Gottes Beweise
«Hat dir das Gespräch mit Christian eigentlich weitergeholfen?», fragt Abel, als wir am nächsten Morgen bei einem kleinen Frühstück in unserer Schlafwagensuite zusammensitzen.
Gestern haben wir den Zug in letzter Minute erwischt und sind sofort müde in die Betten gesunken. Ein paar Drinks zu viel bei der Feier zu Ehren des neuen Pokerkönigs von Simming haben ihren Tribut gefordert.
Jetzt sind wir ausgeruht und so früh auf den Beinen, dass noch eine halbe Stunde Zeit ist, bis der Zug in Berlin eintreffen wird.
«Da wir praktisch nur über dich gesprochen haben, müsstest du eigentlich im Bilde sein», antworte ich. «Oder gab es Funklöcher bei der Gedankenübertragung?»
«Ich dachte, es passt dir nicht, wenn ich deine Gedanken lese», erwidert Abel.
«Es passt mir ja auch nicht. Aber das hat dich scheinbar bislang nicht davon abgehalten, es trotzdem zu tun», antworte ich herausfordernd.
«Ist ja jetzt auch egal», sagt Abel. «Gestern war ich jedenfalls dermaßen auf das Pokerspiel konzentriert, dass ich mir nicht auch noch euer Gespräch anhören konnte. Ihr wart also ganz unter euch. Ich weiß von nichts.»
«Interessant», sage ich in übertriebenem Tonfall und lehne mich zurück.
«Was ist interessant?», fragt Abel argwöhnisch.
«Dass dich deine Fähigkeiten immer genau dann im Stich lassen, wenn es dir in den Kram passt.»
Abel verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich eine Weile.
«Ich kann ja mal raten, was Christian dir gesagt hat», schlägt er vor und sieht mich provozierend an.
Ich mache eine einladende Handbewegung. «Bitte. Ich bin gespannt.»
«Gut. Die Kurzfassung der Theorie meines Sohnes lautet: Ich bin ein Scharlatan. Wahlweise ein Zyniker, ein Mann, der nicht erwachsen werden will, oder auch: der ewige Clown. Es macht mir also einfach Spaß, die Welt zum Narren zu halten.»
Sein Gesicht fragt: Na? Habe ich recht? Ich nicke, und er fährt fort: «Alles, was ich tue, ist fauler Zauber. Ein bisschen Illusion, ein bisschen Artistik, vielleicht sogar ein bisschen Psychologie. Wer weiß das schon? Jedenfalls lassen sich meine angeblichen Wundertaten problemlos rational erklären. Kurzum: Ein paar Zauberkunststückchen sind kein Beweis dafür, dass ich tatsächlich Gott bin. Dieser Beweis steht noch aus, und das seit mehr als zwei Jahrzehnten, obwohl ich ihn sehr leicht liefern können müsste, wenn ich wirklich derjenige wäre, der ich zu sein behaupte.»
«Beeindruckend», sage ich. «Klingt ja fast so, als hättest du doch unsere Gedanken gelesen.»
«Hat Christian dir auch gesagt, warum ich das seltsame Hobby habe, ständig die Welt an der Nase herumzuführen?»
«Nein», erwidere ich. «Aber das ist auch nicht nötig. Wenn man unterstellt, dass du nicht Gott bist, sondern ein Mensch mit psychischen Problemen, dann kann man zu dem Schluss kommen, dass du Angst vor dem Verlust der eigenen Identität hast, manipulatives Verhalten an den Tag legst und beziehungsgestört bist.»
«Oh. Das hört sich nicht gesund an», sagt Abel, sichtlich amüsiert.
«Ist es auch nicht», entgegne ich. «Die Symptome deuten auf eine Borderline-Störung oder auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hin.»
Der Anflug von Heiterkeit verschwindet aus Abels Gesicht. Er greift nach seiner Tasse und nimmt einen Schluck, während er nachdenklich in die fast unwirklich schöne Winterlandschaft blickt, die draußen vorbeizieht. «Das heißt also, du glaubst ihm. Und mir glaubst du nicht.»
«Es ist viel verlangt, an einen Gott zu glauben, der …» Ich überlege, wie ich Abel schonend beibringen kann, dass er keinen sehr überzeugenden Herrscher über Leben und Tod abgibt.
«… der so ist wie ich?», sagt Abel.
Mein Schweigen bestätigt seine Vermutung. Er blickt wieder hinaus in die Winteridylle und wirkt ratlos.
«Warum hast du Christian eigentlich nie einen schlagenden Beweis dafür geliefert, dass du Gott bist?», frage ich in versöhnlichem Tonfall.
Er sieht mich forschend an. «Geht es dir wirklich um Christian, oder hättest du gern ganz persönlich einen Gottesbeweis?»
Ich zucke mit den Schultern. «Eigentlich geht es doch nur darum, dass es eine Menge ungeklärter Fragen gibt», sage ich diplomatisch.
«Ach ja? Welche denn, zum Beispiel?»
«Zum Beispiel die, warum du nicht einfach ein paar Casinos sprengst, wenn du es kannst. Mit dem Geld könnte man viel Gutes tun, und selbst dein kritischer Sohn müsste zugeben, dass so was nicht mit ein bisschen Zirkuszauberei zu bewerkstelligen ist.»
«Gestern habe ich doch eine hübsche Summe dagelassen», erwidert Abel.
«Das war also auch eine von deinen Barabhebungen in der Spielbank?»
Abel nickt.
«Wenn das wirklich so leicht für dich ist, warum machst du es dann nicht im großen Stil? Mit viel Geld kann man auch viel bewegen.» Ich rechne nicht damit, dass Abel mir verrät, woher das ganze Geld wirklich stammt, aber einen Versuch ist meine Provokation wert. Vielleicht gibt er wenigstens zu, dass seine Argumentation löchrig ist.
Er atmet tief durch. «Okay. Nehmen wir mal an, ich mache es. Was würde passieren? In jedem Fall hätte ich die Presse am Arsch. Man würde wissen wollen, wie ich es angestellt habe, ein Casino nach dem anderen leer zu räumen. Und wahrscheinlich würde sich auch die Polizei für die Antwort interessieren. Was dann? Soll ich denen die Wahrheit sagen?»
Ich überlege und schweige.
«Tun wir mal so, als täte ich das», fährt Abel fort. «Ich sage denen ganz einfach: Ich bin Gott. Ich kann so was. Was würde dann passieren? Wäre meine Casino-Nummer Grund genug, mir abzukaufen, dass ich der eigentliche Herrscher der Welt bin? Kämen die Vertreter der Weltreligionen zu dem Schluss, dass ich die Wahrheit sage? Glaubst du, dass sie mich zu ihrem gemeinsamen Oberhaupt ernennen würden? Dass ab diesem Tag alle Menschen nur noch einen Gott hätten, egal welcher Religion sie vorher angehörten?»
«Da wäre ich mir jetzt nicht so sicher», sage ich.
«Dann sind wir ja einer Meinung. Wahrscheinlicher ist nämlich, dass man versuchen wird, mich zu diskreditieren, zu verklagen oder gleich zu ermorden. Weil die meisten Menschen nämlich so ticken wie du und mein Sohn: Sie glauben nicht an einfache Lösungen. Und das hat nichts mit Religionszugehörigkeit zu tun, wie du am Beispiel von Christian sehen kannst. Man mag zur Bibel stehen, wie man will, aber in diesem Punkt liegt sie richtig: Schick den Menschen einen Gott, und sie werden einen guten Grund finden, ihn ans Kreuz zu nageln.»
Ich schweige. «Vielleicht muss dein Gottesbeweis einfach noch imposanter ausfallen», gebe ich zu bedenken. «Irgendwie … göttlicher. Ich meine: Gut möglich, dass es nicht ausreicht, ein paar Casinos zu sprengen, um die Menschheit von deiner Existenz zu überzeugen.»
«Aha. Und was denkst du, womit man die Welt verändern kann?», fragt Abel. «Vielleicht mit Naturkatastrophen?»
Ich zucke mit den Schultern. «Ich weiß nicht. Ja. Vielleicht.»
«Okay, was hättest du denn gern?», fragt Abel spöttisch. «Eine Sintflut? Eine Seuche? Eine Dürre? Heuschreckenplagen werden auch immer wieder gern genommen. Oder würde dir schon eine Sonnenfinsternis reichen?»
Ich sehe ihn ratlos an. «Keine Ahnung», sage ich.
«Merkst du was, Jakob? Es ist gar nicht so leicht, Wunder zu vollbringen, die der Menschheit den richtigen Weg weisen. Wenn beispielsweise die Polkappen nicht sowieso durch die Erderwärmung schmelzen würden, sondern weil ich es ihnen befehle, dann hieße das noch lange nicht, dass die Menschen deshalb an einen Gott glauben. Eher im Gegenteil.»
Ich überlege angestrengt. «Du könntest etwas prophezeien», schlage ich vor. «Ein weltbewegendes Ereignis, von dem ein normaler Mensch nichts wissen kann.»
«Was heißt denn: ein normaler Mensch?», fragt Abel. «Jemand, der etwas Weltbewegendes weiß, dem würde man doch zuerst einmal Geheimwissen unterstellen. Oder etwa nicht? Nehmen wir an, ich sage einen Bürgerkrieg in einem kleinen Land voraus. Was würde passieren? Ganz einfach: Die schleppen mich in ein Militärlager und werden aus mir herauszuquetschen versuchen, woher ich diese Informationen hatte. Und die Erklärung, dass ich Gott bin, wird ihnen höchstwahrscheinlich nicht reichen.»
«Du musst ja nicht gleich eine dermaßen brisante Information veröffentlichen …», erwidere ich und wäge im Geiste die Möglichkeiten ab. «Vielleicht wäre es doch besser, eine Naturkatastrophe vorauszusagen.»
Abel lächelt. «Gut. Angenommen, im Großraum Los Angeles würde es in naher Zukunft ein gewaltiges Erdbeben geben. Eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Begleitet von Tsunamis und sintflutartigen Regenfällen würden weite Teile der Stadt im Meer versinken. Die Nachrichten sähen aus, als hätte Hollywood seine besten Spezialeffekte aufgeboten, um den eigenen Untergang spektakulär in Szene zu setzen. Aber die Bilder des in den Fluten des Pazifik versinkenden Hollywood-Schriftzuges wären bittere Realität.»
«Nicht schlecht», sage ich und nicke anerkennend. «So könnte ein Schuh draus werden.»
Abel nickt amüsiert. «Im Falle einer solchen Katastrophe müsste ich mich fragen lassen, warum ich sie nicht verhindert habe. Und da ist was dran. Ein Gott, der es nötig hat, ein paar Millionen Leben zu opfern, um seine Existenz zu beweisen, den braucht kein Mensch.»
Ich schweige, leicht betreten.
Abel zuckt mit den Schultern. «Das ist mein Problem», sagt er. «Wenn ich nicht in diesem Körper feststecken und langsam meine Kräfte verlieren würde, könnte ich dir wahrscheinlich sogar einen überzeugenden Gottesbeweis liefern. Aber dazu wird es wohl nie kommen, weil du einen Beweis für meine Existenz brauchst, bevor du bereit bist, mir zu helfen, diesen Beweis zu liefern.»
«Stimmt. Da beißt sich die Katze in den Schwanz», bestätige ich.
Wir schweigen eine Weile. Nur das leise Rauschen des Zuges ist zu hören. Draußen wird das Geräusch von der Winterlandschaft verschluckt. Man kann die Stille am Horizont spüren.
«Was sagt denn dein Bauchgefühl?», fragt Abel.
Ich zucke mit den Schultern. «Mal dieses, mal jenes. Deswegen höre ich nicht gern auf mein Bauchgefühl, sondern halte mich lieber an die Fakten.»
«Das hatte ich befürchtet», sagt Abel und nimmt seinen letzten Schluck Kaffee. «Willst du vielleicht … aussteigen?»
Sein Vorschlag überrascht mich.
«Ich könnte es verstehen», fährt er fort. «Wenn Gott seine Probleme über Jahre nicht in den Griff bekommt, wie soll ein Mensch das dann in ein paar Tagen schaffen?»
«Ich muss eine Nacht drüber schlafen», sage ich. «Ehrlich gesagt, habe ich gerade nicht die leiseste Ahnung, wie ich dir helfen soll.»
«Ist okay», sagt Abel. «Denk in Ruhe über alles nach, und dann sehen wir weiter. Wenn du aussteigen willst, ist das kein Problem. Es geht ja nur um das Glück der gesamten Menschheit und um die Zukunft des Universums.»
«Dann ist ja gut», sage ich.
Zu Hause erwartet mich Ärger. Jemand hat die Eingangstür zu meiner Einliegerwohnung mit Krimskrams zugestellt. Das Zeug befindet sich unter einer Plane, die ihrerseits inzwischen unter einer Schneedecke verschwunden ist. Sieht aus, als hätte eine Lawine meinen Wohnungseingang touchiert. Ich befürchte, illegal entsorgter Müll könnte sich darunter befinden. Jetzt muss wahrscheinlich ich mich darum kümmern, dass das Zeug wegkommt.
Mein Schlüssel klemmt. Ich stehe kurz vor einem Wutanfall, bemühe mich aber, ruhig zu bleiben. Es hilft ja nichts, wenn ich mich aufrege. Womöglich bricht mir dann der Schlüssel ab, und das bringt mich erst richtig in Rage. Wahrscheinlich ist nur Das Schloss eingefroren, denke ich. Ein Blick überzeugt mich vom Gegenteil. Und etwas anderes registriere ich irritiert: Das Schloss ist neu. Und es stammt, wie ich bei genauerem Hinsehen feststelle, nicht von demselben Hersteller wie mein Schlüssel.
Stehe ich etwa vor dem falschen Haus? Ich trete zurück, um mich davon zu überzeugen, dass dies hier tatsächlich meine Wohnung ist. Dabei fällt mein Blick auch auf das, was ich gerade noch für einen Müllhaufen gehalten habe, und es überkommt mich eine schlimme Vorahnung. Ich befreie ein Stück der Plane vom Schnee und hebe sie vorsichtig hoch. Meine Vorahnung wird nun Gewissheit. Was da unter der Plane liegt, sind meine wenigen Habseligkeiten. Ein paar Umzugskisten mit Akten, Büchern und Kleidung, außerdem einige Bilder und kleinere Einrichtungsgegenstände. Mehr habe ich nach der Trennung von Ellen nicht mitgenommen. Ich mag es nicht, wenn die Möbel mich an meine gescheiterte Ehe erinnern. Deshalb habe ich auch ein möbliertes Apartment gemietet. Besser gesagt: Ich hatte es gemietet. Denn klar ist nun auch, dass meine Wohnungstür tatsächlich ein neues Schloss bekommen hat, weil Ellen in meiner Abwesenheit das alte hat austauschen lassen. Das hier ist ihre ganz persönliche Art, unseren Mietvertrag für beendet zu erklären. Ich könnte nun noch überprüfen, ob meine Praxis ebenfalls ein neues Schloss bekommen hat, aber das kann ich mir sparen. Wenn Ellen etwas macht, dann macht sie es richtig. Und da sie sowieso für die geleaste Einrichtung der Praxis gebürgt hat, gehört mir dort nicht einmal der Fußabtreter.
Leichter Schneefall setzt ein.
Ich könnte Ellens Mailbox jetzt entweder mit einer Hasstirade füllen oder ausführlich darüber jammern, dass sie mich im tiefsten Winter und kurz vor Weihnachten einfach so auf die Straße setzt. Ich bin sicher, beide Reaktionen würden sie darin bestätigen, dass sie mich mit dem Rauswurf genauso verletzt hat, wie ich sie verletzt habe, als ich nicht nur kein Geld, sondern auch keinen Sex von ihr wollte. Es wäre für sie der perfekte Beweis, dass ihre Rache funktioniert.
Ich beschließe, ihr diesen Gefallen nicht zu tun. Als ihre Mailbox anspringt, gebe ich mich aufgeräumt und freundschaftlich: «Hi Ellen, hier ist Jakob. Du, ich habe gerade gesehen, dass du meine Sachen auf die Straße hast stellen lassen. Vielen Dank dafür. Ich wollte das sowieso alles wegwerfen. Das sind nur ein paar Akten, deine Liebesbriefe und unsere Hochzeitsfotos. Der ganze alte Plunder kann auf den Müll. Sag mir doch bitte, was die Abholung gekostet hat oder ob ich mich selbst drum kümmern soll. Danke! Liebe Grüße! – Ach, und ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder!»
Ich beende die Verbindung, atme tief durch und genieße die klare, kalte Winterluft. Dann bestelle ich ein Taxi und suche unter der Plane nach ein paar Kleidungsstücken. Mir fallen ein Beutel mit Schuhen, ein Koffer mit Wäsche und ein Kleidersack in die Hände. Gut.
Den restlichen Kram kann Ellen meinetwegen tatsächlich verbrennen. Ich habe jetzt genug anzuziehen und bin obendrein im Besitz von fünfzehnhundert Euro, für die Abel wahrscheinlich keine Rechnung sehen will. Es gibt Leute, die unter schlechteren Bedingungen ein neues Leben anfangen.
Ich brauche eine knappe Stunde, um in die Stadt zu kommen. Es wird mir ewig ein Rätsel bleiben, warum mein Bruder unbedingt in Mitte wohnen muss. Es gibt hier kaum Bäume, die Cafés und Geschäfte sind ganz auf die Bedürfnisse der überall herumwimmelnden Touristen zugeschnitten, und entsprechend laut und hektisch geht es auf den Straßen zu. Muss man sich das alles antun, nur einer repräsentativen Adresse wegen?
Das Klingelschild hat die Größe eines Kriegerdenkmals und in der Mitte eine Wölbung, hinter der sich eine Kamera befindet, mit der die Hausbewohner anonym entscheiden können, wer ihre Festung betreten darf.
«Hallo, Jakob. Was machst du denn hier?» Jonas’ Stimme klingt ein bisschen ungehalten. Er scheint in Eile.
«Kann ich eine Weile bei dir wohnen?»
Die Kamera scheint zu überlegen.
«Ich würde dich nicht fragen, wenn ich eine andere Wahl hätte», füge ich hinzu. «Außerdem sind es sechs Grad unter null. Und es schneit.»
Ein Summen. Die Tür öffnet sich.
Das Foyer sieht aus wie der Empfangsbereich eines Grandhotels. Auf einem schweren, roten Teppich gelangt man zu den Fahrstühlen.
Ähnlich großzügig sind auch die Wohnungen bemessen. Mein Bruder hat ein Loft gemietet, das im Grunde aus einem einzigen Raum besteht; der allerdings hat die Größe eines Tennisplatzes. Es gibt noch ein Schlafzimmer und zwei Bäder, die im Vergleich zu der protzigen Wohnhalle lächerlich klein wirken. Ursprünglich wollte Jonas das Loft sogar kaufen, aber Russen und Amis hatten sich bereits alle Objekte unter den Nagel gerissen, kaum dass die Planung des Komplexes begonnen hatte.
Jonas liebt spartanische Wohnverhältnisse. Er besitzt nur ein einziges Bild. Es ist ein Popkunstwerk, das ein Mammut zeigt – ich vermute, in Originalgröße. Das Mammut hat die undankbare Aufgabe, die riesige Wand gegenüber der Fensterfront auszufüllen.
Vor dem Kamin steht ein schlichtes, hellgraues Sofa. Daneben ein kleiner Tisch mit Fachmagazinen für vermögende Singles. Es geht um schöne Frauen, schnelle Autos, Yachten, Chronographen und Waschbrettbäuche. Vom Kamin aus gesehen ist der Essbereich so weit entfernt, dass man den Eindruck hat, auf dem Weg dorthin könnte das Wetter umschlagen. Eine strahlend weiß lackierte Tafel mit passenden Stühlen verheißt gesellige Runden vor der offenen Designer-Küche. Das gute Stück wartet noch darauf, eines Tages eingeweiht zu werden. Jonas hat das Loft gleich nach der Sanierung übernommen, und da er entweder auswärts isst oder sich was kommen lässt, ist die perfekt gestylte und funktional höchsten Ansprüchen genügende Küche bislang nicht angetastet worden. Lediglich die eingebauten Fächer für Weinflaschen und der Kühlschrank sind in Gebrauch. Ich kenne einige hart arbeitende Hausfrauen, die angesichts einer solchen Verschwendung in Tränen ausbrechen würden. Und ich vermute, dass auch Jonas’ ukrainische Putzfrau mit starken Emotionen zu kämpfen hat, wenn sie allwöchentlich ein paar Staubkörner von der Anrichte pustet: Was könnte diese Küche nicht alles leisten, wenn man sie nur ließe?
«Ich komme gleich!», ruft Jonas. «Nimm dir was zu trinken oder so.»
«Kein Problem! Ich hab Zeit!», rufe ich zurück.
Ich lege meinen Kram zu Füßen des Mammuts ab, dabei fällt mein Blick auf zwei Koffer und einige Reisetaschen, die etwas versteckt neben dem Sofa stehen. Auf einem der Koffer liegt ein Flugschein. Ich sehe gerade noch, dass es sich um ein One-Way-Ticket für die 6.20-Uhr-Maschine von Prag nach Havanna handelt, als Jonas erscheint.
«Entschuldige, ich hab noch einiges zu erledigen, bevor ich abhaue.»
«Wieso Kuba? Und wieso fliegst du schon morgen früh?», frage ich entgeistert.
Er nimmt mir den Flugschein aus der Hand, faltet ihn rasch und steckt ihn wortlos in sein Sakko.
«Ausgerechnet Heiligabend musst du nach Kuba fliegen?», füge ich vorwurfsvoll hinzu. «Was wird aus Mutter?»
«Ich wollte mich deshalb noch bei dir melden», erwidert Jonas. «Du musst dich diesmal leider allein um sie kümmern.»
«Was zur Hölle ist denn nur passiert, dass du nicht mal einen Tag warten kannst? Außerdem dachte ich, du wolltest nach Florida.»
Er wirkt zerknirscht. «Wollte ich auch. Aber ich hab Mist gebaut.»
«Oh! Wer will deinen Kopf?», witzele ich. «Das BKA? Die CIA? Interpol?»
«Schlimmer», erwidert Jonas. «Eine Frau. Genauer gesagt: die Frau eines Vorstandsmitgliedes.»
«Lass mich raten: Ihr habt eine Affäre.»
«Wir hatten. Und jetzt redet sie sich ein, dass ihre Ehe eine Lüge ist …»
«Nicht ganz abwegig, wenn man in Betracht zieht, dass sie ihren Mann betrügt», gebe ich zu bedenken.
«Das ist aber trotzdem noch lange kein Grund, gleich mit mir durchbrennen zu wollen», sagt Jonas aufgebracht.
Er sieht mein erstauntes Gesicht und nickt bestätigend. «Ja. Sie möchte mit mir in die Staaten ziehen.»
«Und um das zu verhindern, haust du einfach so nach Kuba ab? Ist das nicht ein bisschen … pubertär?»
«Absolut. Aber sie ist eine fürchterliche Klette. Und in ein paar Tagen wäre ich doch sowieso weg. Vielleicht versteht sie ja auf diese Weise, dass ich ihre Gefühle nicht erwidere.»
«Wahrscheinlich wird sie das. Ist allerdings kein netter Zug von dir.»
Die ebenso dezente wie melodische Türglocke ertönt.
«Das ist mein Taxi», sagt Jonas. «Was ist? Kümmerst du dich um Mutter?»
«Was ist mit deinen Möbeln?», frage ich.
«Die bleiben hier. Wenn du willst, nimm dir, was du brauchst. Der Rest wird entsorgt. Es ist teurer, den Kram verschiffen zu lassen, als drüben alles neu zu kaufen.» Er zieht einen Schlüsselbund hervor und reicht ihn mir. «Der Wagen steht in der Tiefgarage. Der Leasingvertrag läuft Ende des Monats aus, dann holen sie ihn ab. Die Wohnung ist bis Ende Januar bezahlt. Und in der Küche gibt es noch ein paar Flaschen Wein. Bedien dich einfach.»
Wieder ertönt die Türglocke, Jonas huscht in den Gang. «Ja, doch! Ich komme gleich», höre ich ihn in die Gegensprechanlage sagen.
Ich fühle mich überrumpelt. Es war zwar klar, dass mir dieser Abschied bevorstehen würde, trotzdem kommt das jetzt gerade etwas plötzlich.
Jonas reicht mir ein winziges, in edles Papier gehülltes Päckchen. «Könntest du das bitte Mutter geben? Von mir für sie zu Weihnachten.»
Ich nicke und nehme das Geschenk an mich.
«Und bitte zu keinem ein Wort, wann, wohin und von wo aus ich fliege. Ich weiß wirklich nicht, wie weit der Liebeswahn dieser Verrückten noch geht.»
Ich nicke. «Ich werde schweigen», sage ich, und nach einer kleinen Pause füge ich hinzu: «Und ich werde mir deinen Wein schmecken lassen.»
Er lächelt. «Danke, Bruder.»
Wir umarmen uns kurz, fast flüchtig. Im Hause des großen Bartholomäus Jakobi galt es als unmännlich, wenn Männer sich körperlich näher kamen, als für einen Händedruck nötig.
«Wann werden wir uns wiedersehen?», frage ich.
«Du besuchst mich einfach, wenn alles geregelt ist», entgegnet Jonas zuversichtlich. Es klingt wie: Irgendwann, wer weiß das schon?
«Schön», sage ich, als hätten wir uns gerade fest verabredet.
Er schnappt sich seine Sachen und ist wenige Sekunden später im Fahrstuhl verschwunden.
Ich schlendere zurück zur Wohnungstür und betrete meine vorübergehende Bleibe: ein riesiges Loft inklusive Sportwagen und kleinem Weinvorrat. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass ich vor knapp zwei Stunden noch obdachlos war.