SIEBZEHN
»Und an dieser Stelle endet Heides erstes Tagebuch«, schloss sie. Sie hatte sich dicht über die bewegungslos daliegende Pechnelke gebeugt, damit diese sie auch wirklich verstand. »Aber es gibt noch ein zweites. Sobald ich es gelesen habe, komme ich wieder und erzähle dir davon …«
Sie brach ab. Ihre Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Pechnelkes Mund hing offen, ihre Augen waren geschlossen, und ihre Hand löste sich von Klinges Hand und fiel schlaff wie ein toter Vogel auf die Matratze.
»Sie kann dich jetzt nicht hören«, sagte Baldriana leise und zog die Decke über Pechnelkes Schultern. »Ich kümmere mich um sie. Du hast getan, was du konntest.«
Klinge fühlte einen dumpfen Schmerz unter den Rippen, als hätte sie einen Knochen verschluckt. »Aber nicht genug«, sagte sie bitter und ging.
»Baldriana ist was?«, fragte Winka.
»Ein untergeschobenes Kind«, sagte Klinge müde. Sie nahm Winka Linde ab und setzte sich mit ihr auf das Sofa. »Sie wurde als Mensch geboren, geraubt und in eine Fee verwandelt. Oder wenigstens glauben wir, dass es so war.«
Winka setzte sich neben sie.
»Und Pechnelke hat die Schweigekrankheit … Ich kann es nicht glauben. Sie ist nicht einmal die Älteste von uns, jünger als Dorna. Wie kann das sein?«
Darauf gab es keine Antwort, und Klinge versuchte gar nicht erst, sich eine auszudenken. Stumm saßen sie eine Weile nebeneinander. »Hoffentlich findest du morgen Heides Tagebuch«, sagte Winka schließlich leise. »Aber auch wenn du es nicht findest, bin ich froh, wenn du wieder wohlbehalten zurückkommst.« Sie blickte wie verlegen zur Seite. »Ich weiß ja, du bist es gewöhnt, mit Gefahren umzugehen, aber … ich mache mir einfach Sorgen.«
Klein und verloren saß Winka neben ihr, und Klinge war, als drücke ihr jemand das Herz zusammen. »Das brauchst du nicht«, sagte sie zärtlich. »Ich passe auf. Versprochen.«
Als Klinge am nächsten Morgen durch das Tor der Königin ins Freie trat, hing der graue Himmel tief über ihr, und kalter Nebel bedeckte den Boden. Es konnte jeden Augenblick regnen, sie schlug deshalb ein schnelles Tempo an. Wenigstens würde Pauls Auto trocken sein, wenn sie nass wurde, tröstete sie sich.
Als sie bei der steinernen Brücke ankam, an der sie sich treffen wollten, klopfte ihr Herz aufgeregt. Sie war noch nie in einem Auto gefahren. Doch je länger sie wartete, desto ungeduldiger wurde sie. Als der brombeerfarbene Wagen schließlich über die Brücke rumpelte und knirschend neben ihr hielt, sprang sie auf und rannte, ohne zu zögern, auf ihn zu. Bestimmt hatte sich Heide am Tag ihres Aufbruchs nach monatelangem Planen und Warten genauso gefühlt.
Die Tür öffnete sich einen Spalt. »Klinge?«, sagte Pauls Stimme.
»Hier«, antwortete sie. Sie sprang flatternd zum Boden des Autos hinauf und von dort auf den Sitz. Das Auto roch eigenartig nach Schmutz und Metall und nach etwas Saurem, das sie nicht kannte. Doch es roch auch nach Paul, und das beruhigte sie.
Paul hielt stirnrunzelnd eine Karte in der Hand. »Ich sehe nur schnell nach, wohin … okay, ich hab’s.« Er faltete die Karte zusammen und steckte sie weg. Dann beugte er sich über Klinge und zog die Beifahrertür zu. »Setz dich lieber«, sagte er.
Klinge kniete sich hin. Da sie nicht durch das Fenster über ihr sehen konnte, betrachtete sie Pauls Hände, die das Auto mit raschen Bewegungen in Fahrt brachten und auf die schmale Landstraße steuerten. Das Brummen des Motors änderte seinen Klang und eine unsichtbare Hand drückte sie in das Polster. Dann drehte Paul am Lenkrad, und sie fiel um und rutschte mit einem Aufschrei über den Sitz.
»Entschuldigung«, sagte Paul. »Ich hätte dich irgendwie anschnallen müssen – oder willst du lieber in meine Jackentasche steigen?«
»Ich glaube, ja«, keuchte sie.
»Gut.« Er bremste und blieb stehen. Klinge rappelte sich auf, ging über den Sitz und kletterte in die Innentasche von Pauls Jacke. Die Tasche war zu niedrig, um bequem darin stehen zu können, aber zum Sitzen hatte Klinge gerade Platz genug.
»Geht’s?«, fragte Paul.
»Ja«, sagte sie. Das Auto fuhr wieder an.
Die Tasche schaukelte wie eine Hängematte, und Klinges Anspannung ließ endlich nach. Sie lehnte sich gegen Pauls beruhigend warmen Körper und schloss die Augen.
»Klinge.«
Sie machte eine Bewegung. Das Auto war offenbar erneut stehen geblieben. »Mhm?«
»Wir sind da.« Sie stand auf, um aus der Tasche auszusteigen. »Nein, bleib besser, wo du bist. Kannst du etwas sehen?«
»Nicht viel.« Auf der einen Seite versperrte ihr die Jacke die Sicht, auf der anderen Pauls Körper. Ihr war, als spähte sie durch die Eingangsklappe eines sehr hohen, engen Zelts.
»Dann gebe ich dir ein Zeichen, wenn du rauskommen kannst. Zum Beispiel so.« Er stieß sie ganz leicht mit dem Ellbogen an. »Okay?«
»Ja.« Klinge setzte sich wieder.
»Halt dich fest, ich mache die Tür auf.« Es knarrte, und nach Regen riechende Luft strömte herein. »Ich muss nur meinen Rollstuhl vom Rücksitz holen und aufklappen … Jetzt setzte ich mich drauf. Achtung.«
Die Jackentasche schwang nach außen, bis Klinge alarmierend schräg hing, und dann wieder zurück. Kies knirschte, der Rollstuhl rollte zurück, und Türen wurden geschlossen. Klinge richtete sich auf den Knien auf, stützte sich mit der Hand an Pauls Seite ab und beugte sich vor, um zu sehen, wohin sie unterwegs waren.
Sie hatte sich Waverley Hall in etwa so wie Pauls Haus vorgestellt, aber was sie sah, ließ sich damit so wenig vergleichen wie eine Eiche mit einem Schössling. Gewaltig ragte der Herrensitz vor ihnen auf, und die Sonne funkelte auf seinen hohen Fenstern und brachte die rotbraunen Ziegel zum Leuchten. Hier sollte Heide ihr Tagebuch versteckt haben?
»Rollstuhlgerechter Eingang, na bravo«, murmelte Paul, bugsierte seinen Stuhl eine flache Rampe hinauf und drückte auf eine Klingel in der Mauer. Die Tür schwang mit einem leisen Summen nach innen auf. Klinge duckte sich wieder in die Jackentasche, und sie betraten Waverley Hall.
Drinnen war es kühl. Ein schwacher Duft nach Rosen lag in der Luft. Klinge hörte andere Menschen flüstern und kichern. Offenbar waren sie und Paul nicht die Einzigen, die das Anwesen an diesem Vormittag besichtigten. Eintrittskarten wurden gekauft, Führer ausgegeben und dann begann eine helle Frauenstimme zu reden und die anderen Stimmen verstummten.
»Willkommen in Waverley Hall. Das Anwesen wurde 1683 von Sir John Waverley erbaut und befindet sich bis heute im Besitz der Familie. Ich heiße Sie im Namen der Familie willkommen. Bevor wir mit der Besichtigung beginnen, habe ich noch einige Bitten.«
Im Folgenden erklärte die junge Frau, niemand dürfe die Gruppe verlassen oder die privaten Räume der Familie betreten, vor allem aber dürfe man nichts anfassen. Klinge verzog das Gesicht. Wenn bei der Besichtigung noch andere Leute dabei waren und die Führerin sie nicht aus den Augen ließ, wie sollte sie dann ungesehen aus Pauls Tasche schlüpfen?
»Unser Rundgang beginnt hier im großen Saal«, fuhr die Führerin fort. Ihre Schritte entfernten sich, und Pauls Rollstuhl setzte sich in Bewegung. Klinge klammerte sich an Paul fest. »An den Wänden hängen Porträts der Familie Waverley. Über dem Kamin sehen Sie Sir John, an der gegenüberliegenden Wand seine Frau Prudence und seinen erstgeborenen Sohn James. Die anderen Porträts stellen die nachfolgenden Generationen der Familie dar. Alle wurden von führenden Malern ihrer Zeit gemalt.«
Langsam zogen sie von Bild zu Bild. Plötzlich spürte Klinge, wie Paul überrascht Luft holte und sein Brustkorb sich weitete. »Das ist ein Wrenfield«, sagte er leise. »Kannst du ihn sehen?«
Vorsichtig spähte sie durch den Spalt der Jacke. Vor ihr hing das Gemälde eines Mannes mit rötlichen Haaren und ernsten grauen Augen. Seine Lippen waren ein wenig nach oben gebogen, doch merkte man sofort, dass das Lächeln nicht echt war und der Mann damit nur innere seelische Qualen überspielte. »Wer ist das?«, flüsterte sie.
»Philip Waverley«, antwortete Paul hinter vorgehaltener Hand. »Geboren 1798, gestorben 1832. Eine Art Dichter, soviel ich weiß. Aber das ist egal. Sieh dir mal den Hintergrund an.«
Klinge gehorchte, bemerkte aber nichts Ungewöhnliches. Sie wollte Paul schon fragen, was er gemeint hatte, da fiel ihr Blick auf eine dunkle, schlanke Gestalt, die im Schatten kaum zu sehen war. Die Gestalt hatte … Flügel.
»Das ist die erste Fee, die Wrenfield gemalt hat«, erklärte Paul leise. »Ab da hat er nur noch Feen gemalt.«
»Wir haben die Familie jetzt ein wenig kennengelernt«, sagte ihre Führerin. »Wenn Sie mir bitte in den Salon folgen wollen.«
Sie gingen von einem Zimmer zum anderen, und die Führerin redete ununterbrochen über die Geschichte des Anwesens, seine Architektur und Ausstattung. Klinges Ungeduld wuchs. Sie überlegte schon, ob sie das Haus nicht lieber auf eigene Faust erkunden sollte, da hörte sie die Führerin sagen: »Wir kommen jetzt zur Bibliothek.«
Klinge hielt sich an Pauls Hemd fest und kletterte aus der Innentasche. Unmittelbar hinter dem offenen Spalt seiner Jacke wartete sie, während die Gruppe langsam durch die Bibliothek ging. Die ersten verließen sie schon wieder, da ließ Paul sich zurückfallen und beugte sich seitlich hinunter, als müsse er etwas an der Bremse des Rads einstellen. »Jetzt«, flüsterte er. Klinge glitt an seiner Hüfte hinunter, drückte sich vom Rahmen des Rollstuhls ab und ließ sich auf den Teppich fallen. Paul drückte ihr noch schnell in einer stummen Geste die Daumen und rollte nach draußen. Klinge blieb allein zurück.
Sie richtete sich auf und sah sich um. Sie stand in einem freundlichen, hellen Zimmer, dessen Wände hinter Bücherregalen und -schränken verschwanden. Ein exotischer Teppich bedeckte den Boden. In der Mitte des Zimmers stand ein ovales, von Ledersesseln umgebenes Tischchen mit einer gewaltigen Porzellanvase. Irgendwo in dieser Pracht war Heides Tagebuch versteckt, dachte Klinge. Nur wo?
Es war naheliegend, die Suche in den Bücherregalen zu beginnen. Sie flog zum obersten Brett des ersten Regals hinauf, strich mit den Händen über die Buchrücken und überflog die Titel. Ich bin da, flehte sie stumm. Heide schickt mich. Wo bist du?
Jeder knarrende Schritt und jede Stimme in der Ferne schreckte sie auf, und sie blickte immer wieder zur Tür, bereit, sich sofort zu verstecken, sollte jemand das Zimmer betreten. Lautlos huschte sie von Bücherreihe zu Bücherreihe. Sie hatte schon die Bücher dreier voller Regale durchkämmt und gerade mit dem vierten angefangen, da fuhren ihr plötzlich stechende Schmerzen durch die Finger. Mit einem Aufschrei wich sie zurück – und stürzte vom Regalbrett ab.
Sie fing sich mit den Flügeln auf, noch bevor sie eine Spatzenlänge gefallen war, und presste die Lippen zusammen, doch war die Unruhe nicht unbemerkt geblieben. Vom Gang näherte sich ein tapsendes Geräusch, und im nächsten Augenblick trottete ein untersetzter Hund mit einem runzligen Gesicht herein. Klinge, die vor dem Regal in der Luft schwebte, rührte sich nicht. Der Hund lief auf sie zu, und ein fragendes Knurren stieg in ihm auf.
»Braver Hund«, flüsterte Klinge – doch das war ein Fehler. Der kleine Hund begann, wie verrückt zu bellen, sprang in die Höhe und versuchte vergeblich, sie zu erreichen. Klinge hielt sich mit den Händen die Ohren zu und flog zum obersten Regalbrett hinauf, wo sie von dem bellenden Hund so weit wie möglich entfernt war.
»Still, Yahtzee!«, schimpfte die Stimme einer Frau draußen im Gang. Klinge sah sich in Panik nach einem Versteck um. Die Regale waren alle voll, die Schränke abgeschlossen. Unter den Sesseln war kein Platz, die Vase war zu niedrig …
»Was hast du denn, du dummer Hund?« Eine kleine, elegant gekleidete Frau mit einer hochgesteckten Frisur eilte herein, bückte sich und packte den bellenden Hund am Halsband. Offenbar war sie die Hausherrin. Klinge verließ der Mut.
Die Frau redete dem Hund gut zu und wollte ihn zur Tür ziehen, doch er strebte kläffend in die entgegengesetzte Richtung zu Klinges Versteck. Stirnrunzelnd hob die Frau ihn auf und kam einige Schritte näher, bis sie so dicht vor Klinge stand, dass Klinge ihr Parfüm riechen konnte. Sie blickte durch das Fenster auf den Rasen, und plötzlich hellte sich ihre Miene auf. Sie hielt den Hund hoch. »Diese frechen Eichhörnchen!«, flötete sie. »Am liebsten würdest du denen eine Lektion erteilen, was? Aber nicht heute, also komm und sei brav.« Sie drückte das Hündchen zärtlich an sich, marschierte mit ihm hinaus und machte die Tür hinter sich zu.
Klinge ließ den Vorhang los, hinter dem sie sich in letzter Sekunde versteckt hatte, sank auf den Fenstersims und lehnte den Kopf an die kalte Scheibe. Sobald ihr Herz sich ein wenig beruhigt hatte, stand sie auf und kehrte zu dem Bücherregal zurück.
Das Tagebuch stand ganz am Ende der Bücherreihe. Es sah wie ein ganz gewöhnliches kleines Buch aus, nur dass von seinem Rücken ein schwaches Leuchten ausging. Vorsichtig und auf einen zweiten Schlag gefasst, streckte Klinge die Hand aus – doch als sie es berührte, erlosch das Leuchten, und sie konnte die Hand darauf liegen lassen, ohne dass etwas geschah. Sie hatte Heides Tagebuch gefunden.
Es gab nur ein Problem und sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie es nicht bedacht hatte. Das Tagebuch war so groß wie ein menschliches Buch und damit größer als sie selbst. Wie sollte sie es aus dem Regal ziehen, geschweige denn unbemerkt aus dem Haus schleusen?
Sie blickte vom Regal zum Fenster und wieder zurück. Vielleicht konnte sie das Fenster öffnen und das Tagebuch über den Sims nach draußen kippen, wo Paul es später holen konnte. Es war kein besonders guter Plan, aber besser als gar keiner, sie beschloss deshalb, ihn in die Tat umzusetzen.
Sie umklammerte den ledernen Einband und zerrte daran. Das Tagebuch bewegte sich widerstrebend. Klinges Flügel begannen zu surren, und sie trat einen Schritt zurück in die Luft. Einen kurzen Augenblick lang sah es so aus, als könnte ihr Plan gelingen. Doch dann fiel das Tagebuch mit seinem vollen Gewicht auf sie, dass sie keine Luft mehr bekam. Im nächsten Augenblick drehte sich die Bibliothek um sie, und sie stürzte nach unten.
Sie schlug zwischen Sofa und Tisch auf den Boden. Das Tagebuch hielt sie mit schweißnassen Händen umklammert. Die Vase wackelte gefährlich und begann, in ihre Richtung zu kippen. Im letzten Moment konnte sie die Hand ausstrecken und sie auffangen. Ihr Blick fiel auf ihre Finger, die gegen das Porzellan drückten. Oh nein!, dachte sie. Die Finger waren so groß wie die von Menschen. Ich habe mich wieder verwandelt.
Sie war wie betäubt, und ihre Muskeln fühlten sich wie nasse Sandsäcke an, aber sie wagte es nicht, auch nur einen kurzen Moment zu verschnaufen oder zu überlegen. Sie musste die Bibliothek sofort verlassen. Sie steckte das Buch in ihren Kittel, öffnete das Fenster, kletterte hindurch und landete unsanft auf dem Kies der Einfahrt. Schnell rappelte sie sich wieder auf, zog das Fenster zu, duckte sich hinter ein Gebüsch und wartete starr vor Angst. Bestimmt hatte Mrs Waverly sie durch das Fenster klettern sehen und kam jetzt, um nach dem Rechten zu sehen. Gleich würde sie »Haltet den Dieb!« rufen.
Doch Klinge hörte nur das ferne Trällern einer Lerche und durch die Äste des Busches sah sie die leere Auffahrt. Ungeschickt stand sie auf, drückte mit der Hand das Tagebuch an die Brust und trat hinter dem schützenden Gebüsch hervor. Sie eilte an der Rückseite des Gebäudes entlang und bog um die Ecke. Vor ihr stand Pauls Auto.
Doch die Türen waren abgeschlossen, und Paul hatte die Schlüssel. Sie musste einfach selbstbewusst so tun, als sei sie eine ganz gewöhnliche, wenn auch etwas seltsam gekleidete Touristin, und warten, bis Paul mit der Besichtigung fertig war.
Sie klopfte sich den Kies von den Knien, kämmte sich mit den Fingern die Haare und zog Heides Tagebuch aus dem Kittel. Dann ging sie, als sei es die normalste Sache der Welt, zur nächsten Bank, setzte sich und begann zu lesen.
»Klinge?«
Paul klang nicht nur überrascht, sondern wie vom Donner gerührt. Klinge sprang erschrocken auf. »Entschuldige«, rief sie, ohne nachzudenken.
»Wie … wie hast du das denn gemacht?«, fragte er. »Ich dachte, du hättest keine Kraft mehr zum Zaubern.«
»Ich auch. Aber als ich dann versuchte, dass Tagebuch aus dem Regal zu bekommen«, sie schnippte mit den Fingern, »da ist es einfach passiert.«
Pauls Blick wanderte an ihr hinunter zu dem Buch in ihrer Hand. »Wenigstens hast du gefunden, weswegen du gekommen bist«, sagte er. »Hast du schon etwas Interessantes gelesen?«
»Noch nicht«, musste Klinge zugeben. Paul schloss das Auto auf und verfrachtete sich und den Rollstuhl nach drinnen. »Bisher hat Heide nur verschiedene Leute kennengelernt und Bälle besucht und so weiter. Und du?«
»Die haben hier eine tolle Sammlung niederländischer Meister«, sagte Paul begeistert, als Klinge sich auf dem Beifahrersitz niederließ. »Und außerdem einige Wrenfields, darunter das Porträt einer Frau namens Jane Nesmith. Die Führerin sagte …«
Er warf Klinge einen Blick zu, die das Tagebuch wieder aufgeschlagen hatte. »Egal. Du willst lesen.«
»Nein, sprich ruhig weiter.« Klinge blätterte zu der Stelle, an der sie aufgehört hatte. »Was wolltest du erzählen?«
»Von dieser Frau, Jane. Wrenfield ist ihr offenbar auf der Straße begegnet und wollte sie unbedingt malen. Sie wurde bald sein Lieblingsmodell und schließlich seine Geliebte. Die beiden waren drei Jahre zusammen, und in dieser Zeit hat er mehr und besser gemalt als je zuvor. Aber als sie ihn verließ, brach er zusammen.«
»Warum hat sie ihn verlassen?«, fragte Klinge.
»Das weiß niemand.« Paul ließ den Wagen an und fuhr rückwärts aus der Parklücke und auf die Einfahrt. »Einige Kunstgeschichtler meinen, Wrenfield sei ihr untreu gewesen oder Jane habe selbst einen Geliebten gehabt. Andere glauben, er habe sie geschlagen. Er war für sein heftiges Temperament berüchtigt. Einer anderen Theorie zufolge soll er schon damals Laudanum genommen und die Hälfte der Zeit teilnahmslos dagesessen haben. Seine erfolgreichsten Bilder wurden nach dieser Theorie von Jane fertiggemalt.« Paul grinste. »Das gefällt mir, auch wenn ich es nicht so recht glauben kann. Fest steht jedenfalls, dass Wrenfield nach Janes Verschwinden nicht mehr der Alte war.«
»Mhm«, murmelte Klinge und blätterte eine Seite um.
»Aber eins weiß man nicht«, fuhr Paul fort. Sie fuhren die von Bäumen gesäumte Straße entlang. »Warum er überhaupt angefangen hat, Feen zu malen.«
Klinge unterdrückte einen Schrei.
»Was ist?«
Klinge senkte das Buch und starrte durch die Windschutzscheibe auf die Straße vor ihnen. »Heide hat gerade Philip Waverley kennengelernt.«
»Wirklich? Was schreibt sie über ihn?«
Alle Welt spricht nur gut von ihm. Er ist sehr liebenswürdig und zeigt nicht die geringste Neigung zur Melancholie oder Übellaunigkeit. Ich hätte ihn nicht für einen Dichter gehalten, doch in Wirklichkeit ist er ein sehr guter. Er schenkte mir ein Exemplar seiner Sonette auf einen englischen Garten, das ich seitdem immer bei mir trage.
»Heide mag seine Gedichte«, sagte Klinge abwesend. Sie hatte Schwierigkeiten, gleichzeitig zu lesen und zu reden. »Und sie hofft, dass sie sich wiedersehen, damit sie darüber sprechen können.« Sie verstummte. Zu sehr nahm sie gefangen, was sie las.
»Und hat sie ihn wiedergesehen?«, fragte Paul schließlich.
»Was? Oh – ja. Sogar mehrere Male.« Klinge las einige Absätze weiter, dann fügte sie langsam hinzu: »Es klingt, als hätten sie sich … angefreundet.«
»Du klingst überrascht«, sagte Paul.
Klinge lächelte traurig. »Wahrscheinlich bin ich das auch.« Sie hatte ihre Freundschaft mit Paul für etwas Besonderes, in der Geschichte der Eiche vielleicht sogar Einmaliges gehalten. Aber wenn Heide sich ähnlich gut mit Philip verstanden hatte, ähnelten sich Menschen und Feen womöglich mehr, als sie vermutet hatte … und was sie davon halten sollte, wusste sie nicht.
Ich sitze hier inmitten von Rosen – Lilie behauptet, sie hätte noch nie so schöne gesehen. Ihr Duft hüllt mich beim Schreiben ein. Ein munterer kleiner Botenjunge brachte sie mir heute Morgen an die Tür. Er verbeugte sich artig und überreichte sie mir zusammen mit folgender Karte:
Und lies darin des Himmels Poesie.
Kein Sterblicher kann jemals dichten
Ein Sonett, das süßer klingt als sie.
Das ist vielleicht nicht so gut wie Mr Waverleys übrige Gedichte, aber es hat mich trotzdem außerordentlich erfreut.
»Und wie geht es weiter?«, wollte Paul wissen.
»Heide … fängt an, Gedichte zu schreiben.« Klinge betrachtete die nächste Seite mit ihren vielen ausgestrichenen Zeilen und Listen von Reimwörtern. »Eigene Gedichte.«
»Dann hattest du recht«, sagte Paul und stieß sie mit dem Ellbogen an. »Die Feen lassen sich von uns inspirieren.«
»Ja, nur …« Klinge wich ein wenig vor ihm zurück. Sie war nervös, ohne zu wissen, warum. »Ich weiß immer noch nicht, was Heide dort überhaupt zu suchen hat und inwiefern das, was sie tut, der Eiche hilft. Es ist ja schön und gut, Gedichte zu schreiben, aber was für einen Nutzen hat es?«
»Dasselbe könnte man von Bildern sagen«, gab Paul zu bedenken.
Klinge nickte. »Ich weiß, aber das meine ich nicht …« Ihr Blick wanderte die Seite hinunter, und plötzlich verstummte sie und umklammerte das Tagebuch. »Nein«, flüsterte sie, »nein, nein, nein …«
»Was ist?«, fragte Paul scharf, aber Klinge konnte ihm nicht antworten.
Trotz all meiner Hoffnungen und Wünsche und obwohl ich meinem Volk unbedingt helfen will, hätte ich nie gedacht, dass es dazu kommen würde:
Philip Waverley hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will. Und ich …
Das war verrückt und absolut unmöglich, dachte Klinge, bestimmt hatte sie etwas falsch verstanden. Doch noch bevor sie auf die nächste Seite blätterte, wusste sie, was sie dort lesen würde.
… ich habe ja gesagt.