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Gott geht

Gott ist tot. Er verstarb am Nachmittag des 28. Dezembers, weil sein Herz kollabierte. Während die Ärzte noch um sein Leben kämpften, hatte Gott selbst diesen Kampf bereits aufgegeben. Zuletzt wirkte er müde, mutlos und am Ende seiner Kräfte. Enttäuscht von seiner Schöpfung und im Stich gelassen von seinen Geschöpfen verließ Gott die Welt, und vermutlich verließ er sie für immer.

Ich habe nicht glauben wollen, dass er tot ist, und ich kann es auch jetzt noch nicht fassen. Nachdem die Ärzte die Wiederbelebungsmaßnahmen eingestellt hatten, verfrachtete man Gottes leblosen Körper in einen Kühlraum. Der Bestatter entkleidete und wusch ihn, vernähte die Wunde unter seinem Herzen und puderte das Gesicht, um die Leichenblässe zu überschminken. Dann streifte man Gott ein weißes Hemd und einen dunklen Anzug über und legte ihn in einen schlichten Sarg aus Kiefernholz. Er wurde zur Friedhofskapelle gebracht, wo man den Leichnam auf Wunsch der Angehörigen aufbahrte.

Als Gott dort lag, wich ich nicht von seiner Seite, denn ich glaubte fest daran, dass er plötzlich die Augen öffnen und mich überrascht ansehen würde, als wäre nichts geschehen. Ich glaubte an dieses Wunder, weil ich verstanden hatte, dass die Welt einen Gott braucht. Selbst dann, wenn dieser Gott so unvollkommen ist, dass man ihn kaum von einem begabten Zirkusartisten unterscheiden kann. Am Ende ist nämlich ein zwar ohnmächtiger, aber gütiger Gott immer noch besser als gar kein Gott.

Ganz nebenbei spekulierte ich natürlich auch auf Gottes Talent für große Auftritte. Eine Auferstehung von den Toten hätte die Liste seiner bisherigen Wundertaten um eine echte Attraktion erweitert. Schon deshalb war ich davon überzeugt, dass Gott es nicht zur Beerdigung von Abel Baumann kommen lassen würde.

Doch ich habe mich geirrt. Ich sah, wie der Sargdeckel sich über dem leblosen Körper schloss. Ich hörte das Weinen und Wehklagen der Angehörigen und Freunde, die frommen Worte des Zeremonienmeisters Christian und den trägen Trauermarsch, gespielt von schwerblütigen Zirkusmusikern. Und dann sah ich, wie der Sarg sich langsam in die Erde senkte, wie die Trauernden Blumen auf den Sargdeckel warfen, der Familie kondolierten und schließlich nach und nach den Friedhof verließen.

Jetzt sitze ich immer noch auf einer Bank an seinem Grab. Selbst Maria, Josef und Christian sind schon vor Stunden gegangen. Die Totengräber haben inzwischen eine dicke Schicht Erde auf die sterblichen Überreste Gottes gewälzt. Sie mussten den gefrorenen Boden zertrümmern und mit einem kleinen Bagger auf den Sarg kippen. Fast sah es so aus, als würde die Erde sich dagegen wehren, Gott zu begraben.

Jetzt ist Stille eingekehrt. Es dämmert bald. Die Luft ist kalt und klar. Von Ferne hört man ab und zu das Explodieren einzelner Feuerwerkskörper, obwohl das neue Jahr erst in ein paar Stunden beginnen wird. Die Menschen scheinen voller Ungeduld darauf zu warten, das alte ablegen und das neue begrüßen zu können.

Als leichter Schneefall einsetzt, stehe ich auf. Ich habe meine letzten Tränen vergossen und meine letzten Hoffnungen auf ein kleines Zeichen Gottes zusammen mit Abel Baumann begraben. Jetzt ist mir kalt, ich bin müde und hungrig. Vielleicht werde ich mich auch besaufen, ich weiß es noch nicht so genau. In jedem Fall möchte ich nicht erleben, wie der Schnee diesen Ort in den Mantel des Vergessens hüllt. In weniger als einer Stunde wird man Abels Grab nicht mehr von all den anderen hier unterscheiden können. Der frische Schnee wird es so aussehen lassen, als wäre heute nicht einmal jemand hier gewesen.

Ich wandere eine Weile ziellos durch die Straßen, um einen Ort zu finden, an dem ich allein unter Menschen sein kann. Das ist nicht einfach, denn die meisten Bars und Restaurants sind ausgebucht. Und wer noch einen freien Tisch hat, gibt ihn nur ungern einem einzelnen Herrn, der nicht in Silvesterstimmung zu sein scheint. Da ich den Jahreswechsel nicht allein in Mutters viel zu großem Haus erleben möchte, komme ich auf die Idee, zu Freddys Pizzeria zu fahren. Der Laden ist in einem nicht sehr attraktiven Viertel und hat kaum Laufkundschaft. Außerdem hat Heinz mir gesagt, dass Freddys Frau eine miserable Köchin ist. Falls Freddys Pizzeria also Silvester geöffnet hat, könnte ich dort mit etwas Glück einen Platz finden.

Meine Kalkulation geht auf. Nur wenige Tische sind besetzt. Ich bestelle eine Flasche Rotwein und eine Pasta, die selbst Freddys Frau Valentina hinbekommen müsste.

Als ich meinen Blick durch das Lokal schweifen lasse, erkenne ich zu meinem Erstaunen jenes Paar wieder, dessen Hochzeitsfeier genau hier in einem Eklat endete. Offenbar haben die beiden sich versöhnt, denn sie wirken verliebt und glücklich. Und der schmächtige Bräutigam scheint sich auch von der Attacke auf seine Weichteile erholt zu haben. Er sitzt vor einer üppigen Portion Sahnetortellini und isst mit großem Appetit.

Der Rotwein, den Freddy mir kredenzt, ist ebenso passabel wie die Pasta seiner Frau. Da ich weniger erwartet habe, bin ich angenehm überrascht. Während ich esse, frage ich mich, wie es dem Brautpaar seit der Hochzeit ergangen sein mag, als plötzlich die Schwester der Braut erscheint. Sie begrüßt die beiden sehr herzlich, setzt sich dann dazu und bestellt ebenfalls etwas zu essen.

Ich bin erstaunt. Haben die drei sich etwa arrangiert? Am Tag der Hochzeit sah es so aus, als hätte das Liebesgeständnis der Schwester die junge Ehe schlicht ausradiert. Heute könnte man denken, dass die beiden Frauen sich den Mann geschwisterlich teilen.

Ich lege das Besteck beiseite, lehne mich zurück und denke an den Abend der Hochzeitsfeier zurück. Damals habe ich Abel für einen Clown mit psychischen Problemen gehalten. Heute glaube ich: Mir ist Gott begegnet. Er ist fehlerhaft. Er ist schwach und machtlos. Vielleicht ist er nur ein Gedanke aus einer anderen Zeit. Oder aus einer anderen Welt. Trotzdem habe ich diesen Gedanken für mich entdeckt. Jetzt ist er da. Und zu meinem eigenen Erstaunen kann ich Gott nun nicht mehr wegdenken.

Freddy kommt an meinen Tisch. «Noch alles okay bei Ihnen?»

«Danke», erwidere ich und blicke immer noch grübelnd zu den dreien.

«Kennen Sie die Herrschaften?», fragt Freddy.

«Ich war zufällig hier, als die Hochzeitsfeier aus dem Ruder lief», erwidere ich. «Und jetzt wundere ich mich ein bisschen.»

«Ja. Das ist in der Tat eine verrückte Geschichte», sagt Freddy und fügt vertraulich hinzu: «Möchten Sie sie hören?»

Ich sehe ihn an, und während ich noch über meine Antwort nachdenke, höre ich mich sagen: «Nein, vielen Dank. Nicht nötig.»

Freddy zuckt gleichgültig mit den Schultern und macht sich auf den Weg zum nächsten Tisch.

Ich habe gerade etwas begriffen: Im Grunde macht es keinen Unterschied, ob Abel Baumann ein psychisch angeschlagener Zirkusclown oder Gott höchstpersönlich war. Und es ist auch nicht wichtig, ob er tatsächlich Wunder vollbracht oder lediglich Zaubertricks präsentiert hat. Was zählt, ist, dass die Erlebnisse mit Abel mich und mein Leben auf den Kopf gestellt haben. Mehr kann man von Gott nicht verlangen, finde ich.

Während ich mir Valentinas Pasta schmecken lasse, komme ich auf die Idee, heute Nacht mit Abel Baumann anzustoßen. Wenn auch nur im Geiste. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch genug Zeit habe, um zuvor in Ruhe mein Silvestermahl zu genießen.

Es ist kurz vor Mitternacht, als ich das Dach jenes Hauses betrete, auf dem ich Weihnachten mit Abel Baumann gesessen habe. Damals befanden wir uns in einer Welt, in der es mich nicht gab. Heute Nacht ist es genau umgekehrt. Es hat inzwischen aufgehört zu schneien. Ich habe eine Flasche Rotwein und zwei Gläser mitgebracht. Ich stelle die Gläser auf die kleine Mauer, die den Dachrand markiert, und schenke ein.

Noch vier Minuten bis Mitternacht. Man hat einen schönen Blick von hier oben. Ich genieße ihn, solange es noch ruhig ist.

Mein Handy vibriert. Eine Nachricht von Mutter. Sie hat mir ein Video geschickt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich derart gut mit moderner Kommunikation auskennt. Beeindruckend.

Es dauert einen Moment, bis die Datei geladen ist. Was ich dann sehe, erfüllt mich mit Wehmut. Jonas, Hanna und Mutter stehen an einem Traumstrand unter karibischer Sonne. Mein Bruder hat einen Arm um seine Geliebte, den anderen um Mutter gelegt. Die drei wirken nicht nur entspannt, sondern auch ein bisschen euphorisch.

«Hallo, Bruder», sagt Jonas. «Ich weiß nicht, wie ich dir jemals für all das danken soll, was du für mich getan hast. Mutter und Hanna haben mir alles erzählt. Ohne dich würde ich jetzt sicher nicht hier stehen. Und ich hätte vielleicht auch nie erfahren, dass ich Vater werde. Dabei ahnst du überhaupt nicht, wie viel mir das bedeutet …»

«Und es bedeutet ihm wirklich sehr viel», fällt Hanna ihrem Geliebten ins Wort. «Ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass Jonas mich bitten könnte, bei ihm zu bleiben, geschweige denn … ihn zu heiraten.»

«Ja, Bruder, das ist die Neuigkeit des Tages. Wir werden heiraten!», ruft Jonas lachend. «Und du bist definitiv dabei. Wir warten auf dich. Selbst wenn es Monate dauern sollte. Versprochen.»

«Ich möchte mich ganz herzlich für Ihre Hilfe bedanken. Wenn Sie nicht gewesen wären …» Hanna unterbricht sich und überlegt, dann sagt sie mit einem glücklichen Lächeln: «Ich glaube, Sie wissen schon, was ich sagen will.»

«Und ich glaube, du kannst ihn ruhig duzen», sagt Mutter in ihrer forschen Art. «Schließlich ist er bald dein Schwager. Außerdem sollten wir Jakob nicht zu sehr loben, sonst wird er noch hochnäsig.» Sie lächelt freundlich und zupft dann ein wenig verlegen an ihrem Sommerkleid, um sich für die folgende kleine Ansprache zu sammeln. «Andererseits kann ich mich Hanna und Jonas nur anschließen. Du hast uns allen sehr geholfen, mein Sohn. Deshalb hoffe ich, dass jetzt auch dir das Glück winkt.»

«Das hoffen wir natürlich auch!», wirft Jonas ein.

«Und darum», fährt Mutter fort, «wünschen wir dir ein tolles neues Jahr mit allem, was dazugehört.»

«Mit Glück und Gesundheit», ruft Hanna.

«Und viel Geld», ergänzt Jonas mit einem breiten Grinsen.

Ein tadelnder Seitenblick unserer Mutter lässt ihn rasch hinzufügen: «Wobei Geld ja nicht das Wichtigste im Leben ist, wie wir alle wissen.»

«Danke für alles, Jakob», fasst Mutter zusammen, und sichtlich bewegt fügt sie hinzu: «Pass gut auf dich auf, mein Sohn. Wir lieben dich.»

Jonas nickt bestätigend, Hanna wirft mir lässig ein Küsschen zu.

Ich starre auf mein Handydisplay und bin zutiefst gerührt. Gerade fühle ich mich auf eine Art und Weise umarmt, wie sie im Hause von Bartholomäus Jakobi bislang völlig unüblich war.

Jonas verschwindet aus dem Bild, ich vermute, er will die Kamera abstellen. Gerade bin ich im Begriff, das Video zu beenden, da ruft Mutter: «Sekunde noch, Jonas. Das Wichtigste hätte ich ja beinahe vergessen.» Sie blickt wieder direkt in die Kamera. «Jakob, schau doch bitte mal in die obere rechte Schublade im Schreibtisch deines Vaters. Ganz vorn liegen ein paar Unterlagen, die für dich bestimmt sind. Du wirst wissen, was damit zu tun ist. Hoffe ich zumindest. Mir ist klar, dass du nur ungern Geschenke von deiner Mutter annimmst, aber diesmal wäre es blöd, wenn du dich wieder stur stellst. Das Geld ist nämlich so oder so futsch. Betrachte die Sache also bitte einfach als einen Wink Gottes.»

Eine kurze Pause entsteht, dann hört man Jonas fragen: «Okay? War es das? Kann ich ausmachen?»

Mutter nickt, und das Bild friert ein.

Erstaunt tippe ich das Video an, um die Menüführung aufzurufen. Sekunden später höre ich erneut Mutters entscheidenden Schlusssatz: «Betrachte die Sache also bitte einfach als einen Wink Gottes.»

Ich schaue in den Nachthimmel. Im gleichen Moment ertönt Glockengeläut, und die ersten Raketen verwandeln sich in Funkenregen. Dazu hört man nun das anschwellende Pfeifen, Rauschen und Krachen des neuen Jahres und den Jubel all jener, die es voller Hoffnung begrüßen.

Mein Blick fällt auf die Weinflasche mit den zwei Gläsern. Wenn ich gerade wirklich ein Zeichen Gottes bekommen habe, dann sollte ich mich jetzt wohl auf den Weg machen. Andererseits habe ich Gott als jemanden kennengelernt, der gern mal ein Gläschen trinkt und sich höchst ungern hetzen lässt. Ich beschließe, einen Schluck auf sein Wohl zu nehmen und dann aufzubrechen.

Auf den Straßen herrscht Chaos. Ich habe nicht damit gerechnet, ein Taxi zu bekommen. Leider ist jedoch auch der öffentliche Nahverkehr gerade zusammengebrochen. Niemand weiß, wie lange die Störung dauern wird. Obwohl es ein längerer Fußmarsch bis an den Stadtrand ist, mache ich mich auf den Weg. Es hilft ja nichts.

Plötzlich stutze ich. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkenne ich Hauptkommissarin Jutta Kroll. Sie sitzt in einem alten Golf und scheint zu telefonieren, ich würde aber darauf wetten, dass sie mich observiert. Es ist ihr offenbar ein persönliches Anliegen, den Fall Jonas Jakobi doch noch aufzuklären, wenn sie nicht einmal davor zurückschreckt, mir am Silvesterabend nachzustellen.

Ich schlendere auf die andere Straßenseite und klopfe dezent gegen das Seitenfenster. Kroll erkennt mich sofort und öffnet mit den Worten: «Nanu, Dr. Jakobi, was machen Sie denn hier?»

«Ich wollte Ihnen ein frohes neues Jahr wünschen», erwidere ich. «Außerdem habe ich mich gefragt, ob Sie mich vielleicht nach Hause fahren könnten. Da Sie mir ja sowieso folgen würden, hätten wir beide was davon.»

«Okay. Steigen Sie ein!», sagt sie nach kurzem Zögern und nimmt dann wieder das Handy ans Ohr: «Ich melde mich später noch mal, Schatz.»

«Privatgespräche im Dienst?», unke ich mit gespieltem Ernst. «Passen Sie auf, dass Ihr Vorgesetzter keinen Wind davon bekommt.»

«Ich bin nicht im Dienst», entgegnet sie und fährt los. «Und das eben war tatsächlich ein Privatgespräch. Mein Mann. Er ist gerade in Japan.»

«Interessant. Was macht er denn beruflich?», möchte ich wissen.

«Er ist ein Sushi-Tsu. Ein Sushimeister. Aber er arbeitet nicht in Japan, falls Sie das meinen. Er besucht dort seine Eltern.»

Hauptkommissarin Kroll hat einen Japaner geheiratet? Gerade stelle ich mir vor, wie sie einen schmächtigen Asiaten, den sie um zwei Haupteslängen überragt, zum Traualtar zerrt, da fragt sie: «Kennen Sie vielleicht den Turm zu Babel? Das ist so ein Konzeptrestaurant. Da ist er der Sushi-Tsu.»

Das Bild des schmächtigen Japaners löst sich in Luft auf, und vor meinem geistigen Auge taucht die imposante Statur des japanischen Kampfsportkochs aus dem Turm zu Babel auf.

«Nein. Kenne ich nicht, aber werde ich sicher mal ausprobieren», lüge ich.

Sie nickt versonnen und setzt den Blinker. Langsam entfernen wir uns von der City. Wir schweigen eine Weile.

«Was die Sache mit Ihrem Bruder betrifft, da bin ich tatsächlich nicht mehr zuständig», sagt sie plötzlich. «Und ich habe heute wirklich keinen Dienst. Falls Sie also observiert werden, dann sicher nicht von einem meiner Mitarbeiter.»

«Und Sie fahren mich trotzdem heim?», erwidere ich. «Das ist wirklich nett von Ihnen. Danke.»

«Das mache ich gern. Ich will ja nicht gleich behaupten, dass ich Ihnen etwas schuldig bin, aber ich gebe zu, dass ich Ihnen das Leben nicht eben leicht gemacht habe. Es war mir nämlich schon ein persönliches Anliegen, Ihren Bruder zur Strecke zu bringen.»

«Ein persönliches Anliegen?», frage ich. «Wieso das? Und wieso: war?»

«Ganz einfach. Weil die Sache mich persönlich anging. Meine Mutter bezieht eine kleine Pension aus einem Fond, den Ihr Bruder ruiniert hat. So ist es ja meistens: Wenn drei Milliarden verschwinden, dann betrifft das erstaunlicherweise nie ein paar hundert Millionäre, sondern immer ein paar hunderttausend arme Schweine. Und ich war überzeugt davon, dass die Sache im Fall Ihres Bruders genauso liegen würde.»

«Aber?», frage ich gespannt.

«Aber Ihr Bruder hat es geschafft, die Verluste in Kapitalgesellschaften zu bündeln, deren Kundschaft so exklusiv ist, dass diesmal nur reiche Leute den Schwarzen Peter gezogen haben. Fragen Sie mich nicht, wie er das gemacht hat. Einer unserer Finanzexperten hat versucht, es mir zu erklären. Aber leider vergeblich.»

Wir sind da. Sie lenkt den Wagen auf den Seitenstreifen.

«Für mich ist jedenfalls die Hauptsache, dass meine Mutter ihre Pension behält. Dafür hat Ihr Bruder wundersamerweise gesorgt», fährt sie fort. «So seltsam es klingt, aber ich muss ihm in dieser Hinsicht dankbar sein.»

Ich schaue hinaus. Immer noch ist der Himmel von Feuerwerk erleuchtet.

«Danke, dass Sie mir das erzählt haben», sage ich. «Ich bin froh, dass mein Bruder wenigstens ein bisschen Ganovenehre im Leib hat.»

Sie lächelt. «Mehr noch. Es spricht einiges dafür, dass er auch deshalb getrickst hat, weil er seinen Leuten helfen wollte. Das ist zwar nicht aus purer Nächstenliebe geschehen, denn es ging ja auch um seinen Kopf, aber wenn ich das richtig einschätze, dann hat Ihr Bruder beschlossen, alles auf seinen Deckel zu schreiben, damit die anderen aus der Schusslinie sind.»

«Und warum?», frage ich.

Sie zuckt mit den Schultern. «Würde mich auch interessieren. Es sieht jedenfalls nicht danach aus, dass er relevante Summen für sich zur Seite schaffen konnte. Vielleicht ist er am Ende ja doch ein ehrlicher Kerl, der einfach nur Pech hatte.»

«Klingt fast so, als würden Sie ihn am liebsten laufen lassen», unke ich.

«Er hat gute Chancen, auch so davonzukommen. Vorausgesetzt, er ist clever genug, da zu bleiben, wo er ist. Aber ich glaube, in Sachen Cleverness steckt Ihr Bruder uns beide in die Tasche.»

Ich öffne die Autotür.

«Grüßen Sie ihn von mir», sagt sie.

Ich nicke und lasse die Tür ins Schloss fallen.

Wenig später sitze ich im Dunkeln am Schreibtisch meines Vaters. Ich habe hinter der Gesamtausgabe von William James einen sehr alten Brandy gefunden, und diesmal trinke ich ein Glas auf Bartholomäus Jakobi. Die Lichtblitze der Silvesterraketen zucken über die Wände. Man hört das Feuerwerk hier nur noch als fernes Gewitter.

Erst jetzt schalte ich die Schreibtischlampe ein und öffne die obere rechte Schublade, um zu sehen, was Mutter hier für mich deponiert hat.

Es sind Tickets für eine Kreuzfahrt, ausgestellt auf ihren Namen. Die Route führt von Hamburg über London nach Miami, es folgen die Bahamas und dann … ich stocke beim Lesen … Kuba.

Ich rechne rasch aus, dass ich in knapp zwei Wochen in Havanna sein werde. Das Schiff legt übermorgen ab. Genug Zeit, um die Formalitäten zu erledigen und eine neue Badehose zu kaufen. Zufrieden gieße ich mir noch einen Brandy ein.