SIEBEN

 

Als Klinge wieder zu sich kam, stand ihr der Angstschweiß auf der Stirn. Ihr eingerissener Flügel schmerzte bestialisch. Der Magen knurrte ihr vor Hunger, und ihre Kehle brannte vor Durst. Doch als sie sich aufsetzen wollte, drehte sich alles um sie wie eine Garnrolle und sie hätte sich beinahe übergeben.

Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Hier im Dunkeln konnte sie es unmöglich abschätzen. Sie erinnerte sich noch, wie Wermut ihr zuletzt mit den Krallen den Flügel zerfetzt hatte und ihr der Boden entgegengerast war.

Ich werde nie wieder fliegen können, dachte sie plötzlich mit grausamer Klarheit. Am liebsten hätte sie losgeheult. Ohne den Nervenkitzel der Jagd leben zu müssen, das Glücksgefühl des Fliegens … Klinge konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, vom Tod abgesehen.

Doch ändern konnte sie es nicht. Keine Umschläge konnten einen gerissenen Flügel heilen, keine hundert Stiche die Wunde schließen. Sie war die jüngste und beste Jägerin gewesen, die der Königin je gedient hatte, doch ohne ihre Flügel war sie zu nichts nütze. Dorna würde ihre Pflichten wieder übernehmen, und sie selbst würde wieder Bryony sein, ein Niemand und für den Rest ihres Lebens in der Eiche eingesperrt.

Nein! Das ertrug sie nicht. Wenn Königin Amaryllis sie nicht mit den Sammlerinnen nach draußen ließ, würde sie einfach weglaufen und allein leben, so lange und so gut es eben ging.

Sie holte tief Luft, um ihre Übelkeit zu vertreiben, und wollte die Beine über den Bettrand schwingen. Im Zimmer war es stockfinster, und sie war von ihren Schmerzen wie betäubt. Sie brauchte deshalb eine Weile, bis sie merkte, dass ihr Bett gar keine Kante hatte – dass die weiche Unterlage, auf der sie lag, der Boden war.

Sie spürte einen Stich im Magen. Kein Wunder, dass es dunkel war, kein Wunder, dass das Zimmer seltsam roch. Sie lag nicht in ihrem Bett in der Eiche, und Baldriana würde auch nicht gleich hereinkommen und nach ihr sehen. Sie lag ganz allein an einem fremden Ort.

Aber wo?

Vorsichtig, um den verletzten Flügel nicht zu erschüttern, kroch sie durch das Dunkel. Bereits nach wenigen Käferlängen stieß sie mit der Hand gegen etwas Kaltes. Sie fuhr mit den Fingern über die glatte Oberfläche. Vor ihr stand eine große Glasschüssel, gefüllt mit …

Wasser. Große Gärtnerin! Sie stand mühsam auf, beugte sich über die Schüssel und trank durstig. Anschließend tauchte sie noch die Hände hinein und spritzte sich Wasser in Gesicht und Nacken. Als sie mit dem Waschen fertig war, fühlte sie sich ein wenig besser.

Neben der Schüssel lag ein Teller mit Stücken einer schwammigen, kuchenähnlichen Masse. Sie rochen seltsam, schienen aber essbar. Zögernd biss Klinge in eines hinein und begann zu kauen.

Nach einigen Bissen legte sich das Schwindelgefühl, und auch die Übelkeit ließ nach. Der Flügel tat immer noch weh, aber sie konnte die Schmerzen besser ertragen. Breitbeinig, damit sie auf dem weichen Teppich nicht das Gleichgewicht verlor, tastete sie sich weiter durch das Dunkel.

Egal in welche Richtung sie ging, nach drei bis vier Schritten stand sie vor einer Wand. Einer Wand nicht aus Holz oder Stein, sondern einer festen, papierähnlichen Substanz. Sie gab ein wenig nach, wenn sie dagegen drückte, und sprang wieder zurück, sobald sie losließ. Bestimmt hatte das Zimmer einen Ausgang.

Sie spähte mit zusammengekniffenen Augen nach oben. An der Decke verlief von einem Ende des Zimmers zum anderen ein heller Streifen. Ob da eine Tür war?

Ihr Gefängnis kippte ohne Vorwarnung auf die Seite. Klinge fiel hin und suchte mit den Händen nach einem Halt. Der Teppich rutschte zur Seite, das Wasser in der Schüssel schwappte über. Mit einem dumpfen Schlag richtete das Zimmer sich wieder auf.

Klinge blieb auf dem Boden liegen, aus Angst, durch ihre Bewegungen ein zweites Beben auszulösen. Doch der Boden blieb stabil, und als sie den Kopf hob, stellte sie fest, dass es im Zimmer heller geworden war.

Unwillkürlich blickte sie nach oben – und unterdrückte einen Aufschrei. Die Decke war in zwei Hälften auseinandergebrochen, und durch den Spalt starrte das riesige Gesicht eines Menschen auf sie herunter. Sie kroch auf allen vieren in eine Ecke, setzte sich hin, zog die Knie an die Brust und steckte ihr Gesicht dazwischen.

»Hab keine Angst.« Die Stimme klang heiser, als sei sie lange nicht gebraucht worden. »Ich tu dir nichts.«

Zitternd holte Klinge Luft. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt: Sie saß in der Falle, war eine Gefangene und konnte nicht mehr fliegen. Die Menschen hatten sie in eine Schachtel gesperrt und wollten sie jetzt quälen.

»Du bist noch da«, fuhr die Stimme erstaunt fort. »Als ich die Schachtel aufmachte, dachte ich schon … aber du bist wirklich da.« Ein Finger berührte ihre Haare. Klinge schauderte. Sie wollte, sie durfte jetzt nicht weinen.

»Du hast Angst.« Die Stimme klang überrascht. »Gestern hattest du keine Angst.« Eine Pause folgte. »Gut, ich lasse dich ein wenig in Ruhe.«

Etwas raschelte, dann kehrte Stille ein. Offenbar war der Junge gegangen. Klinge hob den Kopf – doch er saß immer noch da.

»Du kannst mich also doch verstehen«, sagte Paul.

Klinge lehnte sich niedergeschlagen an die Wand. »Lass mich gehen«, sagte sie müde.

»Aber du bist verletzt.«

»Ich komme schon zurecht.«

Pauls Mundwinkel zuckten. »Natürlich«, sagte er, »hätte ich mir denken können. Wer bist du eigentlich? Eine Fee, die gegen Krähen kämpft?«

Er schien sich über sie lustig zu machen. Klinge fühlte sich in ihrem Stolz gekränkt. »Ja, bin ich!«, rief sie empört. »Was gibt dir das Recht …« Sie besann sich und verstummte. Gegen Krähen zu kämpfen war das eine, aber mit einem Geschöpf zu streiten, das zehn Mal so groß war wie sie? Das war nicht Mut, sondern Selbstmord. »Egal«, murmelte sie.

»Du hast das Brot ja gar nicht gegessen. Willst du etwas anderes? Obst? Gemüse?« Und nach einer Pause fügte Paul hinzu: »Du isst kein Fleisch, nicht wahr?«

»Doch«, sagte Klinge.

»Wirklich?«

Sie nickte.

»Gut, ich werde sehen, was ich finden kann. Aber später.«

»Warum nicht gleich?«, fragte Klinge. Wenn er sie unbewacht ließ, nur einen kurzen Moment lang …

»Weil meine Mutter in der Küche ist«, sagte Paul. »Dann will sie wissen, was ich suche. Oder schlimmer noch, sie bietet an, es mir zu holen.« Er klang bitter.

Klinge war so überrascht, dass sie ihre Angst einen Augenblick lang vergaß. »Soll das heißen, sie weiß nichts von mir?«

»Nein. Und von mir aus kann das auch gern so bleiben, also …« Er legte den Finger an die Lippen. »Sprich nicht zu laut.«

Klinge lehnte sich an die Wand und überlegte. Wenn nur Paul von ihr wusste, dann …

»Soll ich dich ein wenig rauslassen?«, fragte er. »Du rennst aber nicht weg, ja?«

Er klang ganz ruhig, aber Klinge traute dem Frieden nicht. Warum wollte er sie hinauslassen? »Nein«, sagte sie. Zu spät begriff sie, dass ihre Antwort zweideutig war. Schon griff Pauls Hand nach ihr und hob sie hoch.

Sie war es nicht gewohnt, angefasst oder gar hochgehoben zu werden. Panisch begann sie zu zappeln, konnte sich aber nicht befreien. Kaum hatte er sie abgesetzt, wollte sie fliehen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie ging taumelnd ein paar Schritte und setzte sich unsanft.

»So«, sagte Paul.

Er klang zufrieden, als hätte er ihr einen Gefallen getan. Klinge biss sich auf die Lippen. Wenn er sie noch einmal packte, würde sie ihn in den Daumen stechen. An die Folgen wollte sie nicht denken.

Doch die Scheide an ihrem Gürtel war leer.

Klinges Herz setzte einen Schlag aus. Wo war ihr Messer? Sie sprang auf und sah sich suchend auf dem Schreibtisch um, auf dem sie stand. Bestimmt war es herausgefallen, als Paul sie auf der Tischplatte abgesetzt hatte. Es musste irgendwo liegen.

»Hast du etwas verloren?«, fragte Paul.

Klinge rannte zum Rand der Platte und suchte aufgeregt den Boden ab. Doch dort lagen lediglich einige lose Haare und Staubfusseln. Ihre Gefängnisschachtel stand offen am Fußende des Betts, war aber ebenfalls leer.

Sie wandte sich ab. Ihr war wieder übel. Das kostbare Stahlmesser hatte ihr von allen Dingen, die sie besaß, am meisten bedeutet – und jetzt hatte sie es verloren. Wie sollte sie ohne es aus dem Haus entkommen?

»Was ist?«, wollte ihr Entführer wissen.

Klinge schüttelte nur stumm den Kopf, setzte sich und schlang die Arme um die Knie. Sie fühlte sich ganz klein und hilflos.

Paul griff an ihr vorbei und zog ein Heft mit Spiralbindung aus dem Regal. Klinge beachtete es in ihrem Unglück nicht weiter. Er legte das Heft auf seinen Schoß und blätterte darin. Klinges Blick fiel auf ein Bild, und sie sah unwillkürlich genauer hin. Die Eiche! Sie richtete sich hastig auf.

Ein Geflecht aus silbernen Linien bedeckte das Blatt Papier. Die Umrisse der ausladenden Äste und des breiten, knorrigen Stamms waren unverkennbar. Es handelte sich um eine Zeichnung, wie die Feen ihres Volkes sie seit über hundert Jahren nicht mehr angefertigt hatten. Und die Ähnlichkeit war immerhin so groß, dass Klinge Heimweh bekam. Wie hatte Paul das gemacht?

»Ich würde dich gerne zeichnen«, sagte Paul. »Wenn es dir recht ist.«

»Mich zeichnen?« Klinge vergaß vor lauter Erstaunen, dass sie unglücklich war. »Du meinst – ein Bild von mir? Jetzt?«

Er nickte.

Ihre Augen kehrten zu dem Bild von der Eiche zurück. »Hast du das gemacht?«

»Ja.«

Klinge zögerte noch einen Augenblick, dann sagte sie: »Also gut.«

»Prima.« Pauls Gesicht hellte sich auf. »Bleib, wo du bist, und bewege dich möglichst nicht.« Er holte einen Stift aus der Schublade und beugte sich über ein leeres Blatt.

Klinge streckte den Hals, aber Pauls gesenkter Kopf behinderte ihre Sicht. Also sah sie sich stattdessen im Zimmer um. Verglichen mit den anderen Zimmern, die sie gesehen hatte, wirkte es mit dem nackten Boden und den einfachen Möbeln sehr schlicht. Doch dann hob sie den Kopf, und ein aufgeregter Schauer durchlief sie.

An den Wänden hingen lauter Bilder.

Das größte hing über der Kommode: ein Wirbelsturm aus Gold, Ocker und Blau, durch den sich ein schwarzer Schatten bewegte. Ein anderes Bild zeigte Kiefern in einer verschneiten Landschaft, überragt von fernen Berggipfeln. Auf der anderen Seite des Zimmers bevölkerten unzählige kleine Gestalten eine hügelige Landschaft mit Seen. Und in der Ecke ihr gegenüber blickte ein Mann in einen Spiegel an seinem eigenen Hinterkopf.

Fasziniert betrachtete Klinge die Bilder. Sie unterschieden sich deutlich von den Wandteppichen im Audienzsaal der Königin oder den einfachen Bildern von Blumen und Früchten in den anderen Zimmern des Hauses. Sie wirkten beunruhigend und verwirrend, einige waren geradezu hässlich. Doch zugleich hatten sie etwas, das den anderen Bildern fehlte – ein Mehr an Bedeutung, an Leben. Sie sprachen zu Klinge in einer Sprache, die sie nicht verstand.

»Bitteschön«, sagte Paul zufrieden und hob das Skizzenbuch hoch. Klinge war völlig fasziniert. Mit einigen sparsamen Strichen hatte er die Umrisse ihrer Glieder, ihre Haare, ihre Flügel und ihre Kleider auf Papier festgehalten. Die Striche wirkten wie achtlos hingeworfen, doch wirkte ihr Abbild eben deswegen besonders lebendig, als könnte es jeden Moment aus dem Skizzenblock herausspringen.

Am meisten erstaunte sie aber ihr Gesicht. Sie erkannte ihre schmalen, schrägstehenden Augen, ihren breiten Mund und das spitze Kinn. Sogar ihren misstrauischen Gesichtsausdruck hatte Paul festgehalten. Nicht einmal ihr Spiegelbild in Winkas Spiegel war ihr so ähnlich. Paul hatte nicht nur ihr Äußeres gezeichnet, sondern sie auch in ihrem Wesen erfasst.

»Das ist … wirklich gut«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte.

»Findest du?« Paul drehte den Skizzenblock zu sich und betrachtete das Bild. »Hm«, sagte er langsam und wie verwundert, »ich glaube, du hast recht.«

Plötzlich verließen Klinge die Kräfte. Der Kampf mit Wermut, der Verlust ihres Messers, die Gefangenschaft im Haus und jetzt das – es war zu viel gewesen. »Ich bin müde«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Ich muss schlafen.«

»Ach so.« Paul klang enttäuscht. »Ich wollte dich eigentlich noch einmal zeichnen, aber egal.« Er streckte die Hand nach ihr aus.

Klinge sprang zurück und hob die Fäuste. »Rühr mich nicht an!«

»Wieso?«, fragte Paul verdattert. »Ich habe dir letztes Mal doch auch nicht weh getan.«

»Ich meine nicht deswegen«, erwiderte Klinge kurz. »Ich mag es einfach nicht, wenn man mich packt und ungefragt irgendwohin verfrachtet. Du vielleicht?«

Pauls Gesicht hatte sich verdüstert. »Manche haben keine andere Wahl«, sagte er. »Aber wenn es dir lieber ist, bitte.« Er hielt ihr seine Hand mit dem Handteller nach oben hin.

Klinge leckte sich die Lippen und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Die Hand war wie ein trockenes Blatt, redete sie sich ein, oder wie der umgedrehte Hut eines Pilzes. Vorsichtig trat sie darauf und Paul senkte sie in die Schachtel hinab, die auf seinem Schoß stand. Klinge sprang herunter und legte sich zitternd hin.

Kratzend schloss sich der Deckel über ihr. »Ich stelle dich wieder in den Kleiderschrank«, sagte die Stimme ihres Entführers. »Dort bist du sicher.« Räder quietschten und ihr Gefängnis landete mit einem Ruck auf einem Regalbrett. Die Schranktür schloss sich, und um Klinge wurde es dunkel.

Ich muss mich jetzt ausruhen, dachte sie. Für die Flucht brauche ich meine ganze Kraft. Wenig später war sie eingeschlafen.

 

Beim Aufwachen war alles ganz dunkel und still. Sie wusste sofort, dass es Nacht war. Mit steifen Gliedern stand sie auf, trank etwas und aß einige Bissen Brot. Dann setzte sie sich mit gekreuzten Beinen hin, stützte das Kinn in die Hand und überlegte.

Die Schmerzen in ihrem Flügel hatten nachgelassen, doch half ihr das nicht weiter. Ihr Messer war weg, und sie war in einer Schachtel eingesperrt, deren glatte, hohe Wände sie nicht hinaufklettern konnte. Wie sollte sie hier herauskommen?

Da kam ihr ein Gedanke. Klar und deutlich stand er ihr vor Augen wie eine Stimme, die ihren wahren Namen rief: Die Wände ihres Gefängnisses bestanden aus Papier.

Klinge sprang auf, packte die Trinkschale am Rand und kippte sie um. Wasser schwappte heraus und durchtränkte den Teppich unter ihren Füßen. Sie wartete einen Augenblick, bis es in den Boden eingesickert war. Dann ging sie mit schmatzenden Schritten in eine Ecke der Schachtel und begann zu kratzen. Das aufgeweichte Papier löste sich leicht ab, und sie hatte bald ein Loch gepuhlt, durch das sie kriechen konnte.

Sie stieg nach draußen auf das Regalbrett. Vor sich sah sie einen hellen Strich: den Spalt der Schranktür. Vorsichtig ging sie darauf zu und drückte. Nichts geschah. Sie drückte stärker. Die Tür ging auf, und Klinge stürzte nach draußen.

Sie fiel nicht tief, aber der Boden war hart. Sie hielt sich den aufgeschürften Ellbogen, wiegte sich auf den Knien vor und zurück und atmete pfeifend durch die Zähne, bis die Schmerzen nachließen. Als sie den Kopf hob, sah sie als Erstes Pauls fahrbaren Thron. Er stand leer neben dem Bett. Sein stählerner Rahmen glänzte im Mondlicht. Klinge hätte zu gern gewusst, warum ausgerechnet Paul in seiner Familie diese Ehre widerfuhr.

Doch selbst wenn er tagsüber ein König war, im Schlaf sah er ganz gewöhnlich aus: Er hatte die Augen geschlossen, sein Mund war leicht geöffnet. Klinge beobachtete ihn misstrauisch, aber er rührte sich nicht. Auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer.

Sie eilte durch den Gang zum Wohnzimmer, das sie bereits kannte. Auf der Suche nach einem Ausgang untersuchte sie jeden Spalt und jede Ecke, doch vergeblich. Die Türen waren abgesperrt, das einzige Fenster war geschlossen und das in den Boden eingelassene Metallgitter so schwer, dass sie es nicht hochheben konnte. Mit klopfendem Herzen ging sie in die Küche weiter.

Sie überquerte den Fliesenboden und betrachtete die glänzende Vorderseite des Backofens und das glatte, schimmernde Holz der Schranktüren. Wenn sie auf den Küchentresen hinaufkam, erreichte sie von dort vielleicht das Fenster über der Spüle. Es schien einen Spalt offen zu stehen, durch den sie leicht nach draußen schlüpfen konnte.

Sie hatte ihre Flügel seit ihrer Verwundung durch die Krähe nicht mehr benützt, aber jetzt blieb ihr nichts anderes übrig. Sie würde nicht geradeaus fliegen können und auch keine größere Strecke, aber immerhin …

Mit angehaltenem Atem bewegte sie die Flügel langsam nach hinten und wieder nach vorn. Der verletzte Vorderflügel fühlte sich steif an, und von der über die zerrissene Oberfläche streichenden Luft wurde Klinge übel. Erschöpft hockte sie sich hin und versuchte es noch einmal. Sie wiederholte die Bewegung, bis die Übelkeit nachließ. Ihre Flügel schlugen immer schneller und zuletzt hob sie vom Boden ab.

Ganz allmählich stieg sie zum Tresen auf. Zwar schwankte sie wie betrunken, aber sie flog. Es funktionierte! Nur noch wenige Flügelschläge und sie war da.

Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Ziel, deshalb sah und roch sie den Kater nicht, der sich aus dem Dunkel auf sie stürzte und sie mit einem Tatzenhieb zu Boden warf.