SECHS
Klinge lag auf ihrem Bett und starrte an die knorrige Zimmerdecke. Sie musste immer wieder daran denken, wie Paul auf seinem Thron mit Rädern sie angestarrt hatte.
Sie konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich vollkommen bewegungslos vor einem Menschen gestanden hatte. Wahrscheinlich war sie vor Schreck gelähmt gewesen. Sie hatte gar keine Zeit gehabt, Angst zu empfinden oder wegzulaufen. Der Junge war zum Glück genauso verdattert gewesen, sonst wäre sie jetzt nicht hier.
Doch Klinge war nicht nur vor Schreck stehen geblieben, sie war auch fasziniert von dem Jungen. Sie war ihm bei ihrem ersten Ausflug aus der Eiche vor acht Sommern begegnet. Seither hatte sie sich immer danach gesehnt, ihn wiederzusehen.
Sie drehte sich auf den Bauch um und rieb sich die Augen. Dummes Mädchen, schimpfte sie vor sich hin. Auch wenn er dich nicht frisst, er könnte mit dem Stiefel auf dich drauftreten, und dann wärst du platt. Oder noch schlimmer, er sperrt dich in einen Käfig und hält dich bis an dein Lebensende gefangen. Er ist ein Mensch, und du bist eine Fee – ihr habt nichts gemeinsam.
Es klopfte leise an der Tür. »Ja?«, sagte sie, aber niemand kam herein.
Verwirrt stand sie auf, zündete eine Kerze an und ging zur Tür. Sie trat auf den Flur hinaus und sah sich um, doch alle anderen Türen waren geschlossen. Hatte sie sich das Klopfen nur eingebildet?
Da stieß sie mit dem Fuß gegen etwas Festes. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als der Gegenstand über den Boden glitt. Oder war es ein Insekt? Nein, auf dem Boden lag ein kleines Päckchen, auf dem ihr Name stand. Sie hob es auf und wickelte es aus. Ein Buch kam zum Vorschein.
Klinges Verwirrung wuchs. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, setzte sich auf das Sofa und betrachtete das Buch näher. Behutsam schlug sie es auf. Der abgenutzte Lederrücken knackte und bröckelte unter ihren Fingern. Sie begann zu lesen.
Ich habe noch nie Tagebuch geschrieben, doch Lorbeere hält es für ein würdiges Unterfangen, und da ich ihre Schriften von allen am meisten bewundere, wäre es töricht von mir, nicht auf ihren Rat zu hören. Während ich dies schreibe, fällt mir allerdings ein, dass ich gar nicht weiß, über was ich schreiben soll. Hätte ich einen bemerkenswerten Freund wie Dr. Johnson, es mangelte mir nicht an kurzweiligen Begebenheiten, über die zu berichten sich lohnte. Leider bin ich kein Boswell.
Klinge betrachtete die kleine, elegant geschwungene Handschrift. Dr. Johnson und Boswell … das waren doch Namen von Menschen. Offenbar hatte die Verfasserin zu einer Zeit gelebt, als die Verbindung zwischen der Eiche und der Welt der Menschen noch enger war. In diesem Fall konnte das Tagebuch ihr vielleicht zu den Antworten verhelfen, nach denen sie suchte.
Trotzdem will ich mich meinem imaginären Leser zuliebe richtig vorstellen: Ich bin Heide, einundvierzig Sommer alt, in der Regierungszeit der guten Königin Schneeglöckchen geboren und jetzt zur Näherin der Eiche bestellt. Ich habe eine Schülerin namens Bryony …
Das bestätigte ihre Vermutung, dachte Klinge und ein aufgeregter Schauer überlief sie. Eine Heide kannte sie zwar nicht, die Geschichte ihrer Eimutter dagegen sehr gut: Die alte Bryony war in den letzten Jahren der Regierung von Königin Schneeglöckchen Näherin der Eiche geworden, hatte diesen Dienst fast hundert Jahre lang versehen und ihn vor ihrem Tod an ihrer Schülerin Winka übergeben. Demzufolge musste das Tagebuch gegen Ende der magischen Zeit entstanden sein – also genau zu der Zeit, über die Klinge mehr wissen wollte.
Offenbar hatte sie das Buch von jemandem bekommen, der wusste, dass sie sich für die Vergangenheit des Eichenvolks interessierte. Sie glättete die zerknitterte zweite Seite. Vielleicht Pechnelke? Aber Pechnelke hätte das Tagebuch auch einfach in das Regal der Kammer stellen können. Dort hätte Klinge es irgendwann schon gefunden.
Langsam blätterte sie um. Die ersten Einträge waren enttäuschend nichtssagend: Heide hatte ein neues Spitzenmuster erfunden und wollte es unbedingt ausprobieren, sie lobte das Hemd, dass ihre Schülerin geschneidert hatte, und so weiter. Klinge fühlte sich an ihre Zeit bei Winka erinnert und wollte das Buch schon weglegen, da fiel ihr Blick auf einen weiteren Abschnitt.
Heute ist zur allgemeinen Überraschung Jasmin in die Eiche zurückgekehrt. Niemand wagte sie nach dem Grund ihrer Rückkehr zu fragen, denn sie sah alle nur böse an und hatte für niemanden ein freundliches Wort. Bestimmt wird Königin Schneeglöckchen mit ihr sprechen. Jasmin war immer schwierig, und jetzt ist sie vollends unerträglich.
Jasmin … Der Name kam Klinge irgendwie bekannt vor. Sie hatte ihn schon einmal gehört, aber wo?
Azalea findet, man sollte Jasmin dafür zur Verantwortung ziehen, dass sie ihre Aufgabe nicht zu Ende geführt hat, doch die Königin scheint ihr zu verzeihen. Sie hat ausdrücklich verboten, Jasmin Fragen zu stellen, und will auf keinen Fall dulden, dass sie bestraft wird.
Klinge runzelte die Stirn. Was für eine »Aufgabe« hatte Jasmin denn nicht zu Ende geführt? Welchen wichtigen Auftrag hatte man ihr erteilt?
Sie konnte sich nur vorstellen, dass man Jasmin vielleicht als Botschafterin zu einem anderen Feenvolk geschickt hatte. Da die Eichenfeen schon seit Jahrhunderten nichts mehr von anderen Feen gesehen oder gehört hatten, musste man die erst suchen. Neugierig las Klinge weiter.
… Jasmin kam heute mit einem Kleid zu mir, das geflickt werden musste. Ich war versucht, ihr die Bitte abzuschlagen, doch als ich das Kleid sah, entfuhr mir unwillkürlich ein Ausruf. Der obere Teil war vollkommen zerrissen, ein Ärmel fehlte ganz. Der Rock war bis zum Knie ganz schwarz, als sei Jasmin in den Sumpf gefallen. Wenn sie in diesem Kleid nach Hause zurückgekehrt war, wunderte mich ihre schlechte Laune nicht. Ich bekam Mitleid mit ihr und sagte, in zwei Wochen könnte sie es abholen.
»Und wie kann ich dir deine Arbeit vergelten?«, fragte sie.
Ich weiß, dass man nicht in anderer Leute Angelegenheiten herumschnüffelt, konnte meine Neugier aber nicht bezähmen. »Indem du mir etwas erzählst«, sagte ich. »Was für ein Unglück ist dir zugestoßen, dass du zur Eiche zurückgekehrt bist?«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Darüber kann ich nicht sprechen«, erwiderte sie. »Nur so viel: Ich glaube, unserem Volk hier besser dienen zu können.«
»Verzeih mir«, sagte ich, als ich merkte, dass ich sie bekümmert hatte.
»Keine Ursache«, antwortete sie. »Wenn Neugier ein Fehler ist, dann habe ich ihn auch. Doch kann ich dir etwas anderes anbieten, dass besser zu deinem Handwerk passt: einige Skizzen von Kleidern, die ich unterwegs gesehen habe.«
»Oh!«, rief ich überrascht. »Das könntest du?«
»Gewiss. Ich habe mir unterwegs einiges Geschick im Zeichnen angeeignet.« Jasmin lächelte, doch ihre Augen blickten bitter. »Es würde mich freuen, diese Fähigkeit für einen … nützlichen Zweck zu verwenden.«
Darauf fiel mir keine Antwort ein, und so standen wir einen Augenblick schweigend da. Schließlich fuhr Jasmin in einem leichteren Ton fort: »Ich werde dir die Zeichnungen also bald bringen. Und das Kleid ist in zwei Wochen fertig? Ich will dich nicht drängen, denn ich weiß, dass du eine tüchtige und gute Näherin bist. Leider habe ich sonst kaum etwas anzuziehen.«
Jetzt tat sie mir aufrichtig leid. »In ein paar Tagen ist es fertig«, sagte ich. Sie nickte und ging.
Ich habe mich in Jasmins Gegenwart immer unterlegen gefühlt und ihr gern einen Vorwurf daraus gemacht. Jetzt merke ich, dass ich ihr Unrecht getan habe, dass sie mehr gelitten hat, als wir uns vorstellen können. Ich werde die anderen Feen bitten, freundlicher zu ihr zu sein – natürlich ohne dass sie es merkt, denn sie ist noch im Unglück stolz und wäre zweifellos gekränkt über die Vorstellung, ich würde hinter ihrem Rücken über sie reden.
Klinge hätte am liebsten weitergelesen, aber sie war inzwischen so müde, dass sie die Augen kaum noch offen halten konnte. Sie riss sich ein langes, weißes Haar aus und legte es als Lesezeichen zwischen die Seiten. Dann klappte sie das Buch zu und schlüpfte ins Bett.
Als Klinge am folgenden Morgen aus ihrem Zimmer trat, hatten sich die Sammlerinnen wie üblich vor dem Tor der Königin versammelt. Sie hatten ihre Körbe geschultert und sprachen über die bevorstehende Arbeit. Klinge hörte Hollys Stimme aus den anderen heraus. »… ging in den letzten Tagen sehr gut, zumal es bis heute nicht geregnet hat. Wir haben unsere Vorräte an Beeren und Grünzeug aufgestockt und …«
Holly bemerkte Klinge, brach ab und schluckte sichtbar. Auch die anderen Sammlerinnen verstummten und blickten zu Boden.
»Was ist denn?«, fragte Klinge. Niemand antwortete.
Endlich räusperte sich Holly. »Ich glaube, wir brauchen dich heute nicht«, sagte sie. »Die Krähe scheint weitergezogen zu sein, deshalb müssten wir ab jetzt wieder allein zurechtkommen.« Sie sah die anderen an. »Das findet ihr doch auch?«
Alle nickten.
»Na gut«, sagte Klinge ein wenig verwirrt. »Mir ist es egal. Ich gehe später sowieso auf die Jagd. Wenn ihr mich braucht, könnt ihr mich ja rufen.«
Holly wirkte erleichtert. »Das werden wir. Seid ihr bereit? Dann los.«
Klinge sah den Sammlerinnen nach und machte das Tor hinter ihnen zu. Was hatte das zu bedeuten? Die anderen Feen hatten doch wohl keine Angst vor ihr, nur weil sie sich in die Nähe eines Menschen gewagt hatte?
Sie zuckte die Schultern und machte sich auf den Weg zur Küche. Wenn ihre Dienste vorerst nicht benötigt wurden, konnte sie genauso gut erst einmal ausgiebig frühstücken. Anschließend wollte sie vielleicht die Bibliothek besuchen. Heides Tagebuch hatte sie neugierig auf die Zeit von Königin Schneeglöckchen gemacht. Sie wollte wissen, was die alten Geschichtsbücher dazu sagten.
In der Küche brannte zu ihrer Überraschung ein gewaltiges Feuer. Das Feuer der Kochstelle wurde in den Sommermonaten sonst eher klein gehalten, damit es im Innern der Eiche nicht zu stickig wurde.
Doch mussten sich darum die Küchenarbeiterinnen kümmern. Auch hier erntete sie allerdings misstrauische Blicke, als sei sie nicht willkommen. Sie schenkte sich eine Tasse heißen Zichorienkaffee ein und machte sich auf den Weg zur Bibliothek.
Pechnelke saß an ihrem Schreibtisch, vor sich das aufgeschlagene Bücherverzeichnis. Mechanisch tunkte sie ihre Feder in das Tintenfass und strich einen Eintrag nach dem anderen aus. Sie hielt den Kopf gesenkt, und ihr Gesicht war hinter den Haaren nicht zu sehen, doch die Finger, mit denen sie die Feder hielt, zitterten.
»Pechnelke, was …«, begann Klinge. Ihr Blick fiel auf den hinteren Teil der Bibliothek, und die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Die Tür zu der geheimen Kammer stand offen, und Fußspuren aus Asche führten in sie hinein und wieder heraus. Das Regal in der Kammer war leer, die kostbaren Bücher über die Menschen verschwunden.
»Was ist passiert?«, wollte Klinge wissen und sah Pechnelke empört an. »Wer hat das getan?«
Pechnelke steckte die Feder ganz langsam in das Tintenfass und hob den Kopf. Ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren, und in ihren Augen funkelte eine mörderische Wut. Klinge trat unwillkürlich einen Schritt zurück aus Angst, die Bibliothekarin könnte sie schlagen.
»Das hättest du nicht gedacht, was?«, zischte Pechnelke. »Du konntest ja nicht einmal einen Moment so tun, als hättest du Angst.«
»Ich … ich verstehe dich nicht …«
»Natürlich nicht, du bist ja noch so jung und interessierst dich nur für dich selbst. Du musstest unbedingt vor den Sammlerinnen angeben. Seht mich an, ich habe kein bisschen Angst vor den Menschen, tralala!« Pechnelke lachte schrill. »Aber dass die Königin hören könnte, wie schrecklich mutig du warst, und vielleicht überlegt, warum du keine Scheu vor Menschen hast – daran hast du nicht gedacht. Oder dass sie vielleicht durch bestimmte Maßnahmen dafür sorgt, dass andere nicht deinem Beispiel folgen.«
Übelkeit stieg in Klinge auf. »Soll das heißen … die Bücher … wurden vernichtet?«
»Ja, natürlich.« Pechnelke spuckte die Worte förmlich aus. »Hast du noch nicht das lustige Feuer bemerkt, dass heute früh in der Küche brennt? Es brennt nur deinetwegen, und heute Nachmittag werden wir die zusätzliche Hitze bestimmt noch viel mehr genießen.«
Klinge schloss die Augen, und ihre Lippen bewegten sich in stummer Verzweiflung.
»Diese Bücher sind unbezahlbar«, sagte Pechnelke. »Unersetzlich. Bist du jetzt zufrieden?« Sie nahm ihre Feder auf und strich weitere Einträge des Verzeichnisses durch. Eine große Träne fiel von ihrer Nasenspitze und landete spritzend auf der Seite.
»Das … tut mir leid«, sagte Klinge hilflos. Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, schämte sie sich.
»Das hat die Königin auch gesagt.« Pechnelke schniefte. »Wenigstens hat sie das getan, was sie für uns alle am besten hält. Was für eine Entschuldigung hast du?«
Darauf gab es keine Antwort. Klinge verbeugte sich deshalb nur und wandte sich zum Gehen. Doch dann fiel ihr noch etwas ein, und sie drehte sich noch einmal um. »Kann es sein, dass …? Ich meine, wenn du das vorausgesehen hast, hast du vielleicht …?«
Sie brach verunsichert ab, und Pechnelke hob den Kopf. Der Zorn auf ihrem spitzen Gesicht hatte sich ein wenig gelegt. »Was?«
»Hast du mir gestern Abend das Päckchen gebracht?«
»Ein Päckchen? Dir gebracht? Von mir bekämst du nicht einmal eine tote Schnecke, auch nicht für Gold.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Raus jetzt!«
Zerknirscht schlich Klinge hinaus und stieg die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Langsam und in trübe Gedanken versunken näherte sie sich dem Ausgang in der Ostwurzel.
Als sie ins Freie trat, hörte sie als Erstes Beatrices zitternde Stimme. »Paul, bitte.«
Die Worte kamen leise vom anderen Ende des Rasens, doch Klinge hörte deutlich den Kummer, der aus ihnen sprach. »Ich … ich will doch nur mit dir reden. Warum sprichst du nicht mit mir?«
Paul antwortete nicht. Er hatte den Kopf lauschend ein wenig geneigt, aber sein Gesicht blieb unbewegt. Beatrice drückte die Hände an den Mund, wie um ein Schluchzen zu unterdrücken, und eilte ins Haus zurück. Ihr Sohn blieb allein auf der Veranda sitzen.
Klinge verschränkte die Arme und musterte ihn kritisch. Er musste sehr stolz auf seinen Thron sein, denn er saß ständig darauf. Seine Mutter bediente ihn von vorne bis hinten und bettelte förmlich um seine Gunst. Doch trotz seines scheinbaren Reichtums und seiner Macht wirkte er nicht glücklich.
Damit befand er sich in guter Gesellschaft, dachte Klinge. Bitterkeit stieg in ihr auf. Wie hatte Amaryllis die Bücher verbrennen können? Sie war doch selber einmal eine Gelehrte gewesen und hätte es besser wissen müssen.
Feenstimmen rissen Klinge aus ihren Gedanken. Sie blickte zurück. Zwei Sammlerinnen tauchten am Fuße der Eiche auf, duckten sich unter der Hecke hindurch und stiegen den Hang in Richtung Wiese und Wald hinunter. Offenbar hatten sie sich vom Rest der Gruppe getrennt, was sie ihrem gemächlichen Tempo nach zu schließen aber nicht weiter bekümmerte.
Klinge schnaubte verächtlich. Zuerst die ganze Aufregung wegen des alten Wermut und zusätzlicher Schutzmaßnahmen, obwohl sich die ganze Zeit, in der sie aufgepasst hatte, kaum eine Krähe hatte blicken lassen. Und jetzt schlenderten hier zwei Sammlerinnen über die Wiese, als ob …
Sie schnippte mit den Fingern. Natürlich! Wermut war überhaupt nicht aufgetaucht. Die Nachricht von seiner Rückkehr war eine Lüge gewesen, nur um Klinge zu beschäftigen! Offenbar hatte Königin Amaryllis herausgefunden, dass Klinge wieder nach den Menschen Ausschau hielt und sie deshalb mit dem Wachdienst bestraft. Kein Wunder, dass die beiden Sammlerinnen keine Angst hatten! Sie wussten, dass ihnen keine Gefahr drohte.
Auf einmal passte alles zusammen. Es war zum Verrücktwerden. Bestimmt hielten die anderen sie jetzt für schrecklich naiv. Vielleicht hatten sie sie sogar hinter ihrem Rücken ausgelacht. Klinge schlug sich mit der Faust in die Hand. Das Lachen sollte ihnen vergehen. Sie würde …
Ein gellender Schrei zerriss die Stille. Klinge erschrak. Ihre Wut war vergessen. Ein großer schwarzer Schatten kreiste draußen über der Wiese und stieß zum Gras hinunter. Von dort kam aufgeregtes Rascheln. Ein zweiter Schrei verstummte abrupt.
»Nicht laufen!«, schrie Klinge. »Lasst eure Körbe fallen und fliegt!«
Niemand antwortete. Sie stürzte durch die Hecke, schwang sich mit schwirrenden Flügeln in die Luft und zog ihr Messer. Hätte sie doch lieber Pfeil und Bogen mitgebracht!
Die Krähe hob den Kopf, und Klinge erkannte die Gestalt, die schlaff von ihrem Schnabel herunterhing: Linde. Eine stille Fee, die man aufgrund ihrer Schüchternheit und ihrer graubraunen Kleider leicht übersah – doch konnte sie ihr doppeltes Körpergewicht an Kastanien tragen. Ihr Tod wäre ein herber Verlust für die Sammlerinnen.
Zuerst fürchtete Klinge, es könnte schon zu spät sein, sie zu retten, doch als sie näher flog, erwachte Linde aus ihrer Betäubung und begann zu zappeln. Die Krähe hielt sie mit dem Schnabel fest, hatte sie aber noch nicht getötet. Klinge flog unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft noch schneller, stieg zu der Krähe auf und hieb mit dem Messer auf ihren Schwanz ein.
Ein lächerlicher Angriff, der allerdings den beabsichtigten Zweck erfüllte: Der alte Wermut, um den es sich tatsächlich handelte, kreischte erschrocken und ließ Linde los. Klinge klemmte sich hastig das Messer zwischen die Zähne, ging im Sturzflug nach unten und fing Linde auf, bevor sie auf den Boden prallte.
Behutsam bettete sie Linde ins Gras und sah sich um. Einige Krähenlängen entfernt kauerte Rainfarn, eine andere Sammlerin. Mit einem ungeduldigen Wink bedeutete Klinge ihr, zu kommen und Linde zu helfen. Dann sprang sie aus dem Gras und flog zu ihrem Gegner hinauf.
Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt ihr, wie sie gehofft hatte. Mit einem trotzigen Schrei flog sie über die Wiese, und der alte Wermut nahm die Verfolgung auf. Klinge wollte ihn möglichst weit von Linde und Rainfarn weglocken. Vorerst war sie allerdings vollauf damit beschäftigt, nicht von ihm erwischt zu werden. Unerbittlich flog Wermut hinter ihr her den Hang hinauf und über die Hecke in die Eichenwelt.
Klinges Flügelmuskeln brannten vor Anstrengung, aber sie wagte es nicht, langsamer zu fliegen. Sie flog in einer so engen Kurve um das Menschenhaus, dass ihr Fuß die Ziegelwand streifte, und dann in wildem Zickzack durch den Garten, doch konnte sie ihren Verfolger nicht abschütteln. Sie stieg gen Sonne auf, in der Hoffnung, der alte Wermut würde geblendet und sie aus den Augen verlieren, doch er kam ihr zuvor und flog über sie hinweg, ein bedrohlicher Schatten, der dreimal so groß war wie sie. Das Sirren seiner schwarzen Flügel klang ihr in den Ohren. In ihrer Verzweiflung stach sie mit dem Messer auf die Flügel ein. Das Messer schnitt durch Federn und dann durch Haut und Fleisch. Der alte Wermut kreischte.
Klinge flog weiter, und er stürzte ihr nach. Nur noch eine Flügelspanne trennte sie. Wermuts Augen funkelten wütend, und er hatte seine scharfen Krallen ausgestreckt. Klinge hatte ihn verwundet, aber er war trotzdem schneller und stärker als sie. Ihre einzige Chance bestand darin, im Sturzflug nach unten zu gehen und dicht über dem Boden so schnell wie möglich zur Eiche zu fliegen. Wenn sie genau im richtigen Moment abtauchte …
Sie blickte hinunter, und alle Kraft verließ sie. Paul rollte auf dem gepflasterten Weg in Richtung Eiche und versperrte ihr den Fluchtweg. Er kann nicht wissen, dass sein fahrender Thron ihr Verderben sein würde, dachte sie verzweifelt. Es sei denn …
Sengende Schmerzen schossen ihr durch den Flügel. Die Krähe hatte ihn aufgerissen. Klinge begann unbeherrscht zu taumeln. Närrin!, schrie sie stumm. Närrin! Du darfst nie zögern!
Der alte Wermut hatte sie eingeholt und den Schnabel aufgerissen, als wollte er sie im Ganzen verschlingen. Den verletzten Flügel konnte sie nicht mehr gebrauchen. Sie konnte sich kaum noch in der Luft halten. Gleich würde sie abstürzen, auf dem Boden aufschlagen und sterben. Doch dieser Tod war ihr lieber, als ein Ende in den grausamen Krallen der Krähe.
Mit letzter Kraft legte sie die Flügel an. Besinnungslos vor Schmerzen und Angst sauste sie nach unten und fiel geradewegs in Paul McCormicks Schoß.