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Gottes Käsetafel

Wir diskutieren länger als eine halbe Stunde darüber, wie man den Inhalt des Kühlschranks in ein halbwegs sinnvolles Menü verwandeln könnte. Einig sind wir uns, dass am Anfang die Austern stehen sollen, begleitet von einem Glas Champagner. Während Abel dieser Vorspeise aber ein Stück Pastete mit dunklem Brot und mildem Chutney folgen lassen möchte, um dann zu Lachs und Garnelen überzugehen, halte ich es für besser, dass wir zunächst die maritime Seite des Kühlschranks komplett abarbeiten, um uns dann nach Pastete, Braten, Schinken und Salami auf die Käsespezialitäten freuen zu können. Wie sich in der Diskussion herausstellt, hat es uns beiden die exzellente Käseauswahl am meisten angetan. In gewisser Weise bedauern wir sogar, dass sie erst am Ende des Abends auf dem Programm stehen wird.

«Dann lass uns doch einfach das ganze Chichi weglassen und nur Käse mit Baguette auftischen», schlägt Abel vor. «Dazu köpfen wir nacheinander deine Spitzenrotweine und schauen uns im Fernsehen irgendeinen Quatsch an. Heute läuft meines Wissens die Bibelverfilmung von John Huston. Mit John Huston als Noah.» Abel grinst. «Pompös und schwülstig, aber genau deshalb auch wahnsinnig komisch.»

Guter Plan. Ich bin einverstanden.

Zwanzig Minuten später sind die Vorbereitungen für den Heiligabend erledigt. Abel hat eine Flasche Wein entkorkt und dekantiert, eine zweite holt schon mal Luft. Ich habe mich inzwischen um die Käseplatte gekümmert. Ein Brett, groß wie ein Wagenrad, steht nun auf dem Couchtisch vor dem Fernseher. Man muss aufpassen, dass man nicht schon vom bloßen Hinsehen satt wird. Mutter hat wieder einmal zu viel eingekauft. Auch das ist eine ihrer Angewohnheiten. Als mir bewusst wird, dass der Käse im Kühlschrank keine sichtbare Lücke hinterlassen hat, frage ich mich, wer diesen Berg von Lebensmitteln eigentlich essen soll. Das meiste wird wohl vergammeln. Wirklich schade drum.

Der Glockenschlag von Big Ben ertönt. Es ist die Türklingel. Mutter hat keinen besonderen Bezug zu London. Sie findet es einfach nur originell, bekannte Melodien zu missbrauchen. So ähnlich hat sie auch die Klingeltöne für ihr Handy ausgesucht. Wenn Jonas anruft, spielt das Ding We are the champions. Im Falle meines Anrufs hört man Hit the road, Jack.

Mutter findet so was lustig.

«Das ist die Türklingel», rufe ich Abel zu, der gerade im Wohnzimmer beschäftigt ist. «Ich schau mal kurz nach, wer das ist.»

«Alles klar», antwortet Abel.

An der Tür erwarten mich drei Herren mit Violinen. Bevor ich verstehe, was vor sich geht, beginnen die Instrumente I’m dreaming of a white Christmas zu schluchzen. Ich höre eine Version des Evergreens, die so zuckersüß ist, dass man Karies davon bekommen könnte. Immerhin passt die Darbietung gut zu diesem idyllischen, winterlichen Villenviertel.

Während ich noch überlege, wo Mutter für solche Fälle das Kleingeld aufbewahrt, verstummen die Violinen mit einem letzten, langen Seufzer. Der mittlere der Musiker nimmt den Hut vom Kopf und tritt vor.

«Frohe Weihnachten, der Herr», wünscht er in einem leichten osteuropäischen Akzent. Ich vermute, dass ich drei original ungarische Teufelsgeiger vor mir habe.

«Meine Brüder und ich müssen eine sehr große Familie ernähren. Wenn Sie also für uns eine Kleinigkeit erübrigen könnten, dann wären wir Ihnen sehr verbunden. Wir nehmen übrigens alle gängigen Kreditkarten.» Er entblößt eine Reihe Goldzähne. «Nur ein kleiner Scherz, der Herr.»

Ich nicke und bedeute den dreien, zu warten. Auf dem Weg zu Mutters Groschengrab begegnet mir Abel, der offenbar mitgehört hat.

«Warum gibst du ihnen nicht einfach was von unseren Vorräten?», fragt er. «Wäre doch schade drum. Und wir können sowieso nicht alles essen.»

«Sehr gute Idee. Ich frag die drei», antworte ich und bin schon wieder auf dem Weg zur Tür.

«Ich pack dann schon mal was zusammen», ruft Abel mir hinterher.

«Nehmen Sie auch Lebensmittel?», frage ich die Musiker.

Die Teufelsgeiger tauschen skeptische Blicke. Ihr Sprecher deutet eine Verbeugung an, dann räuspert er sich. «Guter Herr, es ist so: Manche Ihrer Landsleute erwarten, dass wir für ein altes Stück Brot mit Schmierwurst vor Dankbarkeit auf die Knie fallen. Ich hoffe, Sie nehmen es mir deshalb nicht übel, wenn ich höflich frage: Was haben Sie denn so anzubieten?»

Der Kerl gefällt mir. «Durch gewisse Umstände wird das heutige Festessen in diesem Haus kleiner ausfallen als geplant», erkläre ich. «Deshalb haben wir noch frische Austern, Garnelen und Lachs im Angebot. Außerdem Pasteten, Schinken, Braten und natürlich ganz frisches Brot.»

Ich schaue in die zweifelnden Gesichter der Teufelsgeiger.

«Kein Witz», sage ich. «Können Sie alles haben.»

Das ungläubige Schweigen hält noch eine kurze Weile an.

«Sehr gern», antwortet dann der Sprecher der drei und zeigt hocherfreut seine Goldzähne.

In der Küche treffe ich Abel. Er hat drei große Pappkisten aufgetrieben und prall mit Lebensmitteln gefüllt. Auf den ersten Blick ist klar, dass der Inhalt der Kisten unmöglich im Kühlschrank gewesen sein kann. Das ist rein physikalisch ein Ding der Unmöglichkeit.

Abel bemerkt meine Verwunderung. Rasch schließt er die Kühlschranktür. «Du kannst das nicht wissen, aber die drei müssen zusammen über zwanzig Leute versorgen», erklärt er. «Das hier reicht für die Feiertage. Dann müssen sie nicht noch mal raus bei dem Sauwetter.»

«Na ja. Ist ja schließlich Weihnachten», erwidere ich, als wäre das ein Freibrief für wundersame Essensvermehrungen außer der Reihe. Was ich eigentlich meine, ist: Ich werde mir an Heiligabend nicht darüber den Kopf zerbrechen, wie Abel jetzt schon wieder die Sache mit den Lebensmitteln gedeichselt hat. Das muss Zeit haben bis morgen.

«Genau», sagt Abel beschwingt.

Als wir den Musikern die Kisten reichen, lasse ich meinen Blick über die Lebensmittel wandern und stelle fest, dass noch etwas fehlt: der Wein, den Mutter gekauft hat.

«Moment», sage ich und verschwinde nochmals in der Küche.

Als ich dem Sprecher zwei Flaschen in die Lebensmittelkiste lege, wirft der einen Blick darauf und nickt anerkennend. «Oh. Ein Pouilly-Fuissé. Toller Wein, vielleicht ein bisschen überteuert, verglichen mit einigen anderen nicht ganz so berühmten Burgundern. Aber trotzdem, ich bin beeindruckt.»

Ich ebenfalls. Es wundert mich, dass ein Straßenmusiker mit abgewetztem Mantel ein solcher Weinkenner ist.

Er sieht mir an, was ich denke. «Wir haben nicht immer auf der Straße gespielt», sagt er. «Als es den eisernen Vorhang noch gab, da waren wir in den Konzertsälen Osteuropas bekannt wie bunte Hunde. Ein paar Jahre lang haben wir gelebt wie die Könige.» Ein letztes Mal lässt er die Goldzähne blitzen. «Tja. So ändern sich die Zeiten. Frohe Weihnachten.»

«Frohe Weihnachten», wünsche ich.

Gemächlich und zufrieden ziehen die drei mit ihren Gaben davon.

«Das hast du arrangiert», sage ich zu Abel, als wir wenig später im Wohnzimmer bei schwerem Wein, edlem Käse und John Hustons bescheuertem Bibelfilm zusammensitzen.

Abel schüttelt den Kopf. «Nein. Ausnahmsweise nicht.»

Ich nippe an meinem Wein und schweige. Unauffällig beobachte ich, wie mein Patient das Abendprogramm genießt. Er hat es sich an seinem Ende des Sofas bequem gemacht. Die Füße liegen auf einem Hocker, die Hände sind vor dem Bauch gefaltet. Den Wein hat er auf einem Beistelltisch geparkt. Der Film amüsiert ihn sichtlich.

Ich denke gerade, dass ich ihm gerne glauben würde. Ganz nebenbei hätte es wohl für uns beide Vorteile, wenn ich ihn für Gott hielte. Er wäre überzeugt, dass ich ihm helfen könnte. Und ich wäre im Handumdrehen ein religiöser Mensch. Plötzlich hätte ich nicht nur eine spirituelle Heimat, sondern auch eine klare Moral und als Zugabe eine daraus resultierende Lebensaufgabe. Als Diener Gottes würde ich mich dazu aufraffen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Klingt anstrengend, aber auch reizvoll.

«Woran denkst du gerade?», fragt Abel.

«An nichts», antworte ich ertappt.

Abel nickt zufrieden. «Das ist gut. Lass uns heute Abend einfach nur hier sitzen und nichts tun.»

Fast gleichzeitig schauen wir zum Fernseher. Noah steht gerade an der riesigen Eingangsluke seiner Arche und betrachtet die an ihm vorbeiziehenden Tiere. Er wirkt wie ein Türsteher, der den Überblick verloren hat.

Keine Ahnung, was einschläfernder ist: der Bordeaux meines Bruders oder der Bibelfilm von John Huston. Als ich die Augen aufschlage und ein anderes Programm läuft, weiß ich jedenfalls, dass ich eingenickt sein muss. Abel hat das gleiche Schicksal ereilt. Sein Kopf ist zur Seite gekippt und ruht nun auf der Sofalehne.

Der Raum ist überheizt. Ich öffne ein Fenster, um zu lüften, schließe es jedoch sofort wieder, weil mich klirrende Kälte anspringt. Die Außentemperatur ist binnen kürzester Zeit rapide abgesackt. Ich drehe die Heizung herunter, setze mich aufs Sofa, nehme einen Schluck Wein und zappe gelangweilt durch die Kanäle. Dabei fallen mir schon wieder die Augen zu.

Als ich aufwache, hat sich der Raum merklich abgekühlt. Abel schläft immer noch. Ich drehe die Heizung wieder hoch, dabei fällt mein Blick zum Fernseher. Witzig, denke ich. Es läuft derselbe alte Film, den ich vor einer Weile nachts im Krankenhaus gesehen habe. Und wieder fällt mir der Titel nicht ein. James Stewart spielt einen verzweifelten Familienvater. Ein Engel soll ihn vor dem Selbstmord retten. Aber wie, zur Hölle, heißt denn nur dieser Film?

«It’s a wonderful life», sagt Abel. Seine Augen sind immer noch geschlossen, aber offenbar ist er wach. «Der deutsche Titel lautet: Ist das Leben nicht schön? Ein typischer Capra aus den Vierzigern.»

«Ein … was?»

Er öffnet die Augen. «Frank Capra. So heißt der Regisseur.»

«Sagt mir nichts.»

«Arsen und Spitzenhäubchen? Mit Cary Grant?»

«Ja. Der sagt mir was.»

«Den hat Capra auch gedreht», erwidert Abel.

«Ich bin beeindruckt. Du kennst dich wirklich gut aus.»

«Geht so», sagt Abel, reibt sich den Nacken und drückt das Kreuz durch.

Ich setze mich wieder. Es ist fast Mitternacht. Schweigend sehen wir zu, wie James Stewart mit seinem Schicksal hadert.

«Schon eine witzige Idee», bemerkt Abel nach einer Weile. «Ich glaube, dass es eine Menge Leute interessieren würde, wie die Welt wohl aussähe, wenn sie nie geboren wären.»

Nur langsam sickert der Satz in mein Bewusstsein. Dann durchzuckt mich ein verrückter Gedanke. Ich schaue Abel grübelnd an.

«Was ist? Was hast du?» Er fingert nach seinem Weinglas. «Habe ich was Falsches gesagt?» Gerade will er das Glas ansetzen, da hält er inne. «Nein! Das meinst du nicht ernst, oder?»

Ich nicke. «Doch. Könntest du es denn überhaupt?»

«Dir die Welt zeigen, wie sie aussähe, wenn du nie geboren wärst?»

Wieder nicke ich. «Genau das.»

«Ja. Das könnte ich tatsächlich. Aber bist du sicher, dass du das wissen willst? Was, wenn dein Leben beispielsweise bislang praktisch keinen nennenswerten Effekt hatte?»

«Damit rechne ich eigentlich», gebe ich zu. «Aber die Details würden mich trotzdem interessieren.»

«Vielleicht hatte dein Leben auch negative Konsequenzen. Niemand kann alle Folgen seiner Handlungen voraussehen. Das kann ja nicht mal ich. Wer weiß also, in welche Abgründe du blicken müsstest?»

Jetzt geht mir ein Licht auf. «Schon klar, Abel. Du willst dich drücken. Mir die Welt zu zeigen, wie sie aussähe, wenn ich nicht geboren wäre, ist nämlich mehr als ein Taschenspielertrick. Wahrscheinlich bräuchtest du eine ganze Weile, um eine so schwierige Nummer einzustudieren, richtig?»

Abel nimmt einen Schluck Wein. «Wenn man dich so hört, dann könnte man annehmen, dass es für dich ein Gottesbeweis wäre, wenn ich dir die Welt ohne Jakob Jakobi zeigen könnte.»

Ich überlege kurz und komme zu dem Schluss: Stimmt. Eine solch aberwitzige Erfahrung, wie James Stewart sie in diesem Film macht, muss einen von der Existenz eines höheren Wesens überzeugen. Wer selbst so etwas für Taschenspielerei hält, dem kann wohl auch der Himmel nicht mehr helfen. «Na ja», sage ich. «Es wäre jedenfalls nicht so leicht zu erklären wie deine anderen Zaubertricks.»

Abel lächelt. «Du würdest mir am Ende unserer Reise damit kommen, dass ich dich hypnotisiert, unter Drogen gesetzt oder sonst irgendwie ausgetrickst habe.»

«Schon möglich», sage ich. «Vielleicht wäre ich aber auch spontan überzeugt davon, dass du wirklich Gott bist.»

Abel überlegt, dann steht er auf. «Okay. Dann hoch mit dir!»

«Weshalb?», frage ich irritiert.

«Hat damit zu tun, dass in der Welt, in der Jakob Jakobi nicht existiert, an genau dieser Stelle kein Sofa steht.»

«Was?», frage ich lachend. «Was redest du da für einen Quatsch?»

«Das ist kein Quatsch», sagt Abel. «Ich klatsche jetzt in die Hände, und dann sind wir in jener Welt, in der du nie geboren wurdest. Aber du solltest wirklich überlegen, ob du nicht vorher besser aufstehen willst.»

Ich schaue ihn prüfend an und sehe, dass er es ernst meint.

«Okay», sage ich. «Ich möchte in der Tat gerne wissen, wie die Welt ohne mich aussähe. Aber ich werde hier sitzen bleiben.»

Abel nickt und klatscht in die Hände. Im nächsten Moment wird es schlagartig dunkel, und ich habe das Gefühl, jemand zieht mir mit einem Ruck das Sofa unter dem Körper weg. Ich lande mit dem Hintern auf dem Parkett und erschrecke ein wenig.

«Ich hab dich gewarnt», sagt Abel. «Aber die gute Nachricht lautet: In dieser Welt kannst du dir nichts brechen. Es gibt dich ja nicht.»

Verdutzt schaue ich mich um. Rasch gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich erkenne: Wir befinden uns im gleichen Haus, draußen liegt der gleiche Schnee, und offenbar handelt es sich um die gleiche, frostige Nacht. Und doch ist irgendwie alles ganz anders. Es gibt hier tatsächlich kein Sofa. Die Ecke, wo der Fernseher stehen müsste, wird von einem riesigen Weihnachtsbaum eingenommen, davor liegt Spielzeug. Es sieht so aus, als wäre hier heute Abend eine Horde von Kindern beschenkt worden.

Ich erkenne, dass die Wand zum benachbarten Esszimmer entfernt worden ist. Mutter hatte auch immer den Plan, die beiden kleinen Räume zu einem großen Wohn- und Esskomplex zu verbinden. Offenbar ist das jetzt auf wundersame Weise geschehen. Aber wie? Und wer hat das veranlasst?

«In der Welt, in der du nicht geboren wurdest, ist das hier auch nicht der Sitz der Jakobis», erklärt Abel. «Aktuell gehört die Villa einem vermögenden Zahnarzt. Er lebt hier mit seiner Familie.»

Ich schweige verblüfft.

«Nette Leute, übrigens», fährt Abel fort. «Die beiden haben vier Kinder. Du kannst den Hausherrn auch gleich kennenlernen. Er glaubt nämlich, Geräusche gehört zu haben und wird jeden Moment die Treppe herunterkommen.»

Noch immer bringe ich keinen Ton heraus.

«Hallo? Ist da jemand?», fragt eine tiefe Männerstimme. Man hört Schritte auf der Treppe.

«Was jetzt?», flüstere ich hektisch in die Dunkelheit.

Bevor Abel etwas erwidern kann, werden die Flügeltüren geöffnet, und das Licht flammt auf.

Ein kräftiger Mittvierziger betritt den Raum. Er hat einen Golfschläger in der Hand. Sieht lässig aus. Als sich unsere Blicke treffen, ist mir klar, dass er das Ding auch benutzen wird.

«Ich kann alles erklären», sage ich, während er wortlos auf mich zukommt. Wie genau ich das hier erklären will, ist mir selbst schleierhaft. Zunächst einmal möchte ich nur vermeiden, eins mit dem Golfschläger übergebraten zu bekommen. Bei meinem Glück wird der Kerl bestimmt die Nase treffen.

«Nun warten Sie doch bitte einen Moment!», sage ich flehentlich, hebe abwehrend die Hände und weiche dabei zurück.

Der Kerl marschiert unbeeindruckt weiter. Als ich damit rechne, dass er nun seine Waffe heben und auf mich eindreschen wird, geschieht jedoch etwas Seltsames: Er geht an mir vorbei, als wäre ich Luft.

Dann kontrolliert er, ob das Fenster verschlossen ist.

«Schatz? Was ist denn? Alles okay?», ruft eine ängstliche Frauenstimme aus der oberen Etage.

«Ja. Alles okay, Liebes. Schlaf weiter! Es war nichts. Wahrscheinlich nur der Wind», antwortet er, löscht das Licht und zieht die Tür zu.

Wieder Schritte auf der Treppe, dann ist es still.

«Was war denn das?», frage ich leise.

«Du kannst in normaler Lautstärke sprechen», erwidert Abel. «Die Menschen in dieser Welt können dich weder hören noch sehen. Es gibt dich ja bekanntlich nicht – du erinnerst dich, oder?»

«Aber er hat mich doch gehört. Das Geräusch, als ich aufs Parkett geknallt bin. Deswegen ist er doch gekommen, oder?»

«Nein. Er hat nur geglaubt, etwas zu hören. Für ihn sind wir Gespenster. Aber die Tatsache, dass er uns weder hören noch sehen kann, heißt ja nicht, dass er nicht trotzdem eine Ahnung davon hat, dass wir da sind.»

«Das ist wirklich abgefahren», sage ich tief beeindruckt.

«Würde ich so nicht sagen. Es gibt Dinge, die sind noch viel abgefahrener. Zum Beispiel … das hier.» Er klatscht in die Hände, und im gleichen Moment stehen wir vor einem Reihenhaus in einer weihnachtlich geschmückten Siedlung. Keine Ahnung, wo genau wir uns befinden. Ich trage nur Hemd und Hose und bin obendrein auf Socken unterwegs. Noch ist mir nicht kalt, aber das wird sich bestimmt in ein paar Sekunden ändern. Auch Abel ist leicht bekleidet.

«Keine Sorge», sagt er. «Gespenster kriegen keinen Schnupfen. Da du nicht existierst, hast du auch kein Kälteempfinden. Übrigens auch keinen Hunger, keinen Durst und keinen Wunsch nach Schlaf.»

«Dann dürfte mir ja meine Nase auch nicht mehr weh tun», sage ich vorwitzig und will den Verband betasten. Erstaunt stelle ich fest, dass der Verband weg ist. Meine Nase fühlt sich an wie neu.

«Wer nicht existiert, kann auch keine angebrochene Nase haben», erklärt Abel. «Und es wäre schön, wenn du dir ab jetzt mal ein paar Dinge selbst erklären könntest. So blöd bist du ja nun auch wieder nicht, oder?»

«Schon okay», sage ich. «Ich glaube, ich habe das System verstanden.»

«Fein», erwidert Abel zufrieden.

«Und wo sind wir hier jetzt gelandet?»

«Köln. Ein Vorort von Köln, um genau zu sein. Hier wohnt …» Er räuspert sich. «… Bartholomäus Jakobi mit seiner Familie.»

Schockiert starre ich Abel an.

«Ich habe dich nicht umsonst davor gewarnt, dass diese Sache hier mit abgründigen Erkenntnissen verbunden sein könnte», beeilt sich Abel zu erklären. «Aber wenn du willst, können wir jederzeit aussteigen.»

«Mein Vater wäre noch am Leben, wenn ich nicht geboren wäre?», frage ich fassungslos.

Abel nickt stumm.

«Aber … warum?»

«Ist eine längere Geschichte. Wie gesagt, du musst sie dir nicht anhören, wenn du nicht willst. Ich könnte jetzt in die Hände klatschen, und im Handumdrehen befinden wir uns wieder im Haus deiner Mutter.»

Ich betrachte das Reihenhaus und sehe, dass in einem der unteren Zimmer das Licht angeschaltet wird. Hinter dem schweren Vorhang ist die Silhouette eines Mannes zu erahnen.

Fragend sehe ich Abel an.

«Ja. Das ist dein … Vater. Er schläft nicht immer gut. Ist ja auch nicht mehr der Jüngste mit fast fünfundsiebzig.»

Gebannt schaue ich zum Fenster. Ich habe einen Kloß im Hals.

«Lass uns reingehen», sage ich nach einer Weile.

Abel nickt und klatscht in die Hände.