ELF
Klinge setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die Matratze und wartete. Paul verknotete die Finger ineinander und räusperte sich.
»Ich habe dir ja erzählt, dass ich als Kind gemalt habe und das auch gut konnte. Sogar mehr als gut – manche sprachen schon von Genie und Wunderkind. Aber nach einigen Jahren … ging auf einmal nichts mehr. Ich malte zwar noch, aber nur ganz gewöhnliche Bilder, ohne Leben. Ich war nichts Besonderes mehr.
Darüber war ich sehr unglücklich. Meine Eltern merkten es, aber ich konnte es ihnen nicht erklären. Wie auch, ich verstand es ja selbst nicht? Sie kamen zu dem Schluss, der Kunstunterricht an meiner Schule sei daran schuld, und schickten mich auf ein Internat. Keine schlechte Schule übrigens, auch wenn ich mich zuerst daran gewöhnen musste. Meine Bilder wurden nicht besser, aber ich freundete mich mit einigen Mitschülern an, und sie weckten mein Interesse für etwas ganz anderes – das Rudern.«
»Rudern?«, fragte Klinge, doch Paul schien sie nicht zu hören.
»Ich hatte bis dahin mit Sport nicht viel am Hut gehabt, aber als ich die Ruder in den Händen hielt, wusste ich sofort: das war es. Ich ließ alles andere stehen und liegen und stürzte mich in das Training. Am Ende des Jahres gewann ich erste Wettkämpfe.« Die Erinnerung belebte sein Gesicht. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll – das Gefühl nach einem Rennen. Man ist außer Atem und mit den Nerven am Ende, und jeder Muskel tut einem weh, aber zugleich fühlt man sich so unglaublich lebendig.«
Klinge nickte. Das zumindest verstand sie vollkommen.
»Nach meinen ersten Siegen hatte ich Blut geleckt. Ich konnte nicht mehr malen, aber rudern dafür immer besser. Nichts anderes interessierte mich mehr. Ich hatte so viel vor – ich wollte mich für die Weltmeisterschaft qualifizieren, vielleicht sogar die Olympischen Spiele. Aber dann …«
Er beugte sich nach vorn und stützte das Gesicht in die Hände. »Es war Freitagabend«, fuhr er mit belegter Stimme fort. »Ich hatte mit Freunden ein Fußballspiel angesehen und mich verspätet … Ich sah, wie das Schultor sich vor mir schloss und begann zu rennen. Die Ampel stand noch nicht auf Grün, aber die Straße schien frei. Ich hatte sie zur Hälfte überquert, da kam ein Auto um die Ecke. Ich sah es erst, als ich damit zusammenstieß, und spürte, wie meine Wirbelsäule brach …«
Klinge biss erschrocken die Lippen zusammen. Ein langes Schweigen folgte.
»Jetzt bin ich von der Hüfte an abwärts gelähmt«, flüsterte Paul. »Ich kann nicht mehr gehen, nicht mehr rudern, nicht einmal mehr …« Er lachte freudlos. »Glaub mir, du willst gar nicht wissen, was ich alles nicht mehr kann. Ich werde nie an den Olympischen Spielen teilnehmen und nie mehr richtig rudern können. Meine ganzen Träume – weg. Einfach so.«
»Und deshalb …?«, fragte Klinge unsicher. Sie konnte Pauls Verzweiflung nachfühlen. Als sie geglaubt hatte, sie könnte nie mehr fliegen, war es ihr ähnlich gegangen. Aber deshalb nicht mehr leben zu wollen … das konnte sie nicht verstehen.
»Nein«, sagte Paul. Er klang müde. »Oder doch, aber nicht nur deshalb. Nach dem Unfall wussten meine Freunde nicht mehr, was sie mit mir reden sollten. Natürlich haben sie mich besucht und so weiter, aber es war einfach erbärmlich, und zuletzt besuchten mich nur noch meine Eltern.« Er klang bitter.
»Meine Eltern haben nicht aufgegeben, aber nach einer Weile wünschte ich, sie hätten es. Als sie sagten, sie hätten das Haus für mich umgebaut und wollten mich nach Hause holen … das war, als würden die letzten Jahre meines Lebens einfach ausgelöscht. Als sei ich nie von zu Hause weg gewesen und auch nicht älter geworden. Ich war nicht mehr der Sohn, auf den sie stolz waren, sondern ein trauriger, kleiner Krüppel.«
»Aber du sagtest, du seist nicht wütend auf sie.«
»Das war ich ja eigentlich auch nicht. Ich wusste, es war nicht ihre Schuld. Es war mehr so …« Er rieb sich mit der Hand die Stirn. »Sie sollten nicht noch mehr Opfer für mich bringen und sich ständig um mich sorgen müssen. Ich wollte nicht mehr ihr Sohn sein, sondern einfach ein Ding in einem Rollstuhl, das sie allmählich leid wurden. Ich wollte mich umbringen, und dann sollten auch sie erleichtert sein.«
»Deshalb hast du mit niemandem mehr gesprochen«, sagte Klinge langsam. »Nur mit mir. Warum mit mir?«
»Du warst anders.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Solltest du aber.« Paul ließ die Hand fallen und sah Klinge so traurig an, dass es ihr einen Stich versetzte. »Ich hatte nicht erwartet, dass ich dir je wieder begegnen würde«, sagte er. »Nach so vielen Jahren glaubte ich nicht mehr, dass es dich überhaupt gab. Doch dann hast du auf einmal vor der Hecke gestanden und mich angesehen. Ich brauchte lange, bis ich das verarbeitet hatte. Dann dachte ich wieder, ich hätte mir alles nur eingebildet, da fällst du auf einmal vom Himmel und landest auf meinem Schoß.
Als ich dich mit dem zerrissenen Flügel da liegen sah, da … da wollte ich, dass du lebst. Ich wollte wissen, ob du noch fliegen kannst oder was du sonst tun würdest. Und dann bist du aufgewacht und hast mit mir geredet. Ohne Rücksichtnahme und Mitleid. Als ob ich … gesund sei.«
Ein Schauer lief Klinge über den Rücken, und sie wollte Paul sagen, er solle aufhören, aber es war zu spät. Paul machte die Augen fest zu, und Klinge merkte, dass er weinte. Sie spürte einen schmerzhaften Druck auf der Brust.
»Du hast mir erlaubt, dich zu zeichnen, und die Zeichnung gelang sehr gut. Sie ist das Beste, das ich seit Jahren gemacht habe. Und dann haben wir uns über Kunst unterhalten, und du hast mir so interessiert zugehört, dass ich dachte, vielleicht …«
»Halt«, rief Klinge, »du brauchst nicht weiterzureden, ich verstehe dich auch so.« Denn der Rest der Geschichte war ihr inzwischen schmerzhaft klar. Er hatte sie als Freundin betrachtet, doch dann hatte er die Beherrschung verloren und ihr Angst gemacht. Er hatte das einzig Schöne, das er seit seinem Unfall erlebt hatte, kaputt gemacht – durch seine Schuld. Kein Wunder, dass er hatte aufgeben wollen.
Paul lachte unsicher und wischte sich das Gesicht am Ärmel ab. »Ich trage ein wenig dick auf, ich weiß. Tut mir leid.«
Klinge schüttelte den Kopf. »Nein, mir tut es leid. Ich hätte nicht fragen dürfen, ich war …« Sie zögerte. Hatte sie das Wort überhaupt schon einmal benutzt? Aber es stimmte. »Egoistisch.«
»Du bist eine Fee«, sagte Paul. »Natürlich denkst du nicht wie ein Mensch. Ich mache dir keine Vorwürfe.«
Klinge sah nach unten auf ihre Füße. »Ich muss gehen. Meine Leute … werden sich fragen, wo ich bin.«
Paul streckte die Hand aus, entriegelte das Fenster und schob es auf. »Ich weiß, verglichen damit, dass du mir das Leben gerettet hast, ist es nicht viel«, sagte er. »Aber wenn du dich einmal mit mir über Kunst unterhalten oder meine Bücher ansehen willst oder sonst etwas … ich bin hier. Einverstanden?«
»Einverstanden«, nickte Klinge, von dem großzügigen Angebot ein wenig überrumpelt. Flatternd sprang sie auf den Fenstersims. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Ich werde kommen. Ich weiß noch nicht wann, aber … ich versuche es.«
Paul lächelte. »Gut.«
Klinge stieg durch das Fenster und ließ sich nach draußen fallen. Ihre Flügel surrten, und sie landete sanft auf dem gepflasterten, mit Moos und Gras überwachsenen Weg. Die Sonne schien ihr warm auf den Rücken, und in der Ferne sang eine Lerche. Sie war frei.
»Auf Wiedersehen, Klinge«, drang es aus dem Fenster über ihr. Quietschend entfernte sich sein Rollstuhl. Klinge blieb bewegungslos stehen und sah zu dem leeren Fenster hinauf. Dann schüttelte sie sich, straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zur Eiche.
Sie huschte am Rand des Gartens entlang von Schatten zu Schatten. Auf halbem Weg blieb sie an einem Blumenbeet stehen, steckte die Hände tief in die feuchte Erde und rieb sich Gesicht und Arme damit ein, bis sie ganz schmutzig waren. Mit den Fingern zerwühlte sie sich die Haare und arbeitete Rindenstückchen und zerkrümeltes welkes Laub darin ein. Zuletzt wischte sie sich die Hände an der Hose ab und setzte ihren Weg fort.
Gleich nach Betreten der Eiche begegnete sie einer Sammlerin. Die Sammlerin wurde kreidebleich und ergriff schreiend die Flucht in Richtung Küche. In nächsten Augenblick umringte Klinge eine Schar Feen mit ungläubig aufgerissenen Augen. Alle wollten einen Blick auf ihre offenbar von den Toten zurückgekehrte Jägerin erhaschen.
Schließlich drängte sich Dorna nach vorn. Ihr verdrossenes Gesicht konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. »Du siehst aus, als wärst du durch einen Maulwurfshaufen gekrochen und anschließend vom Fuchs gejagt worden«, sagte sie, »aber zu fehlen scheint dir nichts.«
Natürlich war Dorna über ihre Rückkehr froh, dachte Klinge. Die Vorstellung, wieder königliche Jägerin werden zu müssen, war für sie bestimmt ein Albtraum. »Wo sind Linde und Rainfarn?«, fragte sie. »Konnten sie sich retten?«
»Linde wurde zu mir gebracht, starb aber kurz darauf«, sagte eine ruhige Stimme von oben. Klinge blickte hinauf. Baldriana kam soeben die Treppe herunter. »Doch Rainfarn ist nichts passiert, und wir konnten Lindes Ei retten. Bist du verletzt?«
Klinge schüttelte den Kopf.
»Aber ich habe gesehen, wie du abgestürzt bist.« Das ängstliche Stimmchen gehörte Rainfarn. »Ich war überzeugt, dass die Krähe dich erwischt hat. Oder der Mensch …«
»Aber wäre sie dann hier?«, unterbrach Dorna Rainfarn barsch, bevor Klinge antworten konnte. »Rede keinen Unsinn. Klinge ist nach unten gegangen, um die Krähe abzuschütteln – ein alter Jägerinnentrick.«
»Wie auch immer«, ertönte von weiter hinten Malves barsche Stimme. »Wenn ihr nichts fehlt, wo war sie dann die ganze Zeit? Wir haben seit zwei Tagen kein Fleisch mehr bekommen.«
»Du meinst wohl, du konntest seit zwei Tagen keine zusätzlichen Essensreste mehr für dich abzweigen«, erwiderte Dorna. »Mir kommen gleich die Tränen.« Sie fasste Klinge am Ellbogen und schob sie durch die Menge. »Es steht der Königin zu, als Erste mit Klinge zu reden, also macht Platz.«
Die anderen Feen wichen unwillig zur Seite. Dorna ließ Klinge los und sagte leise: »Ich an deiner Stelle würde davor noch ein gründliches Bad nehmen. Du stinkst.«
»Sie ist schmutzig«, bestätigte Baldriana, die zu ihnen getreten war, sanft. »Dass sie stinkt, ist mir nicht aufgefallen. Komm, Klinge. Ich untersuche dich, während du badest, dann sparen wir Zeit. Wir dürfen Ihre Majestät nicht warten lassen.«
»Ich fürchtete schon, wir hätten dich verloren«, sagte Königin Amaryllis. »Ich bin um unser aller willen froh, dass du noch lebst. Dir fehlt nichts?«
»Nein, Majestät«, antwortete Klinge.
Die Königin musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Trotzdem wirkst du … verändert.«
Sie hat meine Flügel bemerkt, dachte Klinge in Panik. Was soll ich ihr sagen?
»Hasenglöckchen, bring unserem Gast einen Stuhl«, befahl die Königin. Hasenglöckchen gehorchte eilig. Klinge wollte sich eigentlich gar nicht setzen, zumal die Königin dann auf sie hinuntersehen konnte, aber Hasenglöckchen schob ihr den Stuhl bereits in die Kniekehlen, und ihr blieb nichts anderes übrig.
»Also der Reihe nach«, fuhr Amaryllis fort, nachdem Klinge sich gesetzt hatte. »Was passierte nach dem Kampf mit der Krähe? Ich habe dich von Dorna suchen lassen, aber du warst spurlos verschwunden.«
War das eine Falle oder aufrichtiges Interesse? Klinge wusste es nicht. Sie beschloss, bei ihrem Bericht so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.
»Ich bin vor dem alten Wermut hergeflogen, um ihn von Linde und Rainfarn abzulenken«, begann sie. »Er griff mich an und zerfetzte meinen einen Flügel. Ich stürzte bewusstlos zu Boden. Als ich aufwachte, lag ich an einem dunklen Ort, an dem die Krähe mich nicht erreichen konnte. Anfangs war ich noch geschwächt und musste ausruhen. Nach einer Weile fand ich etwas zu essen und zu trinken. Ich kam langsam wieder zu Kräften, aber ich war immer noch weit von der Eiche entfernt. Ich konnte nicht fliegen, also machte ich mich zu Fuß auf den Weg, und dabei begegnete ich einer Katze. Sie hätte mich töten können, aber dann …«
Jetzt kam der entscheidende Sprung ihres Berichts. Sie konnte nur beten, dass die Königin nicht merkte, was sie alles ausließ. »Ich wurde plötzlich riesengroß – sogar noch größer als die Katze. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe. Es muss sich um einen Zauber gehandelt haben.« Sie zwang sich, der Königin ins Gesicht zu blicken. »Wie ist so etwas möglich?«
»Dein Fall ist nicht der erste«, erklärte Amaryllis. »Es passiert allerdings sehr selten und nur in Zeiten höchster Not. Die große Gärtnerin war dir gnädig.«
Klinge nickte. »Jedenfalls hat mich das gerettet. Als der Zauber verging, probierte ich den verletzten Flügel aus und konnte wieder fliegen – er wurde durch Zauberei geheilt. Ich kehrte zur Eiche zurück, und hier bin ich.«
Die Königin betrachtete Klinge. Sie hatte einen Finger nachdenklich an das Kinn gelegt. »Ich muss gestehen, ich bin erleichtert. Aufgrund von Rainfarns Bericht glaubte ich schon, du seist unweit der Eiche im Garten abgestürzt. Als Dorna dich nicht finden konnte, fürchtete ich, die Menschen hätten dich erwischt, und wir seien womöglich alle in Gefahr.«
Eine kalte Hand schloss sich um Klinges Kehle. Die Vermutung der Königin kam der Wahrheit gefährlich nahe. Spürte oder wusste sie gar, dass Klinge sie täuschte? Vielleicht wollte die Königin sie prüfen, und dies war ihre letzte Chance, sich als treue Untertanin zu zeigen. Vielleicht sollte sie die Königin um Gnade bitten und ihr alles beichten.
Doch Klinges Vertrauen zu Königin Amaryllis war erschüttert. Wenn die Königin ein ganzes Regal voll kostbarer Bücher verbrennen ließ, nur um die Feen vor den Menschen zu schützen, was würde sie erst tun, wenn sie erfuhr, dass ihre Jägerin sich tatsächlich mit einem Menschen angefreundet hatte? Sie würde Klinge nicht wegen Hochverrats hinrichten lassen. Dazu waren die Feen der Eiche inzwischen zu wenige. Aber konnte sie Paul vielleicht durch einen Zauber schädigen. Diese Vorstellung gefiel Klinge überhaupt nicht.
»Jedenfalls war der Versuch, Linde vor der Krähe zu retten, sehr mutig«, fuhr die Königin lebhafter fort. »Zumal du dich dadurch selbst in Gefahr gebracht hast. Du hast viel durchgemacht, und dass du so schnell zur Eiche zurückgekehrt bist, verdient Anerkennung. Baldriana, du hast sie untersucht. Sie ist nicht verletzt?«
»Nein, Majestät«, sagte eine ruhige Stimme aus dem hinteren Teil des Zimmers. Klinge zuckte zusammen. Sie hatte die Heilerin ganz vergessen. »Sie braucht jetzt nur Ruhe.«
»Dann befreie ich dich bis morgen von deinen Pflichten«, sagte die Königin. »Du kannst gehen.«
Klinge kehrte in ihr Zimmer zurück und ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen. Nach dem Gespräch mit der Königin war ihr, als sei sie bis auf die Knochen durchleuchtet worden. Doch sie schien die Prüfung bestanden zu haben.
Warum verfolgte sie dann immer noch das beunruhigende Gefühl, dass Amaryllis ihr nicht geglaubt hatte?
Sie schwang die Beine auf den Boden und setzte sich auf. Ihr Zimmer mit seinen nackten Wänden kam ihr nach dem langen Aufenthalt im Haus der Menschen enger vor denn je. Die primitive Einrichtung schmerzte sie geradezu in den Augen. Wie gern hätte sie das Zimmer mit einigen Bildern verschönert – aber das ging natürlich nicht. Fast alle schönen Gegenstände in der Eiche wurden im Magazin aufbewahrt. Sogar an den Wänden der königlichen Gemächer hing nichts. Kunst war etwas Seltenes und Kostbares und durfte deshalb nicht der Obhut einer einzelnen Person anvertraut werden.
Doch wie war es dazu gekommen? Vor der großen Spaltung hatten in der Eiche viele Künstlerinnen und Schriftstellerinnen gelebt. Wo war ihre Kreativität geblieben? Konnte man ihre schöpferische Kraft auf irgendeine Weise wiederbeleben?
Vielleicht fand sie in Heides Tagebuch Hinweise darauf, vorausgesetzt das Tagebuch war in der Zeit ihrer Abwesenheit nicht verschwunden – doch nein, da lag es. Klinge zündete eine Kerze an, setzte sich aufs Bett und schlug das Buch an der Stelle auf, an der sie ihr Lesezeichen eingelegt hatte.
Jasmins Verfassung hat sich deutlich gebessert, seit die anderen Feen sich nicht mehr abschätzig über sie äußern. Ich freue mich, dass meine diesbezüglichen Worte ihre Wirkung getan haben. Jasmin grüßt mich inzwischen freundlicher. Dass ich ihr Kleid geflickt habe, hat dazu beigetragen. Ich habe auch wirklich selten so gute Arbeit geleistet. Man ahnt nicht, dass das Kleid einmal so schlimm zugerichtet war, und es steht Jasmin sehr gut …
Einige weniger interessante Einträge folgten, doch ein paar Seiten später stieß Klinge auf den folgenden Eintrag:
Wenn meine teure Freundin Lavendel mir die Nachricht nicht überbracht hätte, hätte ich sie nicht geglaubt: Die Königin hat Jasmin zu ihrer Beraterin ernannt! Es ist natürlich eine große Ehre, und ich freue mich um Jasmins willen darüber. Trotzdem ist mir die Entscheidung der Königin nicht ganz geheuer. Jasmin ist bestimmt sehr klug, doch sie hat ein hitziges Temperament und handelt manchmal vorschnell, wo Klügere noch zur Vorsicht raten würden.
Das war ja alles gut und schön, wenn man mehr über Politik erfahren wollte, dachte Klinge, doch sie war es leid, immer nur vom Leben in der Eiche zu hören. Wann hörte Heide endlich auf, über Jasmin zu sprechen, und berichtete über etwas wirklich Wichtiges? Ungeduldig blätterte sie einige Seiten vor und las.
Heute Morgen saß ich zusammen mit Lavendel bei einer Tasse Tee, da kam die Nachricht, Königin Schneeglöckchen wünsche mich zu sprechen. Angesicht der vielen anderen tüchtigen Feen der Eiche hatte ich mir kaum noch Hoffnung gemacht, dass ihre Wahl auf mich fallen könnte. Doch meine Gebete wurden erhört, die große Gärtnerin sei gepriesen. In einem halben Jahr werde ich die Stelle der Näherin an meine Schülerin Bryony abgeben und eine wichtigere Arbeit übernehmen.
Ich muss mich sorgfältig auf die bevorstehende Aufgabe vorbereiten. Sie wird nicht leicht sein, denn ich muss noch viel lernen. Doch verspüre ich keine Angst oder Sorge, sondern nur freudige Erwartung. Ich soll also nach draußen gehen, zum erstaunlichen Volk der Menschen!
Klinge zuckte zusammen. Das Buch entglitt ihren Händen und fiel umgedreht auf den Boden. Sie hob es auf, glättete die zerknitterten Seiten und las die letzte Zeile von Heides Eintrag noch einmal und dann immer wieder, solange die Kerze an ihrem Bett im flüssigen Wachs knisterte und flackerte.