ZWEI

 

Bryony richtete sich auf und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. Den ganzen Morgen schrubbte sie schon den Boden des Speisesaals. Jeden einzelnen Stein hatte sie poliert, bis er glänzte, aber sie war noch lange nicht fertig. Malve hatte Bryony wie immer die anstrengendste Hausarbeit gegeben, die sie finden konnte.

Doch das Fenster hinter ihr stand offen und von draußen drangen das leise Rauschen des Regens und der Duft des nassen Grases und frisch umgegrabener Erde herein. Bryony atmete ihn bei der Arbeit tief ein. Fast sieben Jahre waren vergangen, seit sie aus der Eiche geklettert und dem Menschenjungen begegnet war, aber sie hatte den bittersüßen Geschmack der Freiheit nie vergessen. Zwar hielt die Angst vor der Schweigekrankheit sie von einer Wiederholung des Abenteuers ab, aber sie musste oft daran denken.

Alles hatte sich von jenem Tag an geändert, meist zum Schlimmeren: Man hatte sie Winka weggenommen und zu Baldriana gegeben, und dort waren ihre Tage mit Arbeit und Lernen gefüllt, und ihr blieb keine freie Zeit. Sie hatte Lesen und Schreiben gelernt. Da sie ihre verschiedenen Pflichten zur Zufriedenheit der Königin verrichtete, hatte sie eine eigene kleine Kammer am Fuß der Wendeltreppe bekommen. Dort musste sie Aufgaben übernehmen, welche die älteren Feen ihr auftrugen, bis sie alt genug war, eine eigenständige Beschäftigung zu bekommen.

Sie hatte vom Kämmen der Kaninchenwolle bis zum Ausheben neuer Latrinengruben die verschiedensten Arbeiten ausgeführt. Die ganze Zeit stand ihr freilich ein Ziel unverrückbar vor Augen: sie wollte Sammlerin werden. Sammlerinnen arbeiteten hart, wie sie wusste, und hatten keine Zeit für Ausflüge. Außerdem war die Arbeit gefährlich. Feen mit einem Korb auf dem Rücken waren, wenn sie nicht aufpassten, für Raubtiere leichte Beute. Doch Bryony wollte das alles liebend gern in Kauf nehmen, solange sie nur wieder draußen sein konnte.

Die Auswahlkriterien für Sammlerinnen waren weniger der Verstand als vielmehr Kraft und Ausdauer, doch Bryony meinte genug von beidem zu besitzen, um als Kandidatin in Frage zu kommen. Die Frage war nur: Dachte die Königin genauso? Oder würde sie mit ihrem magischen Blick eine andere Aufgabe auswählen, mit der sich Bryony dann eben abfinden musste?

Bryony beschäftigte sich noch nicht lange mit solchen Fragen, denn sie war bisher noch zu jung für die Arbeit einer erwachsenen Fee gewesen. Doch im Winter war sie wie ein Schössling in die Höhe geschnellt und ihr magerer, kindlicher Körper war kräftiger geworden. Inzwischen überragte sie alle anderen Bewohner der Eiche um eine Fliegenlänge. Sie hatte sich angestrengt und gezeigt, dass sie vor keiner noch so unangenehmen Arbeit zurückschreckte. Die Königin konnte sie jederzeit zu einer Audienz rufen. Bryony war bereit.

Sie wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu und schrubbte die Fliesen mit ihrer Bürste. Noch eine Stunde, dachte sie, dann war sie fertig. Dann wollte sie baden und sich in der Bibliothek ein Buch aussuchen als Belohnung dafür, dass sie wieder einmal eine erniedrigende Hausarbeit Malves zufriedenstellend erledigt hatte.

»Bryony! Wo bist du?«

Gedämpft klang die Stimme draußen durch den Gang. Hasenglöckchen rief sie. Lauschend hob Bryony den Kopf. Wenn die Kammerdienerin der Königin sie suchte …

»Da bist du ja!«, Hasenglöckchen eilte in den Speisesaal. »Was machst du hier? Die Küche ist leer, und wir warten alle schon ewig auf dich! Malve sagte, sie hätte dir meine Nachricht vor einer Stunde ausgerichtet.«

Das ist wieder mal typisch, dachte Bryony verärgert. Die Chefköchin freute sich bestimmt insgeheim darüber, dass sie den Boden putzen musste, während sie sich eigentlich auf den wichtigsten Augenblick ihres Lebens hätte vorbereiten sollen. Sie warf die Bürste in den Eimer und stand auf.

»Ach du liebe Gärtnerin«, rief Hasenglöckchen. »In diesem Zustand kannst du der Königin nicht unter die Augen treten!« Sie schob Bryony zur Tür. »Ab ins Bad und dann zu Winka. Beeilung!«

Zeit für lange Erklärungen war keine. Bryony sprang im Laufschritt über einige Tische und rannte draußen den Gang zur Badekammer entlang. Das Wasser in der großen Wanne war kalt. Bryony biss die Zähne zusammen, stieg hinein und schrubbte an dem Dreck unter ihren Fingernägeln. Sie seifte sich ein, wusch sich die Haare, stieg aus der Wanne, wickelte sich in ein Handtuch und eilte den leeren Gang zurück und die Wendeltreppe hoch. Dabei nahm sie immer zwei Stufen auf einmal. Atemlos und tropfend traf sie vor Winkas Tür ein.

Sie hatte kaum geklopft, da flog die Tür schon auf, und zwei Hände zogen sie hastig nach drinnen. »Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht kommen!«, sagte Winka. »Schnell, zieh das an!« Sie drückte Bryony einen weißen Unterrock und ein distelfarbenes Kleid aus einem seidenartigen Stoff in die Arme.

Bryony schlüpfte in den Unterrock und dann in das Kleid, das nach Staub und Rosenblüten roch. Der feine Stoff war federleicht. Das Kleid hatte Puffärmel und einen tiefen, eckigen Ausschnitt und fiel in losen Falten von der Hüfte zu den Knöcheln hinunter.

»Es ist zu kurz.« Winka ging um Bryony herum und zupfte das Kleid aufgeregt zurecht. »Ich habe es befürchtet, obwohl ich es ausgelassen habe – aber Luft bekommst du, ja?« Bryony atmete ein. »Aber nicht zu tief«, warnte Winka hastig, »sonst platzen die Nähte und Pechnelke macht mir ewig Vorwürfe. Warum hast du so lange gebraucht?«

»Ich wusste nicht, dass ich kommen sollte«, sagte Bryony.

Winka nahm einen Kamm und bearbeitete damit Bryonys Haare. »Du meinst, Malve hat dir nichts gesagt? Das ist aber gar nicht nett von ihr! Es wird ihr noch leid tun, wenn …«

»Fertig?«, fragte Hasenglöckchen hinter ihnen. Bryony drehte sich um. Die königliche Kammerdienerin stand in der Tür und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.

»Ich wollte ihr gerade die Haare aufstecken. Egal.« Winka reichte Bryony zwei Schlüpfschuhe.

Bryony bückte sich, um die Schuhe überzustreifen. Sie waren wie das Kleid zu klein, aber es musste gehen. Winka schob sie zu Hasenglöckchen, die sie prüfend von oben bis unten betrachtete und dann seufzte. »Na ja, es geht eben nicht anders. Hier.« Sie gab Bryony eine lange, flaumige Feder.

»Wozu ist die?«, fragte Bryony.

»Die gibst du Ihrer Majestät«, sagte Hasenglöckchen. »Das gehört zum Zeremoniell. Jetzt beeil dich!«

 

Am Eingang des Audienzsaals blieb Bryony stehen und blickte zu den prächtigen Teppichen hinauf, die von den Balken herunterhingen. Obwohl vom Alter verschlissen, leuchteten ihre kunstvoll verschlungenen Muster mit Vögeln und Blumen in den herrlichsten Farben. Keine noch lebende Fee wusste, wie man solche Farben erzeugte, geschweige denn vergleichbare Muster zeichnete. Bryony spürte bei ihrem Anblick einen Kloß im Hals. Wie hatten diese Kunstfertigkeit und so viele andere schöpferische Fähigkeiten ihres Volkes für immer verloren gehen können? Es schien so verkehrt.

Hasenglöckchen räusperte sich an ihrem Ohr laut und rief: »Ihre huldreiche Majestät Königin Amaryllis bittet ihre Untertanin, näher zu treten.«

Am anderen Ende des hohen Gewölberaums erhob sich ein halbrundes Podest. Darauf stand ein mit Rankenmustern verzierter Sessel und auf dem Sessel saß die Königin des Eichenvolks. Ihr seidenes Gewand lag in Falten um ihre Füße ausgebreitet. Ihre Haare hatten die Farbe des Honigweins und wurden von einem smaragdbesetzten Reif bekrönt. Sie hatte ein anmutiges Gesicht, doch zeigte es keinerlei Gefühlsregung, und ihre Augen blickten den Ankömmlingen kalt entgegen.

»Geh zu ihr«, flüsterte Hasenglöckchen und gab Bryony einen Stoß.

Bisher war Bryony merkwürdig gefasst gewesen. Nachdem sie die Königin die Gärtnerin weiß wie lange hatte warten lassen und dann mit nassen Haaren und schlecht sitzendem Kleid erschienen war, hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihre Lage überhaupt nicht schlimmer werden konnte. Doch jetzt fiel ihr plötzlich ein, warum sie hier war, und dass sie unbedingt Sammlerin werden wollte. Und sie stolperte schon beim ersten Schritt.

Ein Raunen lief durch den Raum und Bryonys Wangen glühten vor Scham. Trotzig straffte sie die Schultern und ging weiter. Die Feder hielt sie vor sich hin. Bloß nicht die Spülküche, betete sie stumm, lieber alles andere … Zu Malve in die Lehre gehen zu müssen wäre noch viel schlimmer gewesen als die Enttäuschung, nicht Sammlerin werden zu können.

Sie war am Ende des Teppichs angekommen, da sprach die Königin. Ihre Stimme klang unnahbar.

»Knie nieder.«

Bryony fiel auf die Knie. Die Naht unter ihrer Achsel riss, und sie zuckte zusammen. Sie spürte den forschenden Blick der Königin auf sich, und ihr war unbehaglich zumute.

»Willst du mit dem heutigen Tag in meine Dienste treten?«, fragte Königin Amaryllis.

»Jawohl«, antwortete Bryony.

»Gib ihr die Feder«, zischte Hasenglöckchen. Bryony stand ungeschickt auf, trat vor den Thron und hielt der Königin die Feder hin.

»Ich nehme deine Dienste an«, sagte Amaryllis. »Gibst du mir deine Ehre?«

Bryony wusste nicht genau, was sie damit meinte, aber es klang harmlos. »Ja«, sagte sie.

»Ich nehme deine Ehre an«, sagte die Königin. Sie senkte die Stimme. »Und gibst du mir … deinen Namen?«

Bryony erstarrte. Zusätzlich zu dem von der Eimutter geerbten Gebrauchsnamen wurde jede Fee mit einem geheimen Namen geboren, der nur ihr gehörte – wer diesen Namen kannte, konnte vollständig über sie gebieten. Sicherte die Königin sich auf diese Weise die Treue ihrer Untertanen? War es Verrat, den Namen nicht zu nennen?

Nur eine einzige Antwort fiel ihr ein, mit der sie die Schwierigkeit umgehen konnte. Ihre Stimme zitterte. »Ich heiße Bryony, Majestät.«

Ein leises Seufzen lief durch den Saal, und Amaryllis lehnte sich mit einem unergründlichen Lächeln zurück. »Ich nehme deinen Namen an. Doch jetzt rufe ich die Weisheit des Blickes auf, denn ich will dir die Art deines Dienstes verkünden.«

Eine lange Pause entstand, und die hyazinthenblauen Augen der Königin richteten sich in die Ferne. Dann kehrten sie wieder zu Bryony zurück. »Bryony«, sagte die Königin, »du wirst zu Dorna in die Lehre gehen.«

»Wie bitte?«, rief eine vertraute Stimme im hinteren Teil des Raums fassungslos. Sie wurde allerdings sofort von den anderen Feen zum Schweigen gebracht. Oben auf dem Podest bekam Bryony weiche Knie, und alles schien sich um sie zu drehen. Mit Mühe hielt sie sich aufrecht. »Verzeihung?«, fragte sie schwach.

»Der Blick sagt es, deshalb soll es auch so sein«, sagte die Königin. »Du wirst als meine neue Jägerin ausgebildet.« Ihre Stimme klang fest, doch in ihren Augen glomm ein Rest von Zweifel. »Möge die große Gärtnerin dich schützen und dir beistehen, Bryony von der Eiche.«

Damit hatte Bryony in ihren wildesten Träumen nicht gerechnet. Die gefährlichste Arbeit im ganzen Eichenstaat – und zugleich die, die mit der größten Freiheit verbunden war. Sammlerinnen mussten hart arbeiten und graben und sich bei Gefahr in Erdlöchern verstecken. Doch die königliche Jägerin flog durch die Lüfte. Geschwindigkeit und Geschick waren ihr einziger Schutz. Sie brauchte nicht nur Kraft und eine ruhige Hand, sondern auch ein scharfes Auge und eine schnelle Reaktion. Vor allem aber durfte sie die Eiche regelmäßig verlassen, nicht nur während der Wachstumszeit, sondern das ganze Jahr über. Dorna würde eine strenge Lehrerin sein, aber selbst das konnte in diesem Augenblick Bryonys Freude nicht schmälern.

»Majestät«, stammelte sie und verbeugte sich tief, »ich kann gar nicht sagen …«

Doch Amaryllis schüttelte nur den Kopf und richtete ihren Blick auf die vor dem Podest versammelten Feen.

»Ihr seid entlassen«, sagte sie mit ihrer klaren Stimme. »Hol deine Schülerin ab, Dorna.« Sie stand ohne ein weiteres Wort auf, winkte Hasenglöckchen, mit ihr zu kommen, und rauschte hinaus.

Wie benommen stieg Bryony vom Podest hinunter. Sie hörte die anderen Eichenfeen verächtlich oder mitleidig flüstern. Offenbar glaubten nur die wenigsten, dass sie ihrer neuen Stellung gewachsen war. Einige schienen sie sogar als Todesurteil zu betrachten. Vor allem Malve lächelte zufrieden, als sei die neue Beschäftigung eine gerechte Strafe für Bryony. Das Lächeln verging ihr allerdings, als Dorna an ihr vorbeimarschierte und sich vor Bryony stellte.

»Was starrt ihr sie so an?«, fragte sie barsch. »Sie geht zu mir in die Lehre, nicht zu euch, also raus.«

Widerstrebend gingen die Feen. Nur Winka zögerte noch kurz und betupfte sich die Augen, als sei etwas hineingeraten. Dann eilte sie den anderen nach.

»Bei der großen Gärtnerin«, brummte Dorna, »was für ein verrückter Tag. Na, dann wollen wir mal.« Sie sah Bryony an. »Zieh das komische Kleid aus, das du anhast, und hol dir was Richtiges. Wir gehen nach draußen.«

 

Winka wrang die Hände, als sie das eingerissene Kleid sah, aber sie suchte Bryony sofort einen Kittel, eine Weste und Kniehosen heraus. Offenbar brauchten Jägerinnen für ihre Kleider nichts zu zahlen. Winka feilschte nicht wie sonst. Sie entschuldigte sich sogar dafür, dass die Kleider so schlecht passten, und versprach, Bryony so bald wie möglich neue zu schneidern. Bryony war angenehm überrascht. Weniger angenehm waren Winkas ständiges Seufzen und die traurigen Blicke, die sie Bryony zuwarf. Sie war froh, als sie endlich aufbrechen konnte.

Dorna wartete beim Tor der Königin am Fuß der Wendeltreppe auf sie. Gemeinsam zogen sie die schweren Torflügel auf und kletterten die Wurzelleiter hinunter. Ein neblig grauer Nachmittag empfing sie. Die Sonne drang gedämpft durch den Wolkenschleier, und es roch nach Erde und Laub. Dorna marschierte über den Rasen. Bogen und Köcher baumelten an ihrer Schulter. Bryony blieb kurz stehen und blickte an der gewaltigen Eiche hinauf. Sie hatte sie noch nie von außen betrachtet, und ihr Anblick erfüllte sie mit Ehrfurcht.

Die Eiche war mindestens fünfhundert Jahre alt und hatte in ihrem hohlen Inneren in glücklicheren Tagen über zweihundert Feen beherbergt. Sogar nach menschlichen Maßstäben gemessen war sie riesig. Bestimmt hatte Königin Amaryllis nur mit einem Zauber verhindern können, dass auch die Menschen hier einziehen wollten, dachte Bryony. Sie empfand geradezu Mitleid mit den Menschen, auch wenn diese die Feen vielleicht mit der Schweigekrankheit angesteckt hatten. Ein Haus aus totem Stein konnte doch unmöglich mit der majestätischen Würde einer lebenden Eiche mithalten.

»Trödle nicht und komm«, rief Dorna barsch. »Wir müssen arbeiten.«

Bryony folgte ihr hastig. Sie marschierten über die feuchte Erde der Blumenbeete, duckten sich unter der Ligusterhecke hindurch und schlidderten den taunassen Hang zu der Wiese dahinter hinunter. Auf der Wiese stand hohes Gras, gemischt mit Unkraut und Wildblumen. In der Nähe gluckerte der Bach, von dem die Eichenfeen ihr Wasser holten.

»Erste Lektion«, sagte Dorna. »Wie man draußen überlebt.« Sie legte die Hand über die Augen und blickte nach oben. »Immer wenn du die Eiche verlässt, musst du dich zuerst nach Raubtieren umsehen. Die meisten Vögel und Tiere beachten uns nicht weiter, aber Füchse fressen uns, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen. Dasselbe gilt für Katzen, Eulen und besonders Krähen.« Dorna senkte die Hand, drehte sich langsam um sich selbst und suchte die Wiese nach allen Richtungen ab. »Nimm dich vor allem vor einer großen, hässlichen Krähe in Acht – dem alten Wermut, wie wir ihn nennen. Er hat Fingerhut getötet, meine Vorgängerin als Jägerin, und ist seitdem ständig hinter uns Feen her.«

Bryony blickte besorgt auf ihre leeren Hände. Sie hatte keine Waffe dabei. »Was tun wir, wenn wir ihm begegnen?«

Dorna schnaubte. »Was für eine Frage! Natürlich verstecken wir uns. Wenn wir es schaffen, in der Eiche, sonst im nächsten Erdloch.«

»Ach so.« Bryony war merkwürdig enttäuscht.

»Die Luft ist rein«, sagte Dorna. »Folge mir.« Sie breitete ihre Flügel aus und hob ab.

Bryony war noch nie geflogen, aber sie überlegte nicht lange. Blind sprang sie Dorna nach und vertraute auf ihren Instinkt. Sie wurde nicht enttäuscht. Sie schwankte ein bisschen, drohte eine Schrecksekunde lang abzustürzen und – flog. So geht das also, dachte sie erschrocken und berauscht zugleich. Ich fliege!

Zunächst glitten sie im Tiefflug über das Gras und in gerader Linie auf den nahen Wald zu. Vor den ersten Bäumen bog Dorna ab. Bryony folgte ihrem Beispiel. Als ihre Lehrerin nach oben flog, tat sie dasselbe. Mit jedem Flügelschlag wuchs ihr Selbstbewusstsein.

Dorna übte verschiedene einfache Manöver mit ihr, und Bryonys anfängliche Nervosität legte sich rasch. Sie merkte, wie schnell man beim Fliegen war und wie ein Zucken der Flügelspitze genügte, die Richtung zu ändern. Sie konnte im Sturzflug nach unten gehen, Purzelbäume schlagen und sogar in der Luft schweben wie die Libellen mit ihren ähnlichen Flügeln. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich danach gesehnt zu fliegen, doch nie und nimmer hätte sie gedacht, dass es so leicht sein würde.

Bald genügte es ihr nicht mehr, Dorna zu folgen, und sie flog in Schlangenlinien über die Wiese. Aus der Ferne hörte sie Dorna etwas rufen. Richtig, sie musste auf die Krähen aufpassen. Mit einem raschen Blick vergewisserte sie sich, dass keine zu sehen waren, und stieg zum Himmel auf.

Der Wind trug sie immer höher, und sie sah zum ersten Mal eine Reihe hoher Stangen am südlichen Rand der Wiese. Schwarze Kabel verbanden sie – sollte das eine Art Hindernis darstellen? Auf dem obersten Kabel saßen Spatzen wie Perlen aufgereiht. Neugierig flog sie näher.

»Halt!«, ertönte ein Schrei, und Bryony drehte sich danach um. Dorna sauste durch die Luft auf sie zu. »Diese Drähte darfst du auf keinen Fall berühren!«, schrie sie aufgeregt. Sie packte Bryony am Arm und riss sie zurück. Vor Schreck vergaß Bryony zu fliegen und zog Dorna mit ihrem Gewicht nach unten. Sie landeten in gefährlicher Nähe zu einigen hohen Brennnesseln im Gras. Einen Moment lang waren sie so außer Atem, dass sie nicht sprechen konnten.

»Fliege nie wieder ohne mich drauflos«, keuchte Dorna schließlich. Sie stand auf und klopfte sich den Dreck von den Kleidern. Bryony starrte benommen zu den Stangen über ihr hinauf.

»Was sind das für Kabel?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht, zu was sie gut sind. Die Menschen haben sie gemacht. Ich weiß nur, dass sie voller Magie stecken. Wenn du sie berührst, bist du tot, noch bevor du auf dem Boden aufschlägst.«

»Aber die Vögel …«

Dorna explodierte. »Hast du einen Kopf aus Holz? Du bist kein Vogel! Genauso wenig wie Bilsa. Damals riss ein Sturm ein Kabel herunter. Bilsa ging nachsehen, berührte es und puff! Nichts blieb von ihr übrig, nicht mal ein Ei.«

»Hast du gesehen, wie es passiert ist?«

»Nein, aber Fingerhut, meine alte Lehrerin. Oder glaubst du, ich denke mir das alles nur aus?«

Dorna klang bitter, und Bryonys Wangen brannten. »Nein«, sagte sie, »ich habe mich nur gefragt, woher du es weißt.«

»Baldriana führt darüber Buch«, sagte Dorna. »Jedes Mal, wenn eine von uns stirbt, schreibt sie den Namen und die Todesursache hinein. Wenn du nicht der nächste Eintrag sein willst, folge mir lieber, wenn ich dich rufe. Aber gleich beim ersten Mal, hast du gehört?«

Bryony nickte. Sie stand auf und zuckte zusammen. Der ganze Körper tat ihr weh, vor allem die Flügelmuskeln.

Dorna blickte wieder zum Himmel hinauf. »Wir waren lange genug draußen«, sagte sie. »Lass uns zurückkehren, bevor die Krähen auf uns aufmerksam werden.« Sie marschierte durch das Gras voran.

Bryony eilte neben sie. »Hast du je gegen eine gekämpft?«, fragte sie. »Eine Krähe, meine ich.«

»Wenn ich das hätte, könnte ich mich jetzt nicht mit dir unterhalten«, erwiderte Dorna.

»Und was machst du, wenn du einem Menschen begegnest?«

»Gar nichts«, sagte Dorna kurz. »Und dasselbe gilt für dich, wenn du auch nur halb so viel Verstand wie ein Kaninchen hast. Wenn die Menschen im Garten herumstümpern oder mit ihrem lärmenden Gefährt den Rasen mähen, verstecken wir uns, bis sie weg sind.« Sie musterte Bryony scharf. »Oder hast du eine bessere Idee?«

Bryony schüttelte den Kopf.

»Das habe ich auch nicht vermutet. Wenn du jetzt bereit bist, deine Flügel vernünftig zu benützen, statt nur mit ihnen herumzualbern, dann lass uns nach Hause fliegen.«

 

Ab da verbrachte Bryony jeden Tag mit Dorna und erlernte nach und nach das Handwerk der Jägerin. Nahtlos gingen die Wochen ineinander über. Auf Geheiß ihrer Lehrerin rannte, kletterte und flog sie durch die Eichenwelt. Sie lernte ihre Gefahren kennen, zugleich wuchs ihr Mut. Das Fliegen bereitete ihr nach wie vor am meisten Spaß, aber auch der andere Unterricht gefiel ihr immer besser. Sie war stolz auf ihre zunehmende Kraft und Geschicklichkeit und fand die Jagd aufregend. Ihre neuen Fähigkeiten verliehen ihr mehr Respekt bei den anderen Feen. Sie konnte mit ihnen gleichberechtigt Tauschhandel betreiben und dadurch etwa richtige Kerzen und ganze Seifenstücke erwerben. Sie musste sich nicht mehr mit Stummeln und Resten begnügen, die sie sich durch Hausarbeiten verdiente.

An Tagen, an denen sie wegen schlechten Wetters oder der Anwesenheit von Menschen im Garten nicht ausfliegen konnten, zeigte Dorna Bryony, wie man Waffen herstellte und sie gebrauchte. Mit ihrem ersten selbstgebauten Bogen schoss Bryony auf Zielscheiben, bis sie von zehn Mal acht Mal in die Mitte traf. Anschließend übte sie mit Mäusen, Fröschen und fliegenden Insekten weiter. Sie bekam Hornhaut an den Fingern und harte Muskeln und schärfte ihre Sinne.

Dorna zeigte ihr, wie man ein geschossenes Tier rasch ausnahm und zerlegte, bevor die Krähen darauf aufmerksam wurden. Sie zeigte ihr die besten Verstecke der Eichenwelt und den geheimen Tunnel, der unter der Hecke hindurch in die Eiche führte und den nur die Jägerinnen und Sammlerinnen kannten. Bryony hörte ihr aufmerksam zu, lernte und setzte die neuen Fertigkeiten ein. Sie glaubte inzwischen fest daran, dass die Königin mit ihrem magischen Blick recht gehabt hatte: Von allen Aufgaben der Eichenwelt war es ihr, Bryony, bestimmt, die Aufgabe der Jägerin zu übernehmen.

Als Bryony und Dorna eines Sommerabends schwerbeladen mit Eichhörnchenfleisch von der Jagd heimkehrten, sah Bryony auf der Krone eines nahen Baums einen schwarzen Schatten. Dort saß eine große Krähe. Ihre gelben Augen waren hungrig auf die beiden Feen gerichtet.

»Das ist er«, zischte Dorna. »Der alte Wermut. Lauf!«

Sie und Bryony eilten auf die schützende Hecke zu, doch die Krähe stieß von oben auf sie herab und versperrte ihnen krächzend den Weg. Ein schwarzer Flügel warf Bryony um. Als sie sich wieder aufrappelte, drückte die Krähe Dorna mit ihren geschuppten Krallen auf den Boden und stach kreischend mit dem Schnabel auf sie ein. Anschließend legte sie den Kopf in den Nacken und schluckte. Bryony wurde übel. Doch dann sah sie, dass Dorna ihren Ranzen vor sich geschoben hatte und die Krähe nur das Fleisch fraß, das sie erbeutet hatten.

Zeit zum Nachdenken blieb nicht, sie musste sofort handeln. Sie ließ ihren Ranzen fallen, riss das Knochenmesser aus dem Gürtel, stürzte sich auf die Krähe und sprang rittlings auf ihren Rücken. Ein Gestank nach Staub und blutigem Fleisch schlug ihr entgegen und machte sie ganz benommen. Sie rutschte mit den Knien über die glatten Federn und fiel hinunter, bevor sie zustechen konnte. Zum Glück landete sie auf den Beinen. Als der alte Wermut sich flatternd nach ihr umdrehte, war sie bereit. Mit ihrer ganzen Kraft stieß sie ihm das Messer in die Schulter. Die Krähe schrie auf und schlug wie verrückt mit ihren schwarz gefiederten Flügeln.

Bryonys Messer zerbrach, und sie wich mit dem nutzlosen Griff in der Hand stolpernd ein paar Schritte zurück. Ihr Bein brannte auf einmal wie Feuer, doch sie verdrängte die Schmerzen. Sie nahm einen Kiesel vom Boden auf und schleuderte ihn der Krähe an den Kopf. Er prallte gegen den Schädel, und der alte Wermut stieg krächzend und flügelschlagend in die Luft auf.

Dorna kroch auf Händen und Füßen den Hang hinauf und verschwand zwischen den Wurzeln der Hecke. Ihren Ranzen ließ sie liegen. Bryony warf noch einen Stein, um sich die Krähe vom Leibe zu halten, und rannte Dorna nach. Keuchend sahen sie vom Dunkel der schützenden Hecke aus zu, wie Wermut auf ihre Ranzen einstach. Zuletzt waren nur noch einige Lederfetzen davon übrig. Wermut krächzte verdrossen und flog weg.

Dorna kroch weiter zur anderen Seite der Hecke hinüber. Sie bewegte sich steif und hielt sich mit der Hand die geprellten Rippen. »Du Fliegenhirn! Das hätte dich das Leben kosten können!«

Bryony hinkte hinter ihr her. Sie blutete an der Stelle am Bein, an der die Krähe sie mit ihrer Kralle gekratzt hatte. Zum Glück ging die Wunde nicht tief. »Ich weiß«, sagte sie.

»Du hast Wermut angegriffen! Eine ausgewachsene Krähe.« Dorna schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum bist du nicht weggelaufen?«

»Ich weiß nicht.« Bryony überlegte. »Ich hatte einfach das Gefühl, ich musste es tun.«

»Du bist verrückt«, sagte Dorna nur. Sie schulterte ihren Köcher und machte sich auf den Weg zur Eiche. Bryony setzte sich ebenfalls in Bewegung. Sie waren erst einige Schritte gegangen, da blieb Dorna mit gesenktem Kopf stehen. Ihre Wangen hatten sich gerötet. »Und du hast mir wohl das Leben gerettet«, murmelte sie.

»Hm«, machte Bryony und dann noch: »Vielleicht.« Eine andere Antwort fiel ihr nicht ein.

»Aber begehe nie wieder eine solche Dummheit!« Dorna marschierte wütend weiter.

Bryony schloss zu ihr auf. »Ich habe ihn an der Schulter verwundet«, sagte sie. »Ab jetzt hat er eine steife Schulter.«

Dorna schnaubte ungläubig und ging weiter.

»Mit vereinten Kräften könnten wir ihn vielleicht sogar töten«, fuhr Bryony fort.

Dorna fuhr zu ihr herum, packte sie an beiden Schultern und schüttelte sie so heftig, dass ihr Hören und Sehen verging. »Sag so etwas nie wieder! Das schafft niemand, nicht einmal du. Hast du gehört?«

Bryony hatte sie gehört, doch die Warnung beeindruckte sie nicht. Nur eine Wendung ging ihr durch den Kopf. Nicht einmal du, hatte Dorna gesagt. Wenn Dorna das sagte, musste etwas dran sein. Sie fühlte sich geradezu geschmeichelt. Das schafft niemand, nicht einmal du.

Und ich schaffe es doch, dachte sie. Sie war stehen geblieben und sah Dorna nach. Ich brauche nur ein besseres Messer.