Gott lebt
Die MS Buatier ist ein Schiff für Nostalgiker. Der Ozeanriese sieht aus, als wäre er zu Beginn des letzten Jahrhunderts vom Stapel gelaufen. Dabei steckt unter dem retrodesignten Rumpf die allerneueste Technik, wie man der schiffseigenen Postille, die ebenfalls im Stil des frühen 20. Jahrhunderts gestaltet ist, entnehmen kann. Es handelt sich also um eine Art schwimmendes Disneyland. Man gibt den Passagieren das schöne Gefühl, sich in einer Zeit zu bewegen, in der die beiden Weltkriege noch ebenso fern waren wie das Internet oder die Immobilienspekulationsblase. Die Gäste sollen den Duft des Kolonialzeitalters schnuppern, als man Raubzüge in fernen Ländern noch Expeditionen nannte und dafür obendrein nicht vor irgendwelche Menschenrechtstribunale gezerrt wurde.
Die Stewards an Bord sind durchweg Briten. Sie befehligen ein Heer von größtenteils philippinischen Untergebenen, die mit den Passagieren keinen direkten Kontakt pflegen. Damit alle Mitarbeiter des Schiffes auf den ersten Blick zu erkennen sind, tragen sie blaue Uniformen. Die Stewards sprechen sich untereinander mit Nachnamen an, rufen aber die Hilfskräfte beim Vornamen. Das wirkt immer dann irritierend, wenn ein blutjunger Steward gestandene Männer herumkommandiert. Mr. Higgins, der verantwortliche Steward im Fitnessbereich, ist so ein Fall. Ohne Uniform würde man den Schlaks mit Pferdezähnen wohl für einen Collegeboy halten. Auf der MS Buatier hat er das Kommando über ein halbes Dutzend Handtuchträger, darunter zwei weißhaarige Inder, denen man wahrscheinlich beharrlich verschweigt, dass die Briten den Subkontinent längst verlassen haben.
Auch der Fitnessraum ist im Retrostil gehalten, lediglich die Geräte sind neueren Datums. Wahrscheinlich würde sonst keine Versicherung mitspielen. Das Durchschnittsalter der Passagiere liegt nach meiner Einschätzung irgendwo jenseits der siebzig. Fitnessgeräte aus der Kaiserzeit würden die Zahl der Knochenbrüche an Bord bestimmt glatt verdoppeln. Zumal ich bei den ältesten Mitreisenden die Befürchtung habe, dass ein leichter Windstoß ausreichen könnte, um sie auf das nächsttiefer gelegene Deck zu wehen. Immerhin ist die MS Buatier auf solche Eventualitäten vorbereitet. Es gibt ein Ärzteteam und einen OP an Bord, beides ausnahmsweise nicht im Retrostil. Bei einer Schiffsführung habe ich erfahren, dass die medizinische Versorgung erstklassig und auf dem allerneuesten Stand ist. Das erklärt vielleicht auch, dass die besonders betagten Passagiere erwägen, bei den Landgängen in Hafennähe zu bleiben. Oder aber das Schiff gar nicht erst zu verlassen.
Immerhin passt meine neue Badehose sehr gut zum gängigen Stil an Bord: ein türkisfarbenes Retromodell, das ich preiswert und vor allem schnell erstanden habe, ohne es mir zuvor genau anzusehen. Damit falle ich inmitten von Damen mit Blumenbadehauben und Herren in Badehosen, die tatsächlich in den Sechzigern gekauft wurden, überhaupt nicht auf. Würde ich jetzt noch zum Dinner Anzug und Krawatte tragen und eine Dame mit einem übergroßen Hut zum Tisch geleiten, könnte man mich glatt für einen normalen Passagier halten – abgesehen vielleicht vom Altersunterschied. Ich verzichte lieber auf das mehrgängige Essen im großen Saal und lasse mir in einem der übrigens Restaurants ein schnelles Steak servieren.
Die Abendunterhaltung gestaltet sich schwierig. Ich könnte mir im Kino Singin’ in the rain ansehen oder im Theater die Grethe-Weiser-Revue. Außerdem gibt es einen Tanztee im Königin-Viktoria-Saal und ein Wettpuzzeln in der Schiffsbibliothek. Vielleicht sollte ich versuchen, erst das Wettpuzzeln zu gewinnen und dann beim Tanztee die Bekanntschaft einer flotten Neunzigjährigen zu machen.
Während ich überlege, nach einem Abendspaziergang und einem letzten Drink einfach früh ins Bett zu gehen, finde ich mich plötzlich im Casino wieder.
Es herrscht kaum Betrieb. Die beiden Roulette-Tische sind verwaist, aber beim Black Jack haben sich zwei Spieler eingefunden. Eine alte Dame, die von Zeit zu Zeit an einer leeren Zigarettenspitze zieht und ein Endfünfziger, dem sein dichtes, schwarzes Haupt- und Barthaar ein düsteres Aussehen verleiht.
Ich geselle mich dazu, was den gedrungenen Croupier auf der anderen Seite des Tisches kurz innehalten lässt. Gerade wollte er austeilen, nun wartet er noch einen Moment, bis ich mich gesetzt und mein Geld hervorgekramt habe. Seinem Namensschild entnehme ich, dass er aus Osteuropa stammt: Frantisek Holler. Vielleicht ein Tscheche, denke ich und lasse mir kleine Chips für fünfzig Dollar geben. Mit etwas Glück komme ich damit über die nächste Stunde. Ich rechne beim Black Jack nie mit Gewinnen. Es reicht mir schon, wenn ich nicht allzu viel verliere. Ich lege einen Chip auf den Tisch, und Frantisek beginnt, die Karten zu verteilen.
Eine Weile spielen wir schweigend. Nur das Vokabular des Black-Jack-Spiels ist in gedämpfter Lautstärke zu hören: «Hit. Stay. Bust.»
Stoisch und im Tonfall eines Gebete vor sich hin murmelnden Mönchs zählt Frantisek die Punkte. Kommt es zu einem Black Jack, verkündet er das nicht nur ohne die geringste Begeisterung, er klingt dann sogar ein wenig resigniert, als wolle er sagen: Seht her! Das ist also nun mein Leben, ich spiele Karten mit gelangweilten Touristen.
«Where do you come from?», fragt mein Sitznachbar. Sein österreichischer Akzent ist unüberhörbar. Außerdem stelle ich fest, dass er aus nächster Nähe wie ein Werwolf aussieht, der mitten in der Verwandlung steckengeblieben ist. Seine Augenbrauen sind jedenfalls genauso buschig und pechschwarz wie der Rest seiner Haarpracht.
«From Berlin», antworte ich.
«Ach, sieh an!», entgegnet er. «Ich komme aus Wien. Kennen Sie Wien?»
«Ein bisschen», sage ich und hoffe, dass er meine Einsilbigkeit als Hinweis darauf versteht, dass ich mich gerade lieber nicht unterhalten möchte.
«Gestatten. Albert Reiter», sagt er, erhebt sich dabei vom Hocker und reicht mir die Hand.
Die Dame mit der Zigarettenspitze interessiert sich entweder nicht für unser Gespräch oder spricht eine andere Sprache. Sie nippt gelangweilt an einem großen Brandy. Frantisek wartet geduldig darauf, das Spiel fortsetzen zu können. Es schmeckt ihm offenbar nicht, dass wir plaudern, statt uns auf die Karten zu konzentrieren, aber als Croupier auf einem Kreuzfahrtschiff ist man vermutlich Kummer gewohnt.
Ich ergreife die Hand des Wiener Werwolfs und erwidere: «Jakob Jakobi. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.»
Er nickt und setzt sich wieder. «Und was machen Sie so, wenn Sie gerade nicht über den Atlantik schippern?», fragt er und tippt nebenbei auf den Tisch, um eine Karte anzufordern. «Beruflich, meine ich.»
«Ich bin Psychologe, will mich aber beruflich perspektivisch neu orientieren», antworte ich und bedeute Frantisek mit einer kurzen Handbewegung, dass ich mit meinen siebzehn Punkten bedient bin.
«Das ist ja ein Zufall», erwidert Reiter, sichtlich erfreut. «Ein Kollege, also. Ich bin nämlich auch Psychologe. Lehre und Forschung. Universität Wien.»
Ich nicke höflich, sage aber nichts. Albert Reiter hat mir diesmal ausnahmsweise keine Frage gestellt, vielleicht können wir also jetzt wieder ein Weilchen schweigen. Außerdem hätte ich gern noch ein Glas Wein, weshalb ich damit beschäftigt bin, die Aufmerksamkeit des wahnsinnig unaufmerksamen Kellners zu erregen.
Frantisek kommt mir zu Hilfe, indem er ein ebenso ruhiges wie verbindliches «Service» in Richtung Theke schickt, was den dort dösenden Barmann spontan in Bewegung versetzt.
Während Frantisek erneut austeilt, sehe ich, dass Reiter nachdenklich wirkt. Ich befürchte, gleich wird er an unser Gespräch anknüpfen.
«Jakobi», sagt er in diesem Moment gedehnt. «Sie sind aber nicht zufällig mit Bartholomäus Jakobi verwandt?»
Ich habe befürchtet, dass das Gespräch diese Wendung nehmen könnte, denn in Fachkreisen ist der Name meines berühmten Vaters selbstverständlich ein Begriff. Deshalb passiert es mir auch andauernd, dass ich mich als sein überhaupt nicht berühmter Sohn zu erkennen geben muss.
«Er ist mein Vater», sage ich nach kurzem Zögern und merke im gleichen Moment, dass der leise Groll, den ich seit Jahren bei solchen Gelegenheiten verspüre, urplötzlich verflogen ist. Hätte ich früher in einer Situation wie dieser das Bedürfnis gehabt, meinem Gegenüber das komplexe Verhältnis zwischen mir und meinem Vater darzulegen, so merke ich jetzt gerade, dass unsere ganze lange und schwierige Geschichte mit diesen wenigen Worten erzählt ist: Er ist mein Vater.
Albert Reiter nickt anerkennend und merkt gar nicht, dass Frantisek schon wieder auf eine Reaktion von ihm wartet. Dann streicht der Wiener Psychologe durch seinen gewaltigen Bart und sagt: «Ich habe eine seiner Vorlesungsreihen in Wien besucht. Das muss Ende der Achtziger gewesen sein. Damals war ich von Ihrem Vater sehr, sehr beeindruckt.»
Ein kurzes Schweigen. Wieder hoffe ich, dass es ein längeres wird.
«Für Leute, die lediglich plaudern möchten, gibt es auf diesem Schiff übrigens recht hübsche Liegestühle», sagt nun die Dame mit der Zigarettenspitze in ausgesucht höflichem Tonfall. Ein Lächeln huscht über Frantiseks Gesicht. Immer noch wartet er darauf, dass Albert Reiter sich endlich wieder auf das Spiel konzentriert. Lässig tippt der Wiener Werwolf nun auf den Tisch.
«Twenty-five. Sorry, too much», stellt Frantisek fest. Tatsächlich tut es ihm kein bisschen leid. Reiter hatte stolze achtzehn Punkte. Man sieht dem Croupier an, dass er kein Verständnis dafür hat, wenn man dann noch eine Karte zieht.
Der Mann aus Wien erhebt sich, krempelt die Hemdsärmel herunter und greift nach seinem über dem Hocker hängenden Sakko. «Wollen wir vielleicht irgendwo noch einen Drink nehmen?», fragt er mich.
«So war das jetzt aber nicht gemeint», wirft die alte Dame ein. «Ich wollte Sie nicht vertreiben.»
Reiter winkt ab. «Haben Sie nicht, gnädige Frau. Ich hätte sowieso jetzt Schluss gemacht.» Er haucht ihr einen angedeuteten Kuss auf die Hand. «Habe die Ehre.» Dann wendet er sich wieder mir zu. «Also. Noch ein letztes Glas, Herr Kollege?»
«Danke. Aber lieber ein anderes Mal», erwidere ich und erhebe mich ebenfalls. Meine fünfzig Dollar haben sich schneller als erwartet in Luft aufgelöst. Da ich aber gerade auch keine Lust verspüre, mit Albert Reiter zu fachsimpeln, beschließe ich, mich zur Nachtruhe zu begeben. Es ist dafür zwar noch ein bisschen früh, aber vielleicht kann ich meiner Bettschwere mit einem Nightcap nachhelfen.
Frantisek und die alte Dame wechseln einen Blick. Er zuckt bedauernd mit den Schultern. «Sorry, M’am. Minimum two players.»
Der Croupier scheint nicht unglücklich darüber zu sein, dass er den Tisch jetzt schließen muss, weil nicht genug Spieler da sind.
«Dann kann ich ja jetzt endlich meine Abendzigarette rauchen», sagt die alte Dame und zieht ein silbernes Etui hervor, dem sie eine filterlose Zigarette entnimmt, die sie nun vorsichtig in ihre Zigarettenspitze dreht. Sie nickt Reiter und mir zu. «Danke für Ihre Gesellschaft, meine Herren», sagt sie und schreitet galant davon.
«Ja. Ich fand es auch nett. Vielleicht sieht man sich mal wieder», sagt Reiter und reicht mir die Hand.
«Würde mich freuen», lüge ich und schlage ein.
Als ich wenig später in meine Kabine komme, finde ich auf dem Bett eine Sonderausgabe der schiffseigenen Zeitung. Auf der Titelseite prangt ein großformatiges Schwarzweißfoto von Albert Reiter. Zumindest glaube ich das auf den ersten Blick. Tatsächlich handelt es sich um das Konterfei von Joseph Buatier, der unter dem Künstlernamen Buatier de Kolta zu einem der wichtigsten Zauberer des 19. Jahrhunderts avancierte. Die Sonderpostille erwähnt sogar, dass man von einigen Kunststücken des Meisters bis heute nicht weiß, wie sie funktionieren.
Zu Ehren des ungewöhnlichen Namenspatrons der MS Buatier wird es morgen Abend jedenfalls nicht nur eine, sondern gleich zwei große Zaubershows im Schiffstheater geben. Die Zusatzvorstellung wurde laut Postille kurzfristig aufgrund der starken Nachfrage angesetzt. Das Management bittet dennoch um Reservierung, da auch der zweite Termin rasch ausgebucht sein dürfte.
Ich setze mich auf die Bettkante, nippe nachdenklich an einem doppelten Scotch, den ich mir auf dem Weg in die Kabine in einem der Bistros besorgt habe, und genieße das Rauschen des Meeres. Ich kann mein winziges Kabinenfenster leider nur einen mikroskopisch kleinen Spalt öffnen, weil der Raum sonst binnen Minuten auskühlt. Aber immerhin genügt das, um den inspirierenden Klang der Wellen zu hören. Ich merke, dass meine Gedanken jene Frage umkreisen, die mich nicht erst seit dem Lesen der Schiffspostille umtreibt: Hat Gott hier seine Finger im Spiel? Ist er entgegen eigener Befürchtungen doch noch am Leben? Hat er also Abel Baumanns Körper verlassen und sich einen neuen gesucht, um sein Werk fortzusetzen? Und ist dieser Mensch, der eigentlich Gott ist, hier an Bord? Bin ich ihm womöglich schon begegnet? Ich muss lächeln.
Anders gefragt: Glaubt Gott wirklich, dass ich so blöd bin, ihn nicht in Gestalt eines Wiener Psychologieprofessors zu erkennen, der zufällig die Physiognomie des vielleicht größten Zauberers aller Zeiten hat?
Die Handschrift ist jedenfalls eindeutig. Gott mag Glücksspiele. Albert Reiter ebenfalls. Gott mag Zauberei. Reiter könnte die Wiedergeburt von Buatier de Kolta sein. Und dass er zufällig Psychologe ist, obendrein in Wien, wo einer der größten Psychologen aller Zeiten wirkte, und meinen Vater verehrt, ist ziemlich typisch für Gottes Humor. Nebenbei hat Reiter offensichtlich meine Nähe gesucht, zumindest ging das Gespräch von ihm aus.
Ich beschließe deshalb, Gott in Gestalt von Albert Reiter aus der Reserve zu locken. Ich werde dem Wiener Psychologen anbieten, dass wir morgen nach einem langen, gemeinsamen Essen zusammen in die Zaubershow gehen und danach noch ins Casino. Das Angebot ist bewusst aufdringlich. Reiter müsste allein deshalb ablehnen, weil zu befürchten ist, dass ich für den Rest der Reise wie eine Klette an ihm hänge. Wenn er dem Plan also zustimmt, spricht das für meine Theorie, dass ich einen alten Bekannten vor mir habe, der sich einen Spaß daraus macht, mich an der Nase herumzuführen. Gott nämlich. Der Gedanke daran, dass er am Leben ist, vertreibt mit einem Schlag die leise Melancholie, mit der ich diese Reise angetreten habe.
«Großartiger Plan!», tönt Reiter, als ich ihm am nächsten Tag meinen völlig übergriffigen Vorschlag unterbreite. «Danach spendiere ich uns dann aber auch noch eine Cohiba und einen schönen großen Brandy in der Smoker’s Lounge.»
Reiter spricht beim Essen über seine fast drei Jahrzehnte währende Ehe, die seiner Meinung nach nur deshalb glücklich und beständig ist, weil die beiden sich möglichst selten sehen. Seine Frau ist Galeristin und hat viel in New York zu tun. Zum gemeinsamen Urlaub wird sie in Miami zusteigen.
«Wie heißt Ihre Frau?», frage ich. «Nicht zufällig … Maria?»
Er wirkt verwundert. «Nein. Aber Magdalene. Wie kommen Sie denn auf Maria?»
«Nur so», lüge ich.
Irritiert nippt er an seinem Wein.
Vor dem Eingang des Theaters ist ein Plakat mit dem Bild von Buatier de Kolta zu sehen. Reiter bleibt stehen und mustert es. Ich warte geduldig. Unmöglich, dass meinem Wiener Kollegen die Ähnlichkeit nicht auffallen könnte.
«Hässlicher Kerl», urteilt Reiter schließlich und stapft ins Theater.
Die Zaubershow ist ein bisschen langweilig, vor allem wenn man bedenkt, dass sie einem der größten Zauberer aller Zeiten gewidmet ist. Ich sehe jedenfalls in der ersten Hälfte der Show keinen einzigen Trick, der mich aus den Socken haut.
Mein Begleiter urteilt noch viel gnadenloser. «Diesen Amateur würde ich ja nicht mal beim Kindergeburtstag auftreten lassen», wettert Reiter und nippt an seinem Pausenbrandy. «Wollen wir nicht gleich ins Casino gehen und uns die zweite Hälfte einfach sparen?»
Ich nicke erfreut. Mir steht auch nicht der Sinn nach noch mehr lahmen Zaubernummern, außerdem habe ich längst erfahren, was ich wollte: Albert Reiter hat allerhöchste Ansprüche, wenn es um professionelle Zauberei geht. Fast so, als wäre er selbst mal ein Zauberprofi gewesen, denke ich und folge ihm ins Casino.
Wir treffen dort alte Bekannte. Frantisek steht am Black-Jack-Tisch und teilt aus. Vor ihm sitzt die Dame mit der leeren Zigarettenspitze, neben ihr der dauermüde Barmann.
«Ich habe Sie beide schon sehnsüchtig erwartet», sagt die Lady mit einem vornehmen Lächeln. Sie trägt ein ebenso extravagantes Kleid wie gestern, die schmalen Lippen sind dezent geschminkt. Wahrscheinlich ist sie bereits über siebzig, aber man sieht ihr immer noch an, dass sie einmal atemberaubend schön gewesen ist.
«Ich musste sogar diesen Kretin an den Tisch holen, um überhaupt spielen zu können», erklärt sie und meint offensichtlich den Barkeeper, der ihre Beleidigung aber nicht verstanden hat, denn sein Gesichtsausdruck ist so trüb wie immer. Sie drückt dem Kerl ein paar Jetons in die Hand. «Thank you very much. And would you be so kind to bring me another brandy?»
Der Barkeeper macht sich rasch davon.
«Habe die Ehre, gnädige Frau.» Albert Reiter begrüßt die Dame mit einem Handkuss.
Weil ich nicht unhöflich sein möchte, schließe ich mich an. «Jakob Jakobi.»
«Dr. Jakob Jakobi», ergänzt Reiter. «So viel Zeit muss sein, Herr Kollege.»
«Anastasia von Haffenberg», erwidert sie. «Aber lassen Sie uns nicht zu viel Zeit mit Formalitäten verplempern. Ich möchte lieber spielen.»
Reiter nickt. Der Wunsch einer Dame ist ihm Befehl. Also setzen wir uns, und Frantisek teilt aus.
«Sie haben Glück, dass wir so früh gekommen sind», sagt Reiter nach einer Weile. «Wäre die Zaubershow nicht katastrophal langweilig gewesen, dann hätten wir uns wahrscheinlich das ganze Programm angesehen.»
«Das war mir vorher klar», entgegnet Anastasia. «Ich kenne den Zauberer aus Madrid und finde ihn gänzlich unbegabt. Wussten Sie, dass er sich ernsthaft für den wiedergeborenen Buatier de Kolta hält?»
Ich merke auf. Einen Wiedergeborenen wähne ich auch hier am Tisch.
«Dann ist er also nicht nur unbegabt, sondern obendrein ein Spinner», bemerkt Reiter.
Frau von Haffenberg lächelt milde und schweigt. Sie ist gerade damit beschäftigt, ihr Blatt zu teilen.
«Glauben Sie an Reinkarnation?», frage ich beiläufig.
«Also ich nicht», erwidert die alte Dame. «Ich finde es tröstlich, dass das ganze Elend hier irgendwann mal ein Ende hat.»
«Geht mir ähnlich», stimmt mein Wiener Kollege zu. «Außerdem stehe ich als Wissenschaftler solchen Dingen ohnehin eher skeptisch gegenüber.»
«Das war bei mir genauso», sage ich. «Bis ich Gott getroffen habe.»
Reiter, der gerade im Begriff ist, eine neue Karte zu ordern, hält inne. «Nanu. Was kommt jetzt? Eine Erweckungsgeschichte?»
«Einer meiner Patienten hielt sich für Gott …»
«Oh! Interessanter Fall», wirft Reiter ein, während Frantisek mit gleichgültiger Miene den neuerlichen Sieg der Bank verkündet: «Black Jack.»
«Er hat leider vor einer Weile das Zeitliche gesegnet …», fahre ich fort.
«Oh? Gott ist tot? Wie das?», wirft Reiter amüsiert ein.
«Mein Patient ist tot», korrigiere ich sachlich. «Aber ich gebe zu, er hat mich zuvor davon überzeugt, dass er Gott war.»
Die Köpfe meiner beiden Mitspieler drehen sich synchron zu mir.
«Es stimmt», sage ich und nicke nachdrücklich. «Es klingt verrückt, aber ich bin sicher, dass ich Gott habe sterben sehen. Glücklicherweise spricht einiges dafür, dass er wiedergeboren wurde.»
«Sie meinen, dem Grab entstiegen?», wirft Reiter erneut ein.
«Nein, das nicht», erkläre ich. «Ich vermute, er wird in einem Menschen wiedergeboren. Es ist so eine Art Seelenwanderung.»
«Das klingt wirklich ein bisschen verrückt», bemerkt die alte Dame.
«Und es wird noch viel verrückter», fahre ich fort. «Ich glaube nämlich, dass mein Wiener Kollege die Reinkarnation Gottes ist. Nein, ich glaube es nicht nur, ich würde sogar darauf wetten, dass er noch vor ein paar Tagen Abel Baumann war.»
Stille. Frantisek blickt irritiert in die Runde. Er hat das Spiel unterbrochen, denn ihm ist aufgefallen, dass gerade eine seltsame Stimmung herrscht.
Reiter mustert mich aufmerksam.
«Sie haben einen seltsamen Humor», höre ich Anastasia sagen.
Immer noch schaut Reiter mich an.
«Man hat mir gesagt, dass ich diese Reise als einen Wink Gottes begreifen soll», sage ich. «Und? Haben Sie mir ein Zeichen gegeben, Professor?»
Reiter runzelt die Stirn. «Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen, Dr. Jakobi.» Er steigt vom Hocker, nimmt sein Sakko und zieht es über. «Sie entschuldigen, aber ich bin im Urlaub. Ich habe tagtäglich mit Verrückten zu tun. Wenigstens in den Ferien möchte ich normale Gespräche mit normalen Leuten führen. Adieu.» Er nickt mir zu, haucht Frau von Haffenberg einen Kuss auf den Handrücken und geht rasch davon.
Die alte Dame wartet einen Moment, dann fragt sie: «Möchten Sie Gott hinterherlaufen, oder spielen wir noch eine Runde? Ich persönlich habe ja nichts gegen Verrückte.»
Ich überlege, ob ich Reiter tatsächlich folgen soll. Seine ebenso ehrliche wie schroffe Reaktion hält mich davon ab. Ich habe mich offenbar geirrt.
Schon will ich mich wieder dem Spiel zuwenden, da fällt mir etwas auf. «Wieso kennen Sie eigentlich diesen Zauberer?», frage ich Anastasia. «Und woher wissen Sie von der Sache mit der Reinkarnation Buatier de Koltas?»
Sie sieht mich prüfend an. «Sie werden es nicht glauben, aber ich kenne sogar einen Abel Baumann. Sicher ein Zufall. Ich vermute, den Namen gibt es tausendfach.»
«Ich meine einen Zirkusclown, der in Wahrheit ein großer Zauberer war.»
Sie zieht an ihrer Zigarettenspitze. «Dann meinen wir doch den gleichen.»
Der Satz hallt nach. Schweigen. «Schade, dass er tot ist. Ich kannte ihn nicht sehr gut. Außerdem ist das schon eine Ewigkeit her. Ich habe früher einen Zirkus besessen», sagt sie und leert ihren Brandy in einem Zug. «Ich befürchte, damit passe ich ganz gut in Ihre seltsame Theorie, oder? Vielleicht bin ich ja … Gott.»
Ich starre sie an. Anastasia nimmt ihre Handtasche und erhebt sich. Sie wirkt verärgert, dass das Spiel diese Wendung genommen hat. «Entschuldigen Sie, Dr. Jakobi, aber jetzt reicht es mir ebenfalls. Vielleicht machen Sie einfach mal einen Termin bei Ihrem Kollegen aus Wien.»
Sie schreitet davon.
Ich merke, dass meine Schultern nach unten sacken. Peinliche Nummer, die ich hier gerade abgezogen habe. Wirklich peinlich.
Frantisek steht unbeweglich da. «Sorry, Sir. Minimum two players.» Er schaut auf meine Jetons und wartet, dass ich sie an mich nehme, damit er den Tisch schließen kann.
Ich nehme die Jetons, Frantisek lässt ein weißes Tuch über den Tisch gleiten. Fast im gleichen Moment ist das dumpfe Geräusch einer fernen Explosion zu hören, und es geht ein Ruck durch das Schiff, der mich vom Hocker haut. Das Tuch rutscht herunter, in der Bar klirren Flaschen und Gläser. Der dösende Barmann wird ebenfalls zu Boden gerissen. Frantisek kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Er wirkt besorgt und beeilt sich, mir zu helfen. «Are you hurt, Sir?»
Ich schüttele den Kopf. Frantisek hilft mir auf einen Stuhl. Dann eilt er davon, um nach dem Barmann zu sehen.
Irritiert schaue ich dem Croupier nach und erinnere mich dabei an Gottes Faible für Glücksspiele. Ist Frantisek vielleicht …?
«Nein. Er ist es auch nicht», höre ich eine Stimme sagen.
Erschrocken schaue ich mich um, aber da ist niemand.
«Das ist aber jetzt auch nicht wichtig», fährt die Stimme fort. «Die Explosion hat ein Loch in die Außenwand gerissen. Vierzehn Decks tiefer sind mehr als zwanzig Leute in einem Mannschaftsraum eingeschlossen. Die Tür muss aufgestemmt werden. In nicht mal zehn Minuten wird der Eingang unter der Wasseroberfläche verschwunden sein.»
War das gerade etwa die Stimme von Abel? Ich rappele mich hoch und laufe zu den Fahrstühlen, vorbei an Frantisek und seinem Kollegen. Die beiden genehmigen sich hinter der Bar gerade einen Drink auf den Schreck.
Als der Fahrstuhl in die Tiefe rauscht, schlägt mein Herz bis zum Hals. Ist Gott etwa doch noch am Leben? Bevor ich mir die Absurdität dieses Gedankens vergegenwärtigen kann, öffnen sich die Fahrstuhltüren, und ich höre Stimmengewirr.
Der Gang vor mir hat eine deutliche Schräglage und liegt etwa zur Hälfte unter Wasser. Inmitten einer Gruppe aufgeregt diskutierender Filipinos erkenne ich meinen Wiener Kollegen Albert Reiter, der sich gerade die Hemdsärmel hochkrempelt.
«Ach, Sie schon wieder», sagt er, als er mich sieht. Er lächelt freundlich und winkt mich zu sich heran.
Vor Reiter verbreitert sich der Gang. Die Stelle sieht aus wie ein kleiner Teich. Was sich im Wasser verbirgt, kann man nicht erkennen.
«Hier führt eine Treppe nach unten», erklärt Reiter. «Wir tauchen ein paar Meter geradeaus, bis wir eine weitere Treppe erreichen. Oberhalb dieser Treppe liegt eine Tür, die wir aufbrechen müssen. Er da …» Reiter deutet auf einen der Filipinos. Wie ich erst jetzt bemerke, ist der Asiate klatschnass. «… hat versucht, die Tür aufzubrechen, aber ohne Erfolg. Eben lag sie noch zur Hälfte über Wasser. Aber wir müssen uns beeilen. Das Schiff legt sich ziemlich schnell auf die Seite, hab ich das Gefühl.»
«Wir», wiederhole ich tonlos.
«Ja. Wir», bestätigt Reiter. «Sie sind doch gekommen, um zu helfen.»
Ich nicke. «Dann lag ich mit meiner Vermutung also doch richtig.»
Er lächelt und schüttelt den Kopf. «Nicht ganz. Ich bin es nicht. Ich bin nur einer wie Sie. Ein Mensch, der Gott getroffen hat. Aber wir waren ihm die ganze Zeit sehr nahe.»
Er sieht mein fragendes Gesicht, und sein Lächeln wird breiter.
«Anastasia von Haffenberg.»
Ich stehe da mit offenem Mund, unfähig mich zu rühren.
«Ich würde sehr gerne noch mit Ihnen plaudern», fährt Reiter fort. «Aber wir haben hier einen Job zu erledigen. Wollen wir uns nicht in New York verabreden? Übermorgen zum Dinner?»
Ich nicke mechanisch.
«Schön. Sagen wir im Balthazar», fährt Reiter fort. «Vorausgesetzt, wir kriegen einen Tisch. Und vorausgesetzt, wir überleben die Sache hier.»
Wieder nicke ich.
«Dann los!», sagt mein Kollege und stürzt sich in die Fluten.
Ich schaue ihm nach und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Es will mir nicht gelingen. Ich spüre jedoch, dass ich ein seltsames Glück dabei empfinde, auf einem sinkenden Ozeanriesen zu stehen und gleich mein Leben zu riskieren für Leute, die ich nicht mal kenne.
Die schwarze Haarpracht Albert Reiters taucht aus den Fluten auf. «Es ist nicht weit, keine sechs Meter, würde ich sagen. Wir schaffen das. Aber ich brauche Ihre Hilfe.»
Ich nicke, ziehe rasch mein Sakko aus und werfe es zur Seite.
«Möge der Himmel uns beistehen», sagt Reiter.
«Das wird er ganz bestimmt», entgegne ich.
Dann springe ich ins kalte Wasser.