ACHTZEHN

 

Klinges Wangen brannten, und ihre Hände, die das Tagebuch hielten, zitterten. Am liebsten hätte sie es zugeklappt und weit weg geworfen, aber es war zu spät. Heides Worte hatten sich in ihren Kopf eingebrannt und nichts konnte sie mehr löschen.

Hatten die Eichenfeen sich zu Heides Zeit auf diese Weise bei ihren menschlichen Wohltätern revanchiert – indem sie sich ihnen mit Leib und Seele verschrieben und sie heirateten? Aber Philip Waverley hatte gar nicht gewusst, dass er eine Fee heiratete, er hatte Heide für eine ganz normale Frau gehalten. War Heide bereit gewesen, die Täuschung ein ganzes Menschenleben lang aufrechtzuhalten? Hatte sie wirklich geglaubt, die dichterischen Fähigkeiten, die sie mit Philips Hilfe entwickelt hatte, oder auch das Vergnügen seiner Freundschaft seien ein solches Opfer wert?

Doch Spekulieren führte zu nichts, sie musste es genau wissen. Sie verdrängte Pauls neugierigen Blick, das Brummen des Motors und die draußen vorbeiziehenden, mit Bäumen gesäumten Hügel, beugte sich über das Tagebuch und blätterte so schnell um, wie sie lesen konnte.

Heide hielt Wort: Sie heiratete Philip wenig später und zog zu ihm nach Waverley Hall. Mit ihr an seiner Seite blühten seine dichterischen Fähigkeiten auf. Gegen Ende ihres ersten gemeinsamen Jahres schrieb Heide:

 

Ich wollte erst davon sprechen, wenn ich es ganz sicher weiß, doch jetzt gibt es keinen Zweifel mehr. Ich bin schwanger mit einem Menschenkind, einem Sohn. Philip wird entzückt sein!

 

Klinge drückte die Hand an die Schläfe und spürte mit den Fingerspitzen, wie ihr Herz pochte. Dass eine Fee ein Menschenkind empfangen, austragen und gebären konnte, ohne daran zu sterben – nicht im Traum hätte sie das für möglich gehalten. Heide betrachtete es offenbar als etwas ganz Natürliches. Sie hatte noch kein einziges Mal von Eiern gesprochen.

Fieberhaft blätterte Klinge durch die zweite Hälfte des Tagebuchs. Sie überschlug die Geburt von Heides Sohn James und die mütterlichen Anekdoten der folgenden Monate, bis sie zu folgender Stelle kam:

 

Ich habe etwas getan, das ich mir nie zugetraut hätte. Doch im Herzen weiß ich, dass es richtig war und sein sollte. Heute Abend habe ich mein Gewissen erleichtert und Philip alles erzählt.

Er weiß jetzt, dass seine geliebte Frau und Muse in Wirklichkeit eine Fee ist und dass die Tochter, die unsichtbar in mir heranwächst, ebenfalls eine Fee sein wird. Er weiß auch, dass ich vor ihrer Geburt zur Eiche zurückkehren muss, denn kein mit Zauberkraft begabtes Feenkind kann ohne den Schutz und die Anleitung von Seinesgleichen aufwachsen – Dinge, die ich ihm in meiner menschlichen Gestalt nicht geben kann.

Mein lieber Philip hörte mir schweigend bis zum Ende zu, obwohl ich merkte, dass er zutiefst erschüttert war. Er zweifelte nicht an der Wahrheit meiner Worte, denn ich tat alles, um ihn davon zu überzeugen. Doch sogar mein Versprechen, gleich nach der Geburt unserer Tochter nach Waverley zurückzukehren, konnte ihn nicht trösten.

Endlich beendete ich mein Geständnis und warf mich ihm weinend zu Füßen. Ich fürchtete, er würde mich verstoßen und aus seiner Gegenwart verbannen. Doch die große Gärtnerin war mir gnädig. Er hob mich auf und schloss mich in die Arme. Da wusste ich, dass er mich trotz allem immer noch liebte und dass seine Treue belohnt werden musste …

 

»Ich glaube, ich habe für meine Geduld eine Medaille verdient«, sagte Paul an niemanden gerichtet.

Das Auto schien auf einmal zu klein für sie beide und Klinge konnte es nicht ertragen, ihn anzusehen. Sie lehnte gegen die Beifahrertür und drückte die Stirn an die von der Sonne erwärmte Scheibe. »Entschuldige«, sagte sie, »aber das ist einfach zu viel. Ich kann nicht darüber sprechen.«

Stille. Sie sah Paul verstohlen an und bemerkte seine zusammengepressten Lippen und wie er mit den Händen das Lenkrad umklammerte. Offenbar hatte sie ihn gekränkt.

»Es liegt nicht an dir«, fügte sie hastig hinzu. »Ich vertraue dir, nur …«

Nur dass nichts von dem stimmte, was sie einmal über Feen und Menschen und über Paul und sich selbst zu wissen geglaubt hatte. Sie hatte geglaubt, sie könnten einfach für immer Freunde sein. Doch jetzt, wo sie wusste, was vor der großen Spaltung möglich gewesen war – wie konnte sie seine Gesellschaft jemals wieder unbeschwert genießen?

Paul seufzte. »Lass mal, es ist schon in Ordnung. Ich bin zwar neugierig, aber ich sterbe nicht vor Neugier. Und es geht mich ja auch eigentlich gar nichts an.«

Er zuckte die Schultern. Klinge merkte, dass er ihre Gefühle schonen wollte, und hielt es nicht mehr aus.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, platzte sie heraus. Sie umklammerte ihre Ellbogen und wiegte sich unglücklich vor und zurück. »Die große Spaltung hat mein Volk so sehr verändert, dass ich nicht weiß, wie wir das je wieder hinkriegen sollen. Alles, was uns fehlt und was wir vergessen haben – wir können es uns nicht zurückholen, jedenfalls nicht, solange wir nicht zaubern können. Und Pechnelke hat jetzt auch die Schweigekrankheit bekommen, und wir werden alle daran sterben, ich, Linde, Winka, Dorna und die anderen …«

Paul griff mit der Hand nach einem Hebel unter dem Lenkrad. Das Auto bog von der Straße ab und kam holpernd an der Böschung zum Stehen. Ein anderes Auto raste an ihnen vorbei. Er sah Klinge an. »Nein«, sagte er heftig.

Klinge zuckte zusammen, aber er fasste sie an den Schultern und fuhr fort: »Ich weiß nicht, was du in dem Tagebuch gelesen hast, aber es zählt nicht. Selbst wenn du nicht mehr so leben kannst wie früher, heißt das etwa, dass es keine Hoffnung mehr gibt? Sieh dich an, Klinge! Denk an die vielen Dinge, die du getan hast, ohne zaubern zu können. Und überleg mal: Wie viele Leute wären jetzt schon tot, wenn es dich nicht gäbe?« Er senkte die Stimme und fügte hinzu: »Einschließlich mir.«

»Aber die Schweigekrankheit …«

»Es gibt sie, ja, und das mit Pechnelke tut mir leid. Aber sie ist noch nicht tot, und es besteht immer noch die Möglichkeit, dass du oder ein anderer ein Heilmittel findet.« Paul strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du bist eine Kämpfernatur, Klinge. Gib jetzt nicht auf.«

Klinge nickte zögernd. Paul zog sie an sich, und sie schloss die Augen, legte den Kopf an seine Brust und lauschte auf seinen seltsam langsamen Herzschlag. Sie wusste, es war nicht klug, ihm so nahe zu kommen, und alles in ihr warnte sie davor – doch zugleich wollte sie den Augenblick auskosten, weil niemand mehr sie so halten würde, wenn sie wieder auf ihre eigentliche Größe geschrumpft war.

»Ist gut«, murmelte sie.

 

»Sieh mal«, sagte Paul, »wir sind fast zu Hause.«

Vor ihnen machte die Straße die vertraute S-Kurve. Auf der einen Seite lag der Wald, dahinter der steinerne Brückenbogen. Über den Wipfeln der Bäume sah Klinge sogar schon die obersten Äste der Eiche. Sie spürte einen Stich in der Brust. Ihre Zeit mit Paul und der Zauber, der sie möglich gemacht hatte, näherten sich dem Ende.

»Halt an«, sagte sie. »Ich muss dir was sagen.«

Paul blickte über die Schulter und lenkte den Wagen an den Straßenrand. Lose Steinchen flogen gegen die Räder und landeten im weichen Gras. Sie hielten im Schatten der Bäume. »Ja?«, fragte er, legte den Ellbogen auf das Lenkrad und wandte sich ihr zu. »Was ist?«

Klinge starrte auf das Tagebuch in ihrem Schoß. Der erste Schock über die Entdeckung, dass Feen früher Menschen geheiratet und sogar Kinder mit ihnen gehabt hatten, hatte sich gelegt, und sie fühlte sich seltsam ruhig. Sie wusste, was sie sich selbst und Paul schuldig war. »Wir haben doch überlegt, dass wir die nächsten beiden Tage zusammen verbringen – aber das geht nicht. Ich muss zur Eiche zurück und den anderen von dem Tagebuch berichten.«

»Ist das alles?« Paul klang erleichtert. »Kein Problem. Gib mir einfach Bescheid, wenn …«

»Nein.« Sie klang ruhig und entschlossen. »Du hast mir so viel gegeben, Paul, und ich werde nie vergessen, was du heute für mich getan hast. Aber ich kann dich nicht weiter treffen. Die Königin hat mich schon einmal erwischt – das nächste Mal wird sie mir nicht so leicht verzeihen. Außerdem gehöre ich zu meinem Volk, so wie du zu deinem.«

Paul sah sie ungläubig an. »Soll das heißen … dass wir uns nie wieder treffen werden?«

Klinge schloss die Augen. Wenn sie ihn nur nicht anzusehen und den Kummer in seiner Stimme zu hören bräuchte! Alles wäre viel leichter, wenn sie so tun könnte, als sei er gar nicht da. »Ja«, sagte sie, »genau das.«

»Ich dachte, wir seien Freunde.« Die Worte klangen bitter. »Nach allem, was passiert ist und wir füreinander getan haben. Zählt das gar nichts?«

»Doch, natürlich!« Klinge umklammerte das Tagebuch mit beiden Händen und wünschte wieder, sie hätte es nie entdeckt und nie gelesen. »Du bist mein Freund.« Sie senkte die Stimme. »Mein bester Freund.«

»Ja?« Paul klang nicht mehr bitter. »Aber dann …«

»Verstehst du denn nicht? Das ist doch der Grund! Es ist nicht richtig, Paul, und es passt nicht zusammen. Du bist ein Mensch und ich eine Fee …« Und wenn der Zauber nachlässt, bin ich wieder zwanzig Zentimeter groß.

»Ich weiß«, sagte er. »Aber ich weiß noch etwas.« Er beugte sich zu ihr und sah sie eindringlich an. »Ich habe dir das mit Alfred Wrenfield aus einem ganz bestimmten Grund erzählt. Jane war seine Inspiration und Muse, und du bist dasselbe für mich. Wenn du da bist, kann ich zeichnen und malen. Ich kann Bilder in meinem Kopf einfangen und zu Papier bringen, wie schon seit Jahren nicht mehr. Wenn du mich verlässt …«

»Nicht!« Klinge wich vor ihm zurück. »Mach’s mir nicht noch schwerer, Paul. Ich muss mich in der Eiche um ein Kind kümmern und um Freundinnen, die meine Hilfe brauchen. Die Königin verlässt sich darauf, dass ich weitere Feen finde, denn sie glaubt, dass unser Volk nur so überleben kann – und ich weiß jetzt, dass sie recht hat.« Klinge fuhr sich mit den Händen durch die Haare und ballte sie zu Fäusten. »Ich finde deine Bilder toll und ich … ich wünschte, ich könnte dir helfen. Aber die Feen brauchen meine Hilfe noch mehr.«

»Also gut«, sagte Paul überraschend ruhig.

Überrumpelt ließ sie die Hände sinken. Er war mit dem Gesicht dicht an sie herangekommen. »Ich lasse dich gehen«, fuhr er fort, »und ich verlange nichts von dir. Nur …«

»Ja?«, fragte Klinge schwach. Ihr Herz fühlte sich an, als wollte es aus der Brust ausbrechen, und ihre Lungen waren offenbar auf Feengröße geschrumpft.

»Das.« Er schlang den Arm um sie und drückte ihr den Mund auf die Lippen.

Sie hatte in den Büchern, die Amaryllis verbrannt hatte, von Küssen gelesen und sie für einen sonderbaren Brauch der Menschen gehalten. Doch als sie Pauls Lippen auf den ihren spürte, schien es auf einmal die natürlichste Sache der Welt. Die Arme, mit denen er sie umschlang, fühlten sich stark an wie eine Eiche und warm wie Feuer. Sie schmolz in ihnen dahin und legte die Finger an seine Wangen. Also das hatte Heide zu Philip Waverley hingezogen, dachte sie mit ihrem letzten bewussten Gedanken, nicht die Verpflichtung und auch nicht die Freundschaft, sondern …

Nein!

Sie erstarrte und machte sich von Paul los. Die eine Hand hielt sie sich vor das Gesicht, das zu brennen schien, mit der anderen suchte sie hektisch nach dem Türgriff.

»Klinge? Was …«

»Ich kann nicht«, rief sie und warf sich mit ihrem Gewicht gegen die Tür. Die Tür ging auf, und sie fiel nach draußen ins Gras. Ihr Knöchel knickte um und Schmerzen fuhren durch ihr Bein, aber sie achtete nicht darauf. Taumelnd entfernte sie sich vom Auto in Richtung Eichenwald.

»Klinge!«

Die Tür schlug hinter ihr zu, und der Motor begann zu brummen. Klinge hinkte über das Gras, während Paul rückwärts auf die Straße fuhr. »Ich wollte schon sagen, es tut mir leid«, rief er durchs Fenster. »Aber das wäre gelogen, deshalb sage ich nur – leb wohl.«

Klinge blieb stehen, und er fuhr an ihr vorbei und beschleunigte. Sie sah ihm nach, bis er in der Ferne verschwunden war. Dann ging sie wie in Trance weiter – und trat mit dem Fuß in ein Loch. Sie stolperte, und wieder schossen ihr unerträgliche Schmerzen durch den Knöchel. Sie streckte die Hände aus, um den Sturz abzufangen.

Im nächsten Augenblick bemerkte sie, dass etwas fehlte. Entsetzt blickte sie auf ihre leeren, von der Erde schmutzigen Handflächen hinunter.

»Bei der Gärtnerin!«, schrie sie zum Himmel gewandt. »Ich habe das Tagebuch in seinem blöden, stinkenden Auto liegen lassen!«

Kaum hatte sie das gesagt, spürte sie ein Kribbeln am ganzen Leib und die Umgebung schlug turmhoch über ihr zusammen. Von Schwindel erfasst verharrte sie einen Moment lang regungslos. Die Verwandlung war so grausam schnell vor sich gegangen. Dann fiel sie auf die Knie, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen.