulden.
Die Bücher über die Menschen faszinierten Bryony, doch je länger sie las, desto weniger verstand sie, warum die Feen, die sich einst so sehr für die Menschen interessiert hatten, jetzt nichts mehr von ihnen wissen wollten und solche Angst vor ihnen hatten. Was hatte diesen Wandel bewirkt? Hatte die große Spaltung damit zu tun?
Wochenlang blieben die Äste der Eiche braun und kahl. Die Wintervorräte der Feen schrumpften zusehends, und frisches Fleisch war kaum noch aufzutreiben. Bryony saß allabendlich grübelnd über ihren Büchern, bis ihr der Kopf rauchte, doch kam sie einer Antwort auf ihre Frage nicht näher. Sie überlegte, ob sie Pechnelke fragen sollte, aber dann musste sie ihr wahrscheinlich auch von ihrem Besuch im Haus der Menschen erzählen, und sie wusste nicht, ob die ältere Fee das Geheimnis für sich behalten konnte. Eines Tages gab sie den Schlüssel zur Kammer einfach zurück, ohne das Rätsel gelöst zu haben, und beschäftigte sich stattdessen wieder mit den Gewohnheiten der Krähen.
Dann kam endlich der Frühling. Er kündigte sich zuerst durch hier und da verstreute Schneeglöckchen an und dann durch Krokusse, die ihre goldenen und lilafarbenen Köpfe durch das Laub am Fuß der Eiche streckten. Die Tiere krochen aus ihren winterlichen Behausungen, Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Sobald die Sonne schien, eilte auch Bryony nach draußen und streckte wonnevoll die Flügel. Eines Tages schoss sie eine Wühlmaus. Sie häutete sie gerade, da trat Dorna zu ihr.
»Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß«, sagte sie.
Bryony hob überrascht den Kopf. »Was?«
»Ich sagte, ich kann dir nichts mehr beibringen.« Dorna schüttelte sich mit einer heftigen Kopfbewegung die schwarzen Haare aus der Stirn. »Du weißt jetzt genauso viel wie ich, und die Eiche braucht nur eine Jägerin. Meinetwegen kannst du die Arbeit ganz übernehmen.«
Bryony starrte sie sprachlos an. So bald hatte sie nicht damit gerechnet. Dorna ging vielleicht nicht so gern auf die Jagd wie sie selbst und hörte deshalb gern auf, aber sie war eine gründliche und fordernde Lehrerin. Wenn sie glaubte, dass Bryony ausgelernt hatte …
»Du bist eine gute Jägerin«, fuhr Dorna fort. »Obwohl ich deine Begeisterung nicht verstehe. Ich finde es verrückt, wenn man diese schmutzige Arbeit wirklich gern tut. Es würde mich nicht wundern, wenn du einmal im Magen einer Krähe endest. Aber du bist eine bessere Jägerin, als ich je sein werde, deshalb – bitte sehr.« Sie machte das lederne Armband von ihrem Handgelenk los und hielt es Bryony hin.
»Hm«, murmelte Bryony. Der Kopf sauste ihr. Sie nahm das Armband und kam sich auf einmal wieder ganz klein und hilflos vor.
»Ich ziehe noch diese Woche aus der Wohnung der Jägerin aus«, erklärte Dorna. »Ich gebe dir Bescheid, wenn sie frei ist.«
Bryony nickte nur. Sie brachte keinen Ton heraus.
»Die Königin wird dich auch sprechen wollen. Sie wird dich fragen, ob du dir einen neuen Gebrauchsnamen zulegen willst. Ich werde ihr sagen, dass du bei mir ausgelernt hast, und sie wird dich in ein, zwei Tagen zu sich rufen.«
Eine verlegene Pause entstand. Dorna schien auf eine Antwort zu warten. »Also gut«, sagte Bryony schließlich.
Doch Dorna blieb neben ihr stehen. »Weißt du, dass ich fast genau an der Stelle, an der du jetzt sitzt, dein Ei gefunden habe?«, fragte sie unvermittelt.
»Wirklich?«
Dorna fluchte nur, wandte sich abrupt ab, eilte zur Eiche und knallte die Tür hinter sich zu. Bryony sah ihr erschrocken nach. Was war in sie gefahren?
Sie war versucht, ihr nachzulaufen und sie zu fragen. Doch die halb abgezogene Wühlmaus lockte Krähen an, wenn sie sie zu lange liegen ließ. Also griff sie mit einem Seufzer wieder nach ihrem Feuerstein. Dorna kam gut allein zurecht. Und sie selbst war jetzt die Jägerin Ihrer Majestät und hatte zu tun.
Die Mondsichel schien bleich vom wolkenverhangenen Himmel, und Nebel lag über der Eichenwelt. Bryony schlüpfte aus ihrem Fenster und sprang auf den Boden. Sie spürte das Gras nass und kalt unter den Füßen und schnitt eine Grimasse. Keine schöne Nacht zum Draußensein. Aber im Menschenhaus taten sich seltsame Dinge, und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich dort ein wenig umzusehen.
Aus reiner Neugier hätte sie der Versuchung nicht nachgegeben. Doch sie hatte trotz ihrer vielen Bücher noch keine Antwort auf die Frage, was zwischen ihrem Volk und den Menschen Schlimmes vorgefallen war, und nur ein erneuter Besuch im Haus schien weiteren Aufschluss darüber bringen zu können. Was immer den Eichenfeen solche Angst vor den Menschen gemacht hatte, es hatte sich zeitgleich mit den anderen Unglücksfällen ereignet – dem Verlust ihrer Zauberkraft und ihrer schöpferischen Fähigkeiten und, besonders schlimm, dem Ausbruch der tödlichen Schweigekrankheit. Bestand zwischen all dem ein Zusammenhang?
Keine leichte Frage. Bryony rechnete auch nicht wirklich damit, dass sie an diesem Abend eine Antwort bekommen würde. Aber vielleicht konnte sie etwas anderes klären: Warum waren die Menschen so spät noch auf? Sie hatten um die übliche Zeit das Licht gelöscht und sich schlafen gelegt, aber jetzt war das Haus wieder hell erleuchtet und hinter den Fenstern bewegten sich Schatten. Etwas Wichtiges musste sie geweckt haben – doch was?
Bryony landete auf der gepflasterten Veranda, lief geduckt zur Tür und spähte hindurch. Zu ihrer Überraschung saß die Menschenfrau – Beatrice – in ihrem Morgenmantel auf dem Sofa. Ihre Augen sahen verheult aus, ihre Wangen tränennass. Neben ihr stand barfuß und mit verstrubbelten Haaren ihr Partner und sprach in einen seltsam geformten Gegenstand in seiner Hand.
»… kann man noch nicht sagen, verstehe. Wann können wir ihn sehen?«
Es entstand eine lange Pause.
»Aha. Ja, gut. Auf Wiederhören.« Der Mann legte den Gegenstand auf eine Art Gabel. Er war aschfahl im Gesicht. Einen Augenblick lang starrte er die Wand an, dann wandte er sich seiner Frau zu. »Es scheint … sehr ernst zu sein. Wir sollen … sie meinen, wir sollen lieber gleich kommen.«
Beatrice machte einen erstickten Laut, und ihre Schultern begannen zu zucken. Der Mann sah hilflos auf sie hinunter. Dann nahm er sie in die Arme und hielt sie fest, während sie weinte. Bryony sah ihnen zu. Ihr Gefühlsausbruch verwirrte sie. Endlich lösten sich die beiden wieder voneinander. Sie verließen das Zimmer und löschten dabei das Licht. Kurz darauf hörte Bryony die Haustür ins Schloss fallen. Etwas begann zu brummen, und der Kies knirschte. Die beiden Menschen hatten das Haus verlassen.
Stirnrunzelnd kehrte Bryony zur Eiche zurück. Was hatte die Menschen so aus der Fassung gebracht? Einem »ihm«, also wahrscheinlich ihrem Sohn Paul, war etwas Schlimmes zugestoßen – aber das Unglück hatte sich schon ereignet, weshalb also der überstürzte Aufbruch mitten in der Nacht? Rückgängig machen konnten sie es nicht.
Bryony dachte immer noch über das seltsame Verhalten der Menschen nach, da spürte sie einen Luftzug und ein vertrauter muffiger Gestank stieg ihr in die Nase. Sie wirbelte herum und griff nach dem Messer in ihrem Gürtel. Er ist zurückgekehrt, dachte sie – mehr Zeit blieb ihr nicht. Die Krähe stieß von oben auf sie herab und warf sie um. Bryony rollte über den Boden und sprang gerade noch rechtzeitig wieder auf, bevor die Krähe sie am Boden festnageln konnte. Sie riss das Messer aus der Scheide und stürzte sich auf den Gegner.
Die Krähe schnappte mit dem Schnabel nach ihr, doch Bryony duckte sich im letzten Moment. Sie flog so tief unter ihrem ausgestreckten Flügel hindurch, dass das nasse Gras sie an der Brust streifte. Dann wendete sie und schlitzte der Krähe beide Beine von hinten auf.
Die Krähe kreischte und schwankte und schlug mit ihren struppigen Flügeln auf den Boden ein. Bryony wusste, dass sie sie schwer verletzt hatte. Die Krähe richtete sich auf und schwang sich krächzend in die Luft. Verunsichert betrachtete Bryony den schwarzen Schatten, der vor ihr aufstieg. Trat die Krähe schon den Rückzug an? Sollte sie die Verfolgung aufnehmen?
Sie sprang auf und setzte ihr mit wütend surrenden Flügeln nach. Im nächsten Augenblick hatte sie sie überholt. Sie hielt an. In der Luft schwebend wartete sie darauf, was die Krähe als Nächstes tun würde.
Sie brauchte nicht lange zu warten. Mit einem bösen Funkeln in den Augen ging die Krähe auf sie los, und Bryony musste ihrerseits fliehen. Doch nicht einmal jetzt verspürte sie Angst. Eine kerngesunde Krähe war ein schneller und höchst gefährlicher Gegner, doch diese hier war verwundet und konnte nur noch mit Mühe mit ihr mithalten.
Bryony flog über den Hof und in den Schatten der Eiche. Mühelos schlängelte sie sich zwischen den ausladenden Ästen hindurch. Unmittelbar vor dem Stamm bog sie plötzlich zur Seite ab, und die vor Schmerzen und Wut besinnungslose Krähe prallte mit voller Wucht gegen die Rinde. Bryony hörte ein hässliches Knirschen, ein rutschendes Geräusch und zuletzt einen dumpfen Plumps. Dann nichts mehr.
Das oberste Fenster der Eiche flog auf und ein goldener Lichtstrahl fiel durch die Nacht. Bryony sah Königin Amaryllis schönes Gesicht und hob grüßend die Hand. Dann flog sie in einem Bogen zurück, um nachzusehen, was aus ihrem Gegner geworden war.
Jetzt, nach dem eigentlichen Kampf, war sie fast ein wenig enttäuscht, dass es sich bei der Krähe, die verrenkt an einem unteren Ast der Eiche hing, nicht um den alten Wermut handelte, sondern um eine kleinere Krähe. Sie war noch jung und unerfahren gewesen, kein Wunder also, dass Bryony sie so schnell hatte besiegen können. Mit gezücktem Messer landete sie neben ihr, bereit zuzustechen, sobald der Vogel sich bewegte. Doch ihre Vorsicht war überflüssig. Die Augen der Krähe blickten glasig ins Leere, und ihre Flügel hingen wie zwei schlaffe Lumpen nach unten. Bryony stieß sie vorsichtig mit dem Bein an und sprang rasch zurück. Die Krähe rutschte vom Ast und fiel auf den Boden hinunter. Sie war tot.
Erst jetzt merkte Bryony, dass sie am Arm blutete. Ihr wurde schwindlig, und sie sank auf die Knie. Aus dem Fenster über ihr beugte sich Hasenglöckchen. »Bei der gnädigen Gärtnerin! Ist das etwa Bryony?«
»Geh und hol sie«, sagte die Stimme von Königin Amaryllis. »Bring sie zu mir.«
Im nächsten Augenblick spürte Bryony, wie jemand sie aufrichtete und auf die Füße stellte. »Puh!«, sagte Hasenglöckchen und ließ sie hastig wieder los. »Die stinkt vielleicht.«
Das stimmte leider. Die Krähen waren schmutzige Vögel, und Bryony hatte sich nicht nur mit ihrem eigenen Blut beschmiert. Sie drehte den Kopf, stellte im selben Moment fest, dass ihr der Hals schrecklich wehtat, und sah Hasenglöckchen an. Die Kammerdienerin betrachtete sie misstrauisch, fast schon ängstlich.
»Augenblick«, rief die Königin von oben. »Was für eine Waffe hat Bryony da?«
Hasenglöckchen beugte sich über das Messer, das Bryony noch umklammerte. »Ein seltsam geformtes Messer, Majestät. Es scheint aus Metall zu bestehen.«
»Metall? Was für ein Metall?«
Die Kammerdienerin berührte die Klinge vorsichtig und rümpfte angewidert die Nase. »Stahl, Majestät. Meiner Einschätzung nach ungefährlich.«
»Bring mir auch das Messer«, sagte die Königin. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Aber Bryony soll zuerst baden.« Sie zog ihren Kopf zurück und schloss das Fenster.
»Du hast Ihre Majestät gehört«, sagte Hasenglöckchen. »Komm.«
Einige Zeit später stieg Bryony hinter Hasenglöckchen das letzte Stück der Wendeltreppe zu den Gemächern der Königin hinauf. Sie trug den saubersten Kittel und die sauberste Kniehose, die sie auf die Schnelle hatte finden können. Ihr Arm war vom Handgelenk bis zum Ellbogen bandagiert.
Hasenglöckchen ging mit einer Laterne in der Hand den Gang entlang, und Bryony blickte verstohlen in die Zimmer, an denen sie vorbeikamen. Auf ein kleines Audienzzimmer mit einem scharlachroten Vorhang folgte ein privates Bad mit Armaturen aus poliertem Stein und einem Spiegel, der noch größer war als der von Winka. Das letzte und interessanteste Zimmer war eine Bibliothek. Überall lagen aufgeschlagene Bücher und mit Notizen bedeckte Blätter, als sei die Königin mitten in einer wichtigen Arbeit unterbrochen worden. Nach der Bibliothek kam nur noch eine Tür, und die war zu. Hasenglöckchen blieb davor stehen und betätigte respektvoll den Messingklopfer.
»Herein«, rief die Stimme der Königin von innen.
Hasenglöckchen öffnete die Tür. »Bryony ist hier, Majestät.«
»Gut. Du kannst gehen.«
Die Kammerdienerin verbeugte sich und ging. Bryony blieb in der Tür stehen. Neugierig sah sie sich um. Das Zimmer erinnerte sie an das Haus der Menschen, doch waren die Möbel älter und auch schon ein wenig abgenutzt. Neben einem breiten Bett mit vier Pfosten standen ein Tisch und zwei kunstvoll bestickte Polsterstühle. Durch das Fenster, das doppelt so groß war wie die anderen Fenster der Eiche, hätte man direkt auf das Haus blicken können. Jetzt war es allerdings geschlossen, und die Vorhänge waren zugezogen.
An der gegenüberliegenden Wand stand ein Frisiertisch mit einem großen ovalen Spiegel. An ihm saß Amaryllis und kämmte sich die Haare. Sie blickte nicht auf, als Bryony nähertrat und einen Hofknicks machte, sondern kämmte sich in Ruhe zu Ende. Dann legte sie den Kamm weg, raffte ihren Morgenmantel um sich und drehte sich mit einer anmutigen Bewegung um.
»Was sollte das eben?«, fragte sie.
Bryony erwiderte den Blick ihrer blauen Augen. »Ich musste eine Krähe töten, Majestät.«
»Was dir ja geglückt ist. Aber was hattest du so spät noch draußen zu suchen?«
Bryony öffnete den Mund und schloss ihn wieder und wurde rot. Wie sollte sie das erklären, ohne zuzugeben, dass sie das Haus besucht hatte? »Ich wollte unser Volk von einem gefährlichen Feind befreien, Majestät«, sagte sie schließlich. »Und … ich wollte mein neues Messer ausprobieren.«
»Ach ja.« Amaryllis streckte die Hand aus. »Ich will dieses Messer sehen.«
Bryony zog es aus der Scheide und hielt es der Königin hin. Die Königin nahm es mit ihren langen, weißen Händen. »Es scheint seinen Zweck zu erfüllen«, meinte sie trocken. Sie hielt die scharfe Schneide ins Licht. »Woher hast du es?«
Bryony biss sich auf die Lippe. Was sollte sie darauf antworten?
»Ich habe dich etwas gefragt«, sagte die Königin. Sie klang freundlich, aber ihre schimmernden Flügel hoben und streckten sich, eine wortlose Erinnerung an ihre magischen Kräfte.
»Ich habe es gestohlen«, sagte Bryony. »Aus dem Haus.«
»In dem die Menschen wohnen?«
»Ja.«
»Willst du meinen Befehlen denn nicht gehorchen und immer wieder dein Leben riskieren?«
Bryony straffte die Schultern. »Majestät, für den Kampf gegen die Krähen brauchte ich eine bessere Waffe, und mir fiel keine andere Möglichkeit ein, an eine zu kommen. Ja, ich habe damals mein Leben aufs Spiel gesetzt und heute Abend wieder, und ich werde es weiter tun, solange Ihr mich als Eure Jägerin beschäftigt, denn zu jagen ist meine Pflicht.«
Die Königin schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Du bist ungehorsam, aber auch tapfer. Ich kenne keine andere Jägerin, die je eine Krähe getötet hätte. Also gut, ich verzeihe dir – diesmal. Doch nimm dich in Acht, Kind. Den Menschen bist du nicht gewachsen, und ich will nicht, dass du ihr Haus noch einmal betrittst. Hast du mich verstanden?«
»Jawohl, Majestät.«
»Gut.« Amaryllis legte die Flügel zusammen und wandte sich wieder dem Spiegel zu. Das Messer legte sie auf den Frisiertisch. »Wie soll ich dich für deine Tapferkeit belohnen?«
Bryony machte sich so groß wie möglich. »Majestät … ich würde gern meinen Namen ändern.«
»Mehr nicht?«, fragte die Königin. »Du weißt, dass dir das jederzeit zusteht. Du kannst dir morgen, wenn ich dich offiziell als meine neue Jägerin bestätige, einen neuen Gebrauchsnamen aussuchen.«
»Aber Ihr würdet mir nicht jeden Namen erlauben«, sagte Bryony. »Nicht den, den ich eigentlich will.« Sie zeigte auf die Klinge des Messers auf dem Tisch.
Die Königin lehnte sich zurück und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen Bryonys Spiegelbild. »Verstehe ich dich richtig? Keine Angehörige deines Volkes hat diesen Namen je getragen.«
»Ich weiß.«
»Du willst unbedingt anders sein, ja?«, murmelte die Königin. »Also meinetwegen«, fuhr sie lauter fort. »Morgen werde ich den anderen den von dir gewählten Namen bekanntgeben. Solltest du allerdings im Kampf sterben, geht der Name nicht an deine Eitochter über.«
»In Ordnung«, sagte Bryony. »Das wollte ich sowieso nicht. Kann ich jetzt gehen, Majestät? Ich bin … furchtbar müde.«
»Bitte sehr.« Die Königin nahm das Messer, drehte sich um und hielt es ihr mit dem Griff voraus hin. »Hier bekommst du dein Messer wieder. Und falls dich jemand fragen sollte, woher du es hast, sag einfach, ich hätte es dir geschenkt.«
Mit dieser Notlüge konnte Bryony die Neugier der anderen Feen befriedigen und dem Verdacht vorbeugen, sie hätte das Haus der Menschen besucht. Bryony sah Amaryllis an und verspürte unwillkürlich tiefen Respekt. Kein Wunder, dass Amaryllis die Königin war. »Das werde ich«, sagte sie und nahm das Messer vorsichtig.
Amaryllis nickte. »Dann kannst du gehen.«
Bryony knickste und entfernte sich rückwärts. Hasenglöckchen wartete im Gang auf sie. Als sie das Messer in Bryonys Hand sah, schnalzte sie missbilligend mit der Zunge. »Also wirklich, Bryony …«
»Nein.«
»Nein? Wie ›nein‹?«
»Ab jetzt heiße ich Klinge«, sagte Bryony entschieden.