ZWEIUNDZWANZIG
Paul sagte nichts, aber Klinge spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Sein Kehlkopf bewegte sich, und er schluckte. Sie flog von seiner Schulter auf sein Knie und blickte zu seinem Gesicht hinauf.
»Glaubst du mir jetzt?«, fragte sie.
Paul kniff die Augen zu und ballte die Hände auf den Armlehnen des Rollstuhls zu Fäusten. »Ich würde dich am liebsten umarmen«, sagte er. »Aber das geht nicht. Du bist …«
»Zu klein, ich weiß.« Klinge ballte ebenfalls die Fäuste und widerstand dem Verlangen, sich an ihn zu werfen, sich von ihm in die Hand nehmen und an die Brust drücken zu lassen. »Und das werde ich ab jetzt auch bleiben, weil ich meine wenige Zauberkraft aufgebraucht habe. Deshalb gehe ich jetzt … endgültig.«
»Warum hast du mir dann deinen Namen verraten? Ich könnte dir befehlen zu bleiben. Ich könnte dich von jedem beliebigen Ort zu mir rufen und du müsstest kommen, egal was deine Königin oder sonst jemand sagt.«
»Aber du wirst es nicht tun«, sagte Klinge. Sie streckte ihre kleine Hand aus und legte sie auf seine. »Deshalb.«
Pauls Trotz schmolz dahin, und er sank in sich zusammen. »Es muss doch eine Alternative geben«, sagte er. »Es kann doch nicht … einfach so enden.«
Klinge sah ihn bekümmert an und brachte keinen Ton heraus. Wie konnte sie ihn trösten, wo sie doch beide wussten, dass es keine Lösung für ihr Problem gab?
»Du hast dich doch schon einmal in einen Menschen verwandelt«, begann Paul erneut.
»Nur durch Zufall. Und du hast ja selbst gesehen – der Zauber hält nicht lange an.«
»Ich weiß.« Er beugte sich plötzlich eindringlich vor. »Aber wenn du dich für immer in einen Menschen verwandeln könntest … würdest du das wollen?«
In einen Menschen verwandeln – was für ein verlockender und zugleich erschreckender Gedanke. Immer mit Paul zusammen zu sein, danach sehnte sie sich am meisten. Doch müsste sie dafür das einzige Zuhause verlassen, das sie je gehabt hatte, und ein neues Leben in einer Welt anfangen, die sie kaum kannte. Sie wäre verletzlich, abhängig, verunsichert – ein Zustand, der ihr verhasst war.
Doch am schlimmsten war: Sie würde nie wieder fliegen können.
Sie rutschte unruhig auf seinem Knie hin und her. »Ja. Nein. Ich weiß nicht … Warum fragst du? Warum über etwas reden, das sowieso unmöglich ist?«
»Weil es, wenn wir mit deiner Königin richtig verhandeln, vielleicht doch möglich ist.«
»Du meinst … wir sollten die Königin bitten, mich zu einem Menschen zu machen?«
Paul nickte.
Ich verwandelte sie in einen Menschen, hörte sie Amaryllis in Gedanken sagen, und verbannte sie für immer aus der Eiche. Paul hatte recht, dachte Klinge, und ein Schauer durchlief sie. Die Königin hatte schon einmal eine Fee in einen Menschen verwandelt, sie konnte es jederzeit wiederholen.
Aber warum sollte sie es tun? Nur Klinge hatte einen Vorteil davon, sie konnte Amaryllis im Gegenzug nichts dafür bieten. Zwar hatte sie noch eine Bitte frei, doch die Königin hatte ausdrücklich eingeschränkt, dass durch die Bitte niemand gefährdet werden dürfe. Und wenn die Feen ihre Jägerin verloren, waren sie gefährdet. Das sah auch die Königin bestimmt nicht anders.
»Tut mir leid«, sagte sie mutlos. »Wenn das Aussicht auf Erfolg hätte, würde ich fragen … aber es geht nicht. Die Königin würde nie zustimmen.«
»Wir können also nichts tun?«, fragte Paul. »Du kehrst zur Eiche zurück, und ich bleibe hier – und dann sterben wir beide?«
Klinge wandte sich ab. Sie konnte Pauls verzweifelten Blick nicht ertragen. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.« Es sei denn, die Königin irrt sich. Aber das schien höchst unwahrscheinlich.
»Und wenn du deiner Königin sagst, du hättest ihren Befehlen nicht gehorcht?«
Klinge breitete die Flügel aus und stieg auf. »Ich komme schon zurecht«, log sie. Sie näherte sich rasch seinem Gesicht und streifte seine Wange mit den Lippen. »Leb wohl, Paul.«
Bevor er die Hand nach ihr ausstrecken konnte, war sie schon verschwunden.
Der Weg vom Haus zur Eiche war ihr noch nie so lang vorgekommen. Über ihr kreiste eine Krähe, deren Flügel schwarze Keile aus dem Mond herausschnitten. Von hinter der Buchshecke kam ein Rascheln, gefolgt von einem aufgeregten Fiepen, dann huschte ein Hermelin mit einer zappelnden Maus im Maul durch das Gras. Auch der böige Wind schien sich gegen Klinge verschworen zu haben und drohte, sie bei der geringsten Unaufmerksamkeit himmelwärts zu blasen oder auf den Boden zu drücken. Sie musste ihre ganze Kraft aufbieten, um den Rasen zu überqueren. Als sie endlich in den obersten Ästen der Eiche ankam, waren ihre Sinne geradezu schmerzhaft angespannt.
Trotzdem bemerkte sie den Schatten nicht, der von oben auf sie herabstieß, sie an den Hüften packte und ihr mit der Hand den Mund zuhielt. Sie hörte aufgeregtes Flügelschlagen. Bevor sie noch einen Laut von sich geben konnte, wurde sie schon rückwärts in die Luft gerissen. Sie stürzte dreißig Krähenlängen tief durch Blätter und Äste und landete atemlos am Fuß der Eiche.
»Geschafft«, sagte eine Stimme. Sie klang ein wenig erstaunt und zugleich stolz. Wie als nachträglichen Einfall fügte sie hinzu: »Autsch!«
Klinge fuhr herum. Hinter ihr stand Dorna und rieb sich die schmerzende Schulter. »Was fällt dir ein …«, begann sie empört, doch Dorna ließ sie nicht ausreden.
»Ich warte hier draußen schon die halbe Nacht darauf, dass du aufhörst, dich mit diesem Menschen zu streiten und zur Eiche zurückkehrst. Bevor du die Königin aufsuchst, musst du dir anhören, was ich zu sagen habe.«
»Du bist mir zum Haus gefolgt?«, fragte Klinge ungläubig.
»Ich musste schließlich wissen, ob du den Menschen töten würdest oder nicht.«
Klinge griff sich mit der Hand an die Stirn. »Moment mal, woher weißt du das alles eigentlich? Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit ich Pechnelkes Zimmer verlassen habe.«
»Gesehen nicht«, sagte Dorna mit grimmiger Zufriedenheit. »Aber ich habe vor dem Fenster der Königin dein Gespräch mit ihr belauscht. Ich habe nicht alles verstanden, aber scheinbar genug.« Missbilligend betrachtete sie Klinges ramponierte Flügel. »Also das hat sie gemeint, als sie davon gesprochen hat, sie würde deine Flügel wiederherstellen. Hast du wirklich deine ganze Zauberkraft bei diesem Menschen aufgebraucht? Wie kann man so dumm sein …«
»Du kannst mich auch mal, Dorna«, sagte Klinge wütend. Dorna schnaubte. »Aber du wolltest mir etwas sagen. Was?«
»Pechnelke geht es besser. Wir waren uns zuerst nicht sicher, aber dann setzte sie sich auf und verlangte nach etwas zu essen. Da wussten wir es.«
Klinge schwieg. Ihr Herz hämmerte, dass sie es am ganzen Körper spürte. Das war der Beweis, dass die Eichenfeen trotz der Ängste der Königin zum Überleben nach wie vor den Kontakt mit der Welt der Menschen brauchten. Auch Jasmins Abspaltung hatte daran nichts ändern können. Heides tragische Geschichte hatte Pechnelke in einer Weise angesprochen und belebt, wie ihr ganzes Wissen von den Traditionen der Feen es nicht vermocht hatte.
Das hieß aber auch …
»Ich habe etwas zum Verhandeln«, flüsterte Klinge.
»Damit du deine Flügel wiederbekommst? Das hoffe ich doch. Glaub mir, ich bin nicht scharf darauf, wieder die Jägerin der Königin zu werden. Aber der Leichtsinn, mit dem du draußen herumschwirrst, ist wirklich eine Schande. Dass der alte Wermut dich nicht gefressen hat, grenzt an ein Wunder.«
Klinge musste an die tote Krähe denken, die steif und leblos auf der Straße gelegen hatte. Davon hatte sie den anderen in ihrer Aufregung gar nicht berichtet. »Der alte Wermut ist tot. Die Menschen …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, und sie verstummte.
»Ja?«, fragte Dorna.
Klinge fasste sie an den Schultern. »Dorna, du musst jetzt sofort etwas für mich tun, während ich mit der Königin spreche. Wahrscheinlich tust du es nicht gern, aber ich schwöre dir, es ist wichtig.«
»Sag doch einfach, was«, meinte Dorna ungeduldig.
Klinge gehorchte.
Dorna wurde kreideweiß im Gesicht, und sogar ihre Lippen verloren jede Farbe. Mühsam straffte sie die Schultern. »Also gut«, sagte sie tonlos.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, Dorna.«
»Schon recht.« Dorna schnaubte wieder, doch klang es diesmal mehr wie ein Schluchzen. »Hör auf zu quasseln und geh nach oben. Die Königin wartet.«
»Ich fürchtete schon, du würdest überhaupt nicht mehr zurückkehren«, sagte Amaryllis. »Was hat dich so lange aufgehalten?«
Klinge schlüpfte durch das Fenster, sprang auf den Boden und wischte sich die Hände ab. »Ich bitte um Verzeihung, Majestät. Ich habe länger gebraucht als erwartet.«
»Du hast es also getan.« Zu Klinges Überraschung seufzte die Königin und hob die Hand an die Augen. »Fast hätte ich gewünscht, du hättest die Prüfung bestanden«, fuhr sie so leise fort, dass Klinge sie kaum verstand. »Aber so ist es besser.«
»Prüfung?«, fragte Klinge. »Wenn Ihr meint, Paul zu töten …«
»Er wird nicht sterben«, unterbrach Amaryllis sie. »Er schläft nur und wird morgen ausgeruht aufwachen. Aber du wirst fortan in dem Bewusstsein leben, dass du ihn töten wolltest, und die Scham über deinen Verrat wird ab jetzt jeden Gedanken an ihn beflecken.« Klinge sah sie entsetzt an. »Habe ich dich nicht gewarnt, der Freundschaft mit diesem jungen Menschen sei keine Zukunft beschieden? Jetzt hast du es selbst bewiesen.«
»Halt«, sagte Klinge. »Wenn ich nun gar nicht versucht habe, ihn zu töten?«
»Wenn euch wirklich das Band der Liebe verbunden hätte«, sagte Amaryllis ungeduldig, »hätten keine Drohung und keine Worte dich dazu bringen können, ihn zu töten. Als du den Trank aus meiner Hand nahmst, da wusste ich, was ich so lange gefürchtet hatte: dass die Feen meines Volkes nicht mehr lieben können.«
»Lieben können …« Sprachlos vor Empörung starrte Klinge sie an. Doch die Königin hatte sich schon abgewandt.
»Ich mache dir keine Vorwürfe.« Sie betrachtete den aufgehenden Mond durch das Fenster. »Für eine andere Entscheidung fehlte dir die Kraft. Seit wir uns durch die große Spaltung von der Welt der Menschen abgeschnitten haben, sind die Feen in ihrer Zuneigung immer flacher, kleinlicher und eigennütziger geworden. Ich habe zwar versucht, Freundschaft zu ermutigen und die wenigen zu belohnen, die dazu fähig schienen, doch ich wusste, dass meine Bemühungen vergeblich waren. Die Machenschaften Jasmins haben die Eiche bis in die Wurzeln hinein vergiftet.«
Klinge schüttelte den Kopf. »Nein, da irrt Ihr Euch. Glaubt Ihr wirklich, nur dass wir nicht mehr wie früher sein können, beweise schon, dass wir uns auch nicht bessern können? Außerdem habt Ihr mir eben nicht zugehört – ich sagte, ich habe es nicht getan.«
Die Königin musterte sie scharf. »Soll das heißen, du hast deinen Auftrag nicht ausgeführt? Du hattest keine Gelegenheit dazu?«
»Doch«, erwiderte Klinge trotzig, »die Gelegenheit hatte ich. Aber ich wollte nicht.«
»Ich habe dich gewarnt, dass du sterben müsstest, wenn du nicht gehorchst – dass du nur durch Gehorsam deine Flügel zurückbekommen und mir weiter als Jägerin dienen kannst. Du wolltest mir gehorchen und hast trotzdem meinen Befehl missachtet?« Amaryllis stützte sich schwer auf den Tisch. Ihr ungläubiges Gesicht wirkte wie ausgezehrt. »Wie ist das möglich?«
»Was wollt Ihr eigentlich?«, rief Klinge wütend. »Als Ihr gesagt habt, was mir und Paul alles passieren würde – war das nur eine Prüfung? Eine Lüge?«
Die Königin schien sie nicht zu hören. »Also doch Liebe«, fuhr sie abwesend fort. »Mehr, als ich je für möglich gehalten hätte … und zugleich so schlimm. Läuft es also darauf hinaus? Aber was für eine Wahl habe ich?«
Sie richtete sich beim Sprechen auf. Klinge wich misstrauisch einen Schritt zurück, doch zu spät. Amaryllis streckte schon die Hände nach ihr aus, und ihre Finger knisterten energiegeladen, während ihre rotgeränderten Augen Klinge noch um Verzeihung baten. »Auf dir ruht die einzige Hoffnung auf Rettung meines Volkes«, sagte sie. »Doch kann ich dir nicht vertrauen, solange dein Herz geteilt ist. Wenn du diesen Menschen nicht verlässt … werde ich dich zwingen, ihn zu vergessen.«
»Wartet!«, rief Klinge und hob schützend beide Arme vor das Gesicht. »Ihr habt mich noch nicht angehört … Ich muss Euch sagen …«
Ein Sausen erfüllte ihre Ohren, ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und eine grausame Hand griff nach ihrem Bewusstsein, um es zu leeren. Klinge stolperte nach hinten, schlug mit dem Kopf an die Wand und sank betäubt auf den Boden. Die Zauberkraft der Königin spülte über sie hinweg, und das Bild Pauls in ihrem Gedächtnis begann sich aufzulösen …
Plötzlich endete der Spuk mit einem leisen Knall, und ihr Bewusstsein kehrte wieder zurück. Die Königin schrie auf und hielt sich den Kopf mit den Händen. »Du hältst meinem Zauber stand«, rief sie bestürzt. »Wie?«
»Genauso, wie Heide Jasmin widerstanden hat«, erwiderte Klinge und stand schweratmend auf. »Heide konnte Philip nicht vergessen, und Ihr könnt mich nicht zwingen, Paul zu vergessen. Denn ich habe ihm meinen Namen gegeben.«
»Zum Glück hat sie es getan«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Sonst hätte Eure Majestät ganz umsonst etwas sehr Schlimmes angerichtet.«
Sie drehten sich beide um. In der Tür standen Baldriana und neben ihr Winka und eine schläfrige Linde. Dann trat noch eine weitere Gestalt schlurfend neben sie – Pechnelke.
Die Königin richtete sich auf. »Ist das eine Verschwörung?«
»Nein«, erwiderte Baldriana und half Pechnelke auf einen Stuhl. »Euch wurde gesagt, Pechnelke sei am Schweigen erkrankt. Das stimmte auch, doch dank Klinge konnte der Krankheit Einhalt geboten werden.« Baldriana trat vor die Königin, und ihre strenge Miene wurde sanfter. »Ihr seid müde«, sagte sie, »denn Ihr habt jahrelang eine schwere Last ganz allein getragen. Doch jetzt der Verzweiflung nachzugeben und zu denselben Mitteln zu greifen wie Jasmin – das wäre töricht und Eurer nicht würdig.«
»Wenn Ihr Klinge das Gedächtnis raubt«, fuhr Winka bleich und ernst fort, »müsst Ihr uns genauso bestrafen. Ich habe Klinge Heides Tagebücher gegeben, also war ich schuld daran, dass sie sie gelesen hat. Dass Klinge sich zu Paul hingezogen fühlte, ist auch meine Schuld. Ich habe zugelassen, dass die beiden sich als Kinder begegneten. Bitte tut Klinge nichts. Wenn Ihr jemanden bestrafen müsst …« Sie sah Klinge an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Dann bestraft mich.«
Klinge trat zu Winka und legte ihr den Arm um die Schultern. »Und Ihr meint, wir seien nicht zu Liebe fähig?«, fragte sie an Amaryllis gewandt. »Ich verstehe ja, wenn Ihr mich für egoistisch haltet, aber Winka hat diesen Vorwurf nicht verdient.« Sie sah auf den gesenkten Kopf der Näherin hinunter. »Noch nie«, fügte sie leise hinzu.
Die Königin betrachtete die drei erstaunt. »Ich habe euch unterschätzt«, sagte sie endlich. »Offenbar euch alle. Trotzdem …«
Die Fensterläden klapperten, und Dorna sprang auf den Fenstersims. Ihre Haare waren vom Wind zersaust, ihre Wangen gerötet. »Ich habe getan, was du wolltest«, sagte sie keuchend zu Klinge. »Er kommt.«
Klinge trat rasch vor, machte den rubinroten Anhänger von ihrem Hals los und gab ihn Amaryllis. »Ich bitte Euch um einen Gefallen«, sagte sie. »Kommt mit nach draußen in den Garten und hört Euch an, was Paul und ich Euch zu sagen haben.«
Die Königin schloss die Hand um den Anhänger. »Das ist doch Tollheit«, rief sie. »Was nützen Worte, wenn die Zukunft der Eiche gefährdet ist?« Doch dann begegnete sie Baldrianas Blick, und ihre Wangen röteten sich. »Ja, es ist wahr, ich habe dir Unrecht getan, deshalb sei dir die Bitte gewährt.«
Wenn Paul sich freute, Klinge zu sehen, zeigte er es nicht. Er rollte über den Rasen auf sie zu. »Du musst nur eins wissen«, sagte er. »Wenn ich den Verstand verliere, dann nicht, weil du mich verlassen hast, sondern weil du mich ständig verlässt und dann wiederkommst. Obwohl es natürlich originell war, zur Abwechslung diese andere Fee als Boten zu schicken …« Sein Blick fiel auf Amaryllis, die gebieterisch am Ende des Weges wartete. »Ich glaube, ich weiß, wer das ist, stimmt’s?«
Dorna hatte ihm offenbar nicht gesagt, wen er treffen würde, nur dass er sofort in den Garten kommen sollte. Kein Wunder, dass er etwas gereizt wirkte. Er wusste genauso wenig wie Amaryllis, welchem Zweck die Begegnung dienen sollte.
Klinge nickte. »Ja.« Sie hob die Stimme und fuhr an die Königin gewandt fort: »Majestät, wir kennen beide die Gefahren, die unserem Volk drohen, und wissen, dass unser Volk zu seinem Schutz eine starke Jägerin braucht. Ich weiß auch, wie wichtig es für uns ist, andere Feen zu finden, wenn wir unsere Zauberkraft zurückbekommen wollen. Doch noch wichtiger ist meines Erachtens zu verhindern, dass weitere Feen der Schweigekrankheit zum Opfer fallen. Stimmt Ihr mir zu?«
»Ja«, sagte Amaryllis und verschränkte die Arme. »Sprich weiter.«
»Doch Paul und ich brauchen einander ebenfalls«, fuhr Klinge fort, »und die Eichenfeen brauchen Hilfe, die sie nur von den Menschen bekommen können. Ihr habt Pechnelke gesehen. Baldriana meinte, ich hätte sie geheilt, aber das war nicht wirklich ich. Heides Geschichte hat sie zurückgeholt, denn sie erfuhr daraus Dinge, die sie noch nicht wusste – neue, wissenswerte Dinge und Gedanken. Die Tagebücher werden aber nicht allen helfen können und selbst wenn, wäre diese Hilfe nicht ausreichend. Wir brauchen noch viel mehr neue Ideen, um zu verhindern, dass auch wir anderen wie Pechnelke in der Verzweiflung versinken.«
Pauls Augen leuchteten auf. Er begann zu verstehen, worauf Klinge hinauswollte. »Ihr braucht deshalb einen Vermittler«, sagte er, »jemanden, der Verbindungen zu beiden Welten hat und euch mit dem Wissen der Menschen versorgen kann.«
Klinge nickte. »Und darüber hinaus jemanden, der die Eiche vor Unglück und ihre Bewohner vor Raubtieren schützen und die Eichenwelt wieder zu einem sicheren Ort machen kann. Ich habe das als Fee nach Kräften versucht, aber ich weiß jetzt, dass ich es als Mensch noch viel besser könnte.«
Amaryllis öffnete ungläubig den Mund. »Eine königliche Jägerin, die ein Mensch ist?«
»Warum nicht?«, mischte sich Paul wieder ein. »Klinge hat recht – wir Menschen können Krähen viel leichter töten oder verscheuchen als ihr Feen. Und Klinge könnte ja weiter für euch jagen. Sie könnte mit Fallen Kaninchen fangen, Pflanzen sammeln und euch sogar Sachen aus dem Haus bringen. Und auch ich kann euch helfen. Ich kann euch alles beschaffen, was ihr wollt oder braucht – Metall, Stoff oder Papier. Ich zeige euch auch gern das Haus, wenn meine Eltern weg sind, und bewirte euch mit Tee und Keksen, wenn euch danach gelüstet.« Seine Mundwinkel zuckten. »Und ich werde niemandem erzählen, dass es euch gibt, und auch nichts tun, was eure Sicherheit gefährdet. Darauf schwöre ich einen Eid, wenn Ihr das wollt.«
Die Königin hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Dann sagte sie: »Ich muss mit Klinge sprechen, aber allein.«
»Was habt Ihr mir zu sagen?«, fragte Klinge und folgte Amaryllis zum Fuß der Eiche. Sie warf einen Blick über die Schulter. Paul stand mit seinem Rollstuhl auf dem Rasen und wartete angespannt. »Wollt Ihr unserem Plan die Zustimmung verweigern?«
»Nein«, antwortete Amaryllis kurz und wandte sich ihr zu. »Aber ich kann dein Angebot erst annehmen, wenn ich überzeugt bin, dass ihr beide wisst, wovon ihr sprecht. Es soll niemand behaupten können, ich hätte euch übervorteilt.«
»Ich weiß, was ich tue«, rief Klinge ungeduldig. »Wir wissen es beide. Wir verschwenden nur unsere Zeit …«
»Dann sei so nett und falle mir nicht ständig ins Wort!«, sagte Amaryllis barsch. Klinge wurde rot. »Dich in einen Menschen zu verwandeln ist keine leichte Aufgabe, Klinge. Ich werde dazu die ganze Zauberkraft brauchen, die ich von Jasmin habe, und einen Teil meiner eigenen, den ich nur schwer entbehren kann. Wenn du deine Entscheidung hinterher bereust, werde ich dir nicht helfen können. Du wirst für immer in deiner menschlichen Gestalt eingesperrt sein. Ist dir das klar?«
Klinge nickte.
»Du verlierst deine Flügel, deinen alterslosen Körper und dein magisches Erbe. Du wirst die Eiche nicht mehr betreten können und wirst auf der ganzen Welt keine Heimat mehr haben, nur noch Paul und das, was er dir gibt. Die magische Kraft, die dem Band zwischen euch möglicherweise anhaftet, wird sich auflösen, und nichts kann dir garantieren, dass er deiner nicht eines Tages überdrüssig wird und dich verstößt. Doch so lange die Eichenfeen dich brauchen, musst du hier leben und kannst diesen Ort nicht verlassen.« Sie legte Klinge die Hand auf den Arm. »Glaube nicht, dass du deinem bisherigen Leben entfliehen kannst. Wenn du glaubst, die Verwandlung in einen Menschen würde dir zu mehr Freiheit verhelfen, als die Eiche dir bieten kann, wirst du, so fürchte ich, enttäuscht werden.«
»Ich habe früher geglaubt, ich wüsste, was Freiheit ist«, sagte Klinge. »Nämlich zu tun, was ich will, mich frei zu bewegen und von niemandem abhängig zu sein. Doch jetzt …« Sie hob entschlossen den Kopf. »Ich weiß, dass die Zukunft nicht leicht sein wird. Trotzdem bleibe ich bei meiner Entscheidung.«
Amaryllis nickte und zog ihre Hand zurück. »Für dich steht deine Wahl also fest. Und für Paul? Wenn du ein Mensch wirst, wird deine Kraft als seine Muse nachlassen oder ganz verschwinden. Vielleicht wird er seine künstlerische Begabung nie ganz verwirklichen. Und noch etwas: Jetzt bedeutest du ihm viel, aber es gibt auf der Welt viele junge Frauen. Würde er dich trotzdem wollen, wenn er wüsste, dass er statt dir noch etwas viel Wertvolleres bekommen könnte?«
»Was soll …«, begann Klinge, aber die Königin fiel ihr ins Wort.
»Überlege mal, Klinge. Hast du nie daran gedacht, dass du nach Wiederherstellung deiner Flügel sowohl Paul als auch der Eiche weiter als Fee dienen könntest, während die Kraft, die ich für deine Verwandlung aufwenden müsste, einem anderen Zweck zugute käme?«
Ihre Worte trafen Klinge wie ein Faustschlag in die Magengrube. »Ihr meint, Ihr könntet …«
»Jawohl, und das werde ich auch tun, wenn du dich dafür entscheidest. Paul ist ein guter Mensch, und eine solche Schuld würde ihn noch fester an die Eiche binden als seine Treue zu dir. Warum sollte ich ihm nicht erfüllen, was er selbst dir gegenüber einmal seinen sehnlichsten Wunsch genannt hat?«
»Dann …« Klinge schloss die Augen und sprach schnell weiter, bevor sie ihre Meinung ändern konnte. »Ja.«
»Ich soll ihn also heilen?«
»Ja.«
»Vergiss nicht, dass die anderen Bedingungen unserer Vereinbarung weiterhin gelten. Du wirst mir auch in Zukunft als Jägerin dienen, und du wirst Paul weiterhin aufsuchen und in meinem Namen mit ihm sprechen, ohne dass deine Gefühle für ihn je Ausdruck oder Erwiderung finden können. Du wirst für alle Zeit eine Fee bleiben und er ein Mensch. Bist du bereit, das alles um seinetwillen auf dich zu nehmen?«
Klinge nickte. Sprechen konnte sie vor Kummer nicht.
»Also gut«, sagte die Königin zufrieden. »Du hast eine weise Wahl getroffen, Klinge. Bleib hier, während ich mit dem Menschen spreche.«
Klinge setzte sich an den Fuß der Eiche, zog die Knie an und legte das Kinn darauf. Paul und Amaryllis waren so weit entfernt, dass sie nicht verstand, was sie sagten. Sie hörte die helle Stimme der Königin und Pauls kräftige, tiefe Stimme. Die beiden schienen gleichzeitig aufeinander einzureden. Wenn das so weiterging, konnte es bis Sonnenaufgang dauern, bevor sie zu einer Verständigung kamen. Doch dann verstummte Paul plötzlich und warf Klinge einen bestürzten Blick zu.
Jetzt hat sie es ihm gesagt. Klinge hätte zugleich lachen und weinen mögen. Er weiß, dass sie ihn heilen wird, wenn er das Angebot annimmt – und dass ich das will. Sie erwiderte Pauls Blick. Hoffentlich konnte er trotz der Dunkelheit und der Entfernung zwischen ihnen ihre Zustimmung von ihrem Gesicht ablesen. Doch seine Miene blieb traurig. Als er schließlich sprach, war seine Stimme so leise, dass sie ihn nicht hörte.
Klinge fühlte sich innerlich wund, aufgerieben zwischen Hoffnung und Elend. Sie vergrub den Kopf zwischen den Armen, um nichts mehr sehen und hören zu müssen. Dann spürte sie die Hand der Königin auf der Schulter.
»Leider haben wir keinen Vollmond«, sagte Amaryllis. Sie klang erschöpft. »Trotzdem werde ich tun, was ich kann. Stell dich neben deinen Menschen.«
Klinge stand mechanisch auf, ging über den Rasen und blieb neben dem Rad von Pauls Rollstuhl stehen. Ihr Opfer hatte einen Sinn, sagte sie sich. Sie hätte alles darum gegeben, Paul aufstehen und gehen zu sehen. Die Königin hatte recht: Als Mensch hatte Klinge Paul wenig zu bieten. Aber um seinetwillen eine Fee zu bleiben war ein Geschenk, an dass er sich sein ganzes Leben lang erinnern würde.
»Perianth«, flüsterte Paul. Ihren wahren Namen zu hören kostete Klinge beinahe die Fassung. Sie presste sich den Handrücken auf die Lippen, als er fortfuhr. »Was hat sie zu dir gesagt?«
Klinge schüttelte den Kopf. Er sollte jetzt nichts sagen. Für Worte war es ohnehin zu spät. Amaryllis war bereits aus dem Schatten der Eiche in das Licht des Mondes getreten und hatte die Arme ausgebreitet. Ihr Körper begann zu leuchten.
»Was hat sie gesagt?«, wollte Paul wissen. Er streckte die Hand nach Klinge aus, und Klinge wich verzweifelt zurück. Sie rutschte aus und fiel ins Gras. Ein greller Lichtblitz zuckte auf, und sie spürte, wie eine fremde Kraft sie durchlief. Paul rief etwas, als tue die Kraft ihm weh, und sie dachte benommen: Der Zauber wirkt.
Alle Muskeln schmerzten sie und ihre Glieder fühlten sich an wie in eine Schale aus Ton eingesperrt. Mühsam rappelte sie sich auf und ging stolpernd ein paar Schritte. Sie schwankte wie ein Schössling im Wind. Dann gaben ihre Beine unter ihr nach. Dunkelheit umfing sie und trug sie fort.
Langsam kehrte ihr Bewusstsein zurück. Als Erstes hörte sie Winka ängstlich und mit gedämpfter Stimme fragen: »Ist sie tot?«
»Nein«, erwiderte Baldriana, »nur ohnmächtig. Aber sieh doch, sie kommt schon wieder zu sich.«
»Ich sehe überhaupt nichts«, brummte Dorna. »Der Blitz war so hell. Ich glaubte schon, die Königin hätte sich in die Luft gesprengt und die beiden gleich mit dazu.«
Klinge bewegte sich und zuckte zusammen. Sie hatte schreckliche Kopfschmerzen. Auch die Glieder taten ihr weh, doch hüllte eine angenehme Wärme sie ein. Jemand hatte sie mit einer leichten Decke zugedeckt, bestimmt Winka. Winka dachte immer an so etwas. Klinge nahm den weichen Stoff zwischen die Finger, öffnete die Augen und sah Winka mit Linde auf dem Arm, Baldriana und Dorna. Die vier standen allerdings nicht um sie herum, sondern um die ebenfalls auf dem Boden liegende Amaryllis – und sie waren winzig klein.
Klinge drehte langsam den Kopf und sah hinter sich Paul, der sie staunend betrachtete. Sie spürte seine raschen Atemzüge an ihrem Rücken. Sein Rollstuhl lag wenige Krähenlängen entfernt umgekippt auf dem Boden. Offenbar hatte Paul sich aus dem Stuhl gestemmt, als sie gestürzt war, und seine Decke über sie gebreitet. Allmählich erwachte sie aus ihrer Betäubung und begriff auch den Grund, warum er sie zugedeckt hatte: Sie war splitternackt.
Das aber bedeutete, dass ihre Verwandlung wirklich und nicht nur scheinbar war, also auch dauerhaft. »Wie ist das denn passiert?«, murmelte sie.
»Ich will ja nicht spekulieren«, sagte Paul ernst und stützte sich auf den Ellbogen auf. »Aber ich denke, dass Zauberei im Spiel war.«
Klinge lachte zittrig. »Das habe ich nicht gemeint.«
»Dann meinst du vielleicht, wo die anderen herkommen?« Er nickte in die Richtung der Feen, die sich um die Königin versammelt hatten. »Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich hatte dich eben zugedeckt, und als ich aufblickte, standen sie da. Ich weiß nur, dass die mit den schwarzen Haaren sagte, sie würde mir die Augen auskratzen, wenn ich nicht gut auf dich aufpasse. Sie sah mich dabei so finster an, dass ich seither versuche, ganz brav zu sein.« Er grinste schief. »Davonrennen kann ich ja schlecht vor ihr.«
Er sagte es leichthin, aber Klinge fuhr senkrecht in die Höhe und starrte ihn an. Seine Augen lächelten, aber sein Gesicht war angespannt, und er musste sich mit beiden Händen stützen.
»Nein«, flüsterte sie, während ihr Blick über seinen Körper wanderte. »Oh nein!«
»Was denn?«, fragte Paul. »Ich habe mir nichts gebrochen.« Er richtete sich zu einer sitzenden Haltung auf und legte seine Beine, die schlaff im Gras lagen, gerade vor sich hin.
»Nein!« Klinge umklammerte die Decke an ihrem Hals. Verzweiflung und Gewissensbisse erfüllten sie. »Versteh doch, Paul. Das habe ich mir nicht gewünscht.«
»Vielleicht nicht«, sagte Königin Amaryllis schwach, während Baldriana ihr auf die Beine half. »Aber wie ich jetzt wieder erfahren musste, darf man Magie bei anderen nicht gegen ihren Willen anwenden. Du warst damit einverstanden, ein Mensch zu werden. Er dagegen wollte sich nicht von mir heilen lassen.«
»Aber …« Klinge sah Paul unglücklich an. »Warum nicht? Du hättest wieder gehen können.«
Paul streckte die Hand aus und berührte ihr Gesicht. »Es kann gut sein, dass mir eines Tages auch die Ärzte dazu verhelfen können.« Er schob die Hand hinter ihren Nacken und zog sie zu sich. »Aber wo finde ich eine Fee, die mich so sehr liebt, dass sie mir ihren Namen verrät?«
»Hier ganz bestimmt nicht«, sagte eine Stimme von weiter unten gereizt. »Aber wenn ihr zwei jetzt anfangt, euch die Gesichter abzuschlecken, dann kratze ich jemandem die Augen aus.«
Paul ließ Klinge abrupt los. Finster starrte Dorna zu ihnen herauf. »Du findest es wahrscheinlich wunderbar, auf einmal ein Mensch zu sein«, fuhr sie an Klinge gewandt fort. »Aber ich finde das einen ziemlichen Igelmist. Wer verscheucht jetzt die Krähen für uns? Und ich muss wahrscheinlich wieder auf die Jagd gehen.«
»Beruhige dich, Dorna«, sagte Amaryllis, die sich schwer auf Baldrianas Schulter stützte. »Wir haben das alles besprochen, und nicht einmal du wirst Grund zur Klage haben.« Sie sah zu Klinge hinauf. »Du hattest heute Nacht eine harte Prüfung zu bestehen und bist mir jetzt vielleicht böse. Aber ich konnte dich erst mit diesem jungen Mann gehen lassen, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ihr beide nicht nur wisst, was Liebe ist, sondern auch, was es heißt, sich selbst zu opfern.«
»Nicht nur wir mussten Opfer bringen, auch Ihr«, sagte Klinge. »Ich kann Euch jetzt nicht mehr bei der Suche nach anderen Feen helfen. Selbst wenn ich die Eiche einige Tage lang unbewacht lassen könnte, andere Feen würden doch nie mit einem Menschen reden. Was wollt Ihr also tun?«
»Hoffen«, antwortete Amaryllis. »Ich habe ja jetzt Helferinnen bei meinen Nachforschungen. Vielleicht machen sie Entdeckungen oder sehen Möglichkeiten, die mir entgangen sind. Zumindest Pechnelke wird mir sicher gern helfen … und vielleicht haben wir einmal wieder eine Fee, die den Willen und den Mut für eine solche Reise hat.« Sie warf einen Blick auf die schlafende Linde. »So viel Zeit haben wir.«
Klinge nickte. Sie zog sich die Decke fester um die Schultern, beugte sich zur Königin hinunter und flüsterte: »Ich bin Euch nicht böse.«
»Meine Jägerin«, sagte Amaryllis genauso leise. Sie verabschiedete sich mit einem letzten Blick von Klinge und wandte sich zum Gehen. Baldriana nickte Klinge respektvoll zu und eilte der Königin nach.
»Hm«, brummte Dorna mit einem misstrauischen Blick auf Paul und schickte sich an, ebenfalls zu gehen. Doch Klinge hob die Hand. »Warte noch«, sagte sie. Die Fee blieb stehen. Sie hatte die Flügel bereits ausgebreitet. »Komm bitte her. Du auch, Winka.«
Dorna kam zögernd näher und wäre fast von Winka umgerannt worden, die auf Klinge zulief, als habe sie schon die ganze Zeit auf diese Aufforderung gewartet. »Ach Klinge«, rief sie und blickte mit tränennassen Augen zu ihr auf. »Du wirst mir fehlen!«
Klinge schüttelte den Kopf. »Ich werde dich und Linde und natürlich auch die anderen fast täglich besuchen. Frag die Königin, wenn du in die Eiche zurückkehrst. Sie wird dir alles erklären.«
»Wenn wir schon beim Erklären sind …«, begann Paul hinter ihr, aber Klinge schüttelte den Kopf.
»Augenblick«, unterbrach sie ihn. »Ich muss meinen Gefährtinnen noch etwas sagen.« Sie beugte sich tief zu Winka und Dorna hinunter und sagte leise: »Ich danke euch. Und ich verspreche euch, dass ich nie vergessen werde, was ihr für mich getan habt.«
Winka bekam Schluckauf und warf sich schluchzend in Dornas Arme und hätte dabei fast Linde zerdrückt. Dorna verdrehte die Augen und klopfte ihr auf den Rücken, doch auch sie war sichtlich gerührt. »Denk an meine Worte, Mensch«, sagte sie barsch zu Paul. »Pass auf sie auf – sonst bekommst du es mit mir zu tun.«
»Ich werde daran denken«, sagte Paul. Er legte Klinge die Hände auf die Schultern, und gemeinsam sahen sie den Feen nach, die sich über den nächtlichen Rasen entfernten. Als sie im Schatten der Eiche verschwunden waren, zog er Klinge an sich und legte die Lippen an ihr Ohr. Sie schloss in Erwartung eines Kusses die Augen. Stattdessen hörte sie ihn sagen: »Jetzt haben wir nur noch ein Problem. Ich habe keine Ahnung, wie ich dich meinen Eltern erklären soll.«
»Ach du liebe Gärtnerin!«, rief Klinge und drehte sich zu ihm um. »Daran habe ich auch nicht gedacht.«
»Das habe ich auch nicht erwartet, du hattest genug andere Dinge im Kopf. Aber dich morgen früh am Frühstückstisch vorzustellen, kommt mir schon etwas merkwürdig vor.« Er sah sie an, und sie sah trotz des schwächer werdenden Mondlichts, dass er rot wurde. »Zumal du Kleider von mir anhaben wirst.«
Klinge strich ihm die blonden Haare aus den Augen, beugte sich vor und küsste ihn. »Nein, im Ernst!«, protestierte er, als sie ihn wieder sprechen ließ. »Was soll ich sagen … ›Ich habe das Mädchen um Mitternacht nackt auf dem Rasen liegen sehen, kann ich es behalten?‹« Er brach ab. »Du zitterst ja. Habe ich dich erschreckt? Keine Sorge, wir kriegen das schon hin.«
»Mir ist nur ein wenig kalt«, sagte Klinge und zog die Decke fester um die Schultern.
Paul legte seinen freien Arm um sie. »Wir kriegen das hin«, sagte er. »Ich habe ja dich.«
»Ja«, sagte Klinge und blickte lächelnd zu ihm auf. »Du hast mich.«