NEUN
»Ich habe eine bessere Schachtel für dich«, sagte Paul, als er mit nassen Haaren und frischen Kleidern aus dem Bad zurückkehrte. »Und meine Mutter ist draußen im Garten, wir brauchen also nicht zu befürchten, dass sie uns hört.« Er ließ die Schachtel auf den Tisch fallen und zog die Schublade auf. »Wo habe ich mein Messer hingelegt?«
Klinge schluckte den letzten Bissen Toast hinunter. »Dein … was?«
»Mann«, rief Paul verärgert. »Bestimmt hat mein Vater es wieder geklaut.« Er schob die Schublade zu. »Ich habe ihm an Weihnachten vor zwei Jahren einen schönen Brieföffner geschenkt, aber mein Bastelmesser landet trotzdem immer wieder in seinem Arbeitszimmer.« Er öffnete die Hand. Auf ihr lag ein kleiner, durchsichtiger Behälter. »Ich habe nur diese Messerchen, aber die nützen mir wenig ohne …«
»Oh«, sagte Klinge und starrte auf den Behälter in seiner Hand. In ihm befanden sich mindestens fünf Metallspitzen wie die, die sie gestohlen hatte. Bestimmt konnte Paul ihr eine abgeben. Nur was konnte sie ihm dafür anbieten?
»Was ist?«
»Ach … du hast so viele davon.«
Paul betrachtete den Behälter ratlos. »Stimmt, da sind einige drin, aber viel wert sind sie nicht.«
Nicht viel wert? Von wegen, dachte Klinge. Aber wenn die Messerchen ihm wirklich nicht so viel bedeuteten, konnte sie ihm vielleicht eins davon abhandeln. Er durfte nur nicht zu viel nachfragen, wofür sie es brauchte …
Der Wunsch stand ihr offenbar deutlich ins Gesicht geschrieben. Paul sah sie nur kurz an, öffnete den Behälter mit dem Daumen und schüttete die Messerchen auf die Tischplatte. »Bedien dich«, sagte er.
Klinge beugte sich eifrig vor und nahm eins – doch im selben Moment wurde ihr klar, wie töricht sie sich benahm. »Nein, das geht ja nicht«, sagte sie. In ihrem Hals schien eine Nuss festzusitzen. »Ich kann dir nichts dafür geben.«
»Na und?«, sagte Paul. »Das macht nichts. Wie du schon sagtest, ich habe genug davon.«
Seine Großzügigkeit und ihre Gewissensbisse wurden auf einmal übermächtig. »Aber ich habe dir schon eins geklaut«, stotterte sie. »Mein erstes Messer, das ich verloren habe – ich habe es aus dem Arbeitszimmer deines Vaters genommen. Und ich kann es nicht einmal bezahlen.« Sie sah auf das glänzende Metall in ihrer Hand hinunter. »Und das auch nicht.«
»Das mit dem Bezahlen ist dir ja ganz wichtig«, sagte Paul. Er klang verwirrt, aber zu Klinges Erleichterung nicht wütend. »Geben sich Feen eigentlich auch manchmal einfach so etwas?«
»Die Königin verteilt jedes Jahr zur Sonnwendfeier einige Geschenke«, sagte Klinge. »Aber nur an Feen, die es verdient haben.«
»Ich meinte keine Belohnung, sondern ein echtes Geschenk.« Paul beugte sich vor. »Das da« – er berührte das Messerchen vorsichtig mit dem Finger – »ist ein Geschenk von mir an dich. Du schuldest mir dafür nichts, jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Du brauchst es nur anzunehmen. Okay?«
»Ich … ja«, sagte Klinge.
»Gut.« Paul lehnte sich zurück. »Dann ist das abgemacht.«
»Aber das erste Messer habe ich geklaut …«
Paul nickte »Das hast du ja gesagt. Aber wenn ich mich darüber aufregen soll, musst du nächstes Mal etwas wirklich Wertvolles klauen.«
Er machte sich über sie lustig, dachte Klinge. Aber sie war nicht beleidigt. »Ich werde es mir merken«, sagte sie und steckte ihr neues Messer – ihr Geschenk – in die Scheide.
Später saß Klinge mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch und betrachtete das Buch, das geöffnet vor ihr lag. Paul hatte recht gehabt: Die Feen des Malers Alfred Wrenfield ähnelten den Eichenfeen tatsächlich sehr, zumindest die weiblichen. Doch je weiter sie blätterte, desto seltsamer und wirrer wurden die Bilder. Die Feen sahen immer wilder und grausamer aus und waren in immer größeren Mengen abgebildet. Zuletzt konnte Klinge ihren Anblick kaum noch ertragen.
»Was wurde aus dem Maler?«, fragte sie.
»Zuerst ging es ihm gut«, antwortete Paul, der hinter ihr saß. »Feenbilder waren damals absolut angesagt. Aber nach einer Weile wurden seine Bilder so bizarr, dass niemand sie mehr kaufen wollte. Ab da ging es mit ihm rasch bergab. Zuletzt wurde er sogar von seiner Familie verstoßen. Er starb an einer Überdosis …«
»Paul, Schatz«, Beatrice’ Stimme erklang gedämpft hinter der Tür. »Kannst du das Radio einen Moment leiser stellen? Ich muss mit dir reden.«
Klinge duckte sich hastig hinter einen Stapel Bücher und Paul rollte hinter seinem Schreibtisch hervor und zur Tür. Als er sie öffnete, war sein Gesicht wieder zu einer gleichgültigen Maske erstarrt. Seine Mutter tat Klinge nicht zum ersten Mal leid.
»Dein Vater hat gerade angerufen«, sagte Beatrice und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Sein Zug fährt nicht. Es hat einen Gleisunfall gegeben, und man weiß nicht, wann die Unfallstelle geräumt ist. Deshalb hat er mich gebeten, ihn in der Stadt abzuholen. Ich habe dir belegte Brote zum Abendessen hingestellt. Die Nummer des häuslichen Pflegedienstes liegt am Telefon. Nur falls du Hilfe brauchst.«
Paul schwieg. Seine Mutter räusperte sich nervös.
»Wir kommen zurück, so schnell wir können. Kommst du … klar?«
Paul zuckte kaum merklich mit den Schultern, doch offenbar genügte Beatrice das als Antwort. Sie beugte sich über ihn, berührte seine Wange mit den Lippen und eilte aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte Klinge die Haustür auf und zu gehen. Dann kehrte wieder Stille ein.
»Sieht aus, als hätten wir das Haus heute Abend für uns«, sagte Paul. Er drehte sich mit seinem Stuhl zu Klinge um. »Hast du Lust auf eine Tasse Tee?«
Als Tasse bekam Klinge einen Fingerhut aus Porzellan. Der Tee war schwarz und schmeckte bitter, doch Klinge kam sich damit auf ihrem Platz neben Paul im prächtigen Wohnzimmer des Hauses wie ein Ehrengast vor. Während sie trank, betrachtete sie die Porträtfotos an der Wand gegenüber: George und Beatrice an ihrem Hochzeitstag, beide schüchtern und noch sehr jung, Paul als kleiner Junge mit Wuschelkopf und Zahnlücke und ein neueres Bild der ganzen Familie. Beatrice und ihr Mann saßen im Hintergrund, Paul lehnte an ihren Knien. Sein Gesicht strahlte ein unerschütterliches Selbstvertrauen aus. Dahinter sah Klinge einen beleuchteten Baum. Das Bild musste um die Wintersonnenwende herum entstanden sein, erst vor wenigen Monaten.
»Wer hat die gemalt?«, fragte sie Paul. »Sie sehen so echt aus.«
»Du meinst die Fotos? Das sind keine Gemälde, sondern … eine Art Bilder, die man mit Licht herstellt. Man sieht durch einen Kasten mit einer Linse und drückt auf einen Knopf. Dann macht der Kasten ein Bild von dem, was man sieht. Mehr oder weniger.«
Für Klinge klang das nach Zauberei. »Gibt es noch mehr solche Bilder?«, fragte sie.
»Schon, aber für Außenstehende sind sie ziemlich langweilig.« Paul fuhr zu einem Wandschränkchen und kehrte mit einem dicken Ringbuch zurück. Er schlug es auf, und Klinge sprang auf die Armlehne seines Stuhls und kletterte auf seine Schulter. Dann beugte sie sich vor, um die Bilder unter ihr besser sehen zu können.
»Lauter dumme Babybilder«, sagte Paul und überblätterte rasch den ersten Teil. »Das bin ich an meinem ersten Schultag. Und hier male ich Geoffrey Fisher einen Schnurrbart an – er war damals mein bester Freund.«
»Was ist ein bester Freund?«, fragte Klinge.
Paul sah sie verdutzt an. »Das weißt du nicht?«
Klinge fühlte sich angegriffen. »Feen tun so was nicht«, sagte sie.
»Was tut ihr dann?«
»Wir arbeiten zusammen, wenn wir müssen, und geben einander Anweisungen und so weiter. Aber wenn die Arbeit getan und alles gesagt ist …« Klinge zuckte mit den Schultern. »Was soll man dann noch miteinander?«
»Also ein bester Freund ist jemand, mit dem man gern zusammen ist«, sagte Paul leise. »Jemand, mit dem man über alles reden kann und auf dessen Hilfe man sich verlassen kann, wenn man sie braucht. Du hast wirklich keine beste Freundin?«
»Nein«, antwortete Klinge. Er auch nicht, vermutete sie – oder wenigstens nicht mehr. Wenn er einen besten oder überhaupt – einen Freund hätte, würde er sich nicht vor seinen Eltern und der ganzen Welt in seinem Zimmer verstecken.
»Ist das bei allen Feen so?«
Klinge nickte. Obwohl es vielleicht einmal anders gewesen war – aber dazu musste sie erst Heides Tagebuch weiterlesen.
Kopfschüttelnd blätterte Paul eine Seite um.
»Was ist das?« Klinge zeigte auf das Foto eines viel kleineren Paul, der neben einem Gemälde mit einer winterlichen Landschaft stand.
»Das Bild? Damit habe ich an einem Wettbewerb teilgenommen, als ich neun war. Es hat den ersten Preis gewonnen.«
»Konntest du immer so gut malen?«, fragte Klinge.
»Nicht von Anfang an. Ich habe immer gern gemalt, aber hauptsächlich Kritzeleien wie andere kleine Kinder auch. Mit acht habe ich dann plötzlich angefangen, alles Mögliche abzumalen. Meine Eltern wussten zuerst nicht, was sie davon halten sollten, aber meine Lehrer waren begeistert. Wahrscheinlich sahen sie in mir schon den nächsten Alfred Wrenfield, nur ohne die verrückte letzte Phase. Es war damals auch tatsächlich mein größter Wunsch, ein berühmter Maler zu werden.«
Paul klang abwesend, als hätte er diesen Kindertraum längst begraben. Klinge runzelte die Stirn. Warum malte er dann immer noch?
»Egal«, sagte Paul, »schauen wir uns die Fotos weiter an …«
Er hielt inne, und Klinge spürte, wie sich alles in ihm anspannte. »Was ist?«, fragte sie.
Er antwortete nicht. Unten auf der Seite saß ein hellblonder Junge in einem schmalen Ruderboot. Seine Zähne leuchteten weiß und er warf jubelnd die Arme in die Luft. Doch Klinge war nur ein kurzer Blick auf das Foto vergönnt. Blitzschnell schlug Paul mit der Hand darauf und riss es heraus.
Klinge zuckte instinktiv zurück, verlor das Gleichgewicht und rutschte von Pauls Schulter. Mit einem erstickten Schrei fiel sie hinunter, prallte gegen die Kante des Sofas und schlug auf dem Teppich auf.
Einen Moment lang blieb sie benommen und wie gelähmt liegen. Paul hatte die Faust um das Foto geschlossen und starrte in die Ferne. Offenbar hatte er nicht gemerkt, dass sie gestürzt war. Sie holte tief Luft. Es klang wie ein Schluchzen. »Paul!«
Paul verzerrte wütend das Gesicht. Mit einer heftigen Handbewegung stieß er das Fotobuch vom Schoß. Klinge hob schützend die Arme über den Kopf. Das Buch landete krachend neben ihr, und Seiten und Fotos flogen in alle Richtungen.
Als sie nach einer Weile vorsichtig aufblickte, war Paul verschwunden. An ihrem schmerzenden Knöchel spürte sie das Gewicht des Buchdeckels. Das Buch hat mich getroffen, dachte sie wie betäubt. Empörung breitete sich in ihr aus. Paul hat es nach mir geworfen.
Für Geschäfte von Feen untereinander galten feste Regeln, unabhängig davon, ob Zauberei bei ihrem Zustandekommen eine Rolle spielte. Wenn eine Partei die andere schlug, und sei es auch nur versehentlich, war die andere Partei aller Verpflichtungen ihr gegenüber ledig. Bisher hatte Klinge in Pauls Schuld gestanden, auch wenn er von Geschenken gesprochen hatte. Jetzt schuldete sie ihm nichts mehr.
Ihre Wut verlieh ihr neue Kraft. Sie kroch zwischen den Trümmern des Fotoalbums hervor und schlich hinkend über den Teppich zum Gang.
»Ich finde keine Schere!«, schrie Paul in der Küche. Schranktüren und Schubladen knallten zu. »Kein Messer, keine Streichhölzer, nichts!« Eine Pause folgte, dann sagte er leise, aber hasserfüllt: »Ach guck mal, das ist ja rührend. Sie hat die Sachen, mit denen man sich wehtun kann, alle nach oben geschafft, damit ihr kleiner Krüppel nicht drankommt.«
Klinge ging mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Alle Fenster auf dieser Seite des Hauses waren geschlossen. Sie ging schneller, in Richtung Wohnzimmer. Aus der Küche kam wieder Lärm. Sie warf einen Blick über die Schulter, konnte vor lauter Krach aber keinen klaren Gedanken fassen. »Aufhören!«, brüllte sie zur Küche hin.
Ein Kochtopf flog scheppernd über die Fliesen. »Sei du still!«, brüllte Paul zurück.
Klinge rannte zur Terassentür im Wohnzimmer und zog daran. Dann packte sie entschlossen den Vorhang neben der Tür und hangelte sich daran hinauf. Sie hatte die Türklinke fast erreicht, da hörte sie Pauls Stimme hinter sich.
»Was machst du da?«
Sie kletterte das letzte Stück hinauf, packte die Klinke mit beiden Händen und hängte sich daran. »Ich will … die Tür … öffnen.«
»Sie ist abgeschlossen.«
»Macht nichts.« Klinge rutschte die Gardine hinunter und drehte sich zu ihm um. »Ich finde schon einen anderen Ausgang.«
Paul sah auf sie hinunter. Sein Gesicht war traurig, aber nicht mehr wütend. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte er. »Ich … ich hatte das Bild im Fotoalbum ganz vergessen.«
»Ist mir egal! Ich will nichts mehr davon hören! Lass mich einfach raus!« Klinge rannte an ihm vorbei in die Küche, sprang flügelschlagend hoch und wollte zum Fenster über der Spüle hinauffliegen. Aus den Augenwinkeln sah sie Vermeer in die Küche schleichen. Der Kater setzte sich und beobachtete sie. Sie sprang unermüdlich weiter hoch und fiel auf den Boden zurück, bis sie in ihrer Hilflosigkeit fast schluchzte.
»Hör auf, Klinge«, sagte Paul. »Bitte.«
»Ich dachte, ich könnte dir vertrauen.« Die Worte brachen aus ihr heraus, und Klinge merkte beim Sprechen, dass sie stimmten. Sie hatte keine Angst mehr vor Paul gehabt und sich nicht mehr als seine Gefangene gefühlt. Auch der Gedanke an Flucht war in die Ferne gerückt. Was war in sie gefahren, dass sie geglaubt hatte, sie könnte mit einem Menschen befreundet sein?
Jetzt wusste sie es besser.
»Aber das kannst du doch«, sagte Paul bittend. »Ich weiß, ich habe dir Angst gemacht, aber das wollte ich nicht.«
»Du hättest mich beinahe umgebracht!«
Er wurde ganz blass. »Aber du … du hast auf meiner Schulter gesessen. Du bist hinuntergesprungen …«
»Ich bin hinuntergefallen. Und dann hast du auch noch das Buch nach mir geworfen!«
Paul starrte sie vollkommen verzweifelt an. »Du hast recht«, sagte er schließlich. »Ich lasse dich gehen. Morgen.«
Klinge hob trotzig das Kinn. »Heute.«
»Nein. Es ist schon fast dunkel und zu gefährlich. Bleib noch bis morgen. Bitte.«
»Aber dann gehe ich. Nur falls du glaubst, ich würde meine Meinung noch ändern.«
»Das glaube ich nicht.«
»Und ich werde mich nicht mit dir unterhalten. Auch nicht über Kunst.«
»Nein.« Er sah sie flehend an, und sie fügte sich widerstrebend.
»Also gut«, sagte sie.
Paul atmete erleichtert aus. »Ich danke dir.«
»Untersteh dich!«, brauste sie auf. Nach dem, was er ihr angetan hatte – wie konnte er etwas so Kostbares in den Schmutz ziehen und die geheiligten Worte aussprechen, als bedeuteten sie nichts?
Doch Klinge würdigte ihn keiner Antwort, sondern marschierte an ihm vorbei aus der Küche. Sie spürte seinen Blick im Rücken, drehte sich aber erst um, als sie schon fast am Schlafzimmer angekommen war.
Da hatte er sich bereits abgewandt und den Kopf gesenkt. Langsam öffnete er die Hand. In ihr lag noch immer das Foto, das er aus dem Album gerissen hatte. Behutsam strich er es auf seinem Schoß glatt und betrachtete den kleinen Jungen, der er gewesen war. Klinges Wut schlug in Verwirrung um. Was war ausgerechnet an diesem Bild so besonders?
Aber nein. Sie wollte nicht mehr an Paul denken. Morgen würde sie zur Eiche zurückkehren, den Dienst als Jägerin quittieren und sich auf die Arbeit stürzen, die sie von der Königin zugewiesen bekam. Dann hatte sie gar keine Zeit mehr, an die Menschen zu denken.
Vielleicht spürte sie dann auch Paul McCormicks tiefen Kummer nicht mehr wie ihren eigenen.