Gottes Geliebte
«Du kommst spät.» Die Frau, die uns die Tür öffnet, ist Mitte vierzig, hat dichtes, pechschwarzes Haar und stark geschminkte Augen. Sie trägt ein blaues Dirndl, das ihre beträchtliche Oberweite eindrucksvoll zur Geltung bringt. An ihrem Hals hängt ein ebenfalls übergroßes Kruzifix, gehalten von einem schlichten Lederriemen. Es sieht ein bisschen aus, als würde der Gekreuzigte ihr in den Ausschnitt schielen.
«Die Bahn hatte Verspätung», erwidert Abel lapidar.
«Na, dann willkommen», sagt die Frau und tritt zur Seite, um uns hereinzulassen.
Essensgeruch hängt in der Luft. Der Flur ist vollgestopft mit Devotionalien: Kreuze, Heiligenbilder, Rosenkränze und diverse Madonnen. Die Figuren stehen auf passgenauen Sockeln, was dem Flur die Anmutung eines überdimensionalen Setzkastens verleiht. Am Ende des Ganges kann ich einen Hausaltar erkennen, der von zwei armdicken Kerzen illuminiert wird.
«Und Sie müssen Abels Seelenklempner sein», begrüßt mich die Frau herzlich. «Ich bin die Maria. Wird höchste Zeit, dass sich endlich mal jemand um den Abel kümmert.» Sie deutet auf ein kleines, bronzenes Weihwasserbecken an der Wand. «Wenn der Herr Doktor sich vielleicht kurz bedienen möchte …»
«Vielen Dank. Aber ich bin nicht sehr gläubig.»
«Das gehört sich hier aber so», sagt sie barsch.
Ihr Tonfall duldet definitiv keine Widerrede, also tauche ich überrumpelt meine Fingerspitzen ins Weihwasserbecken und bekreuzige mich hastig. Abel, der die Prozedur ebenfalls hinter sich bringen muss, ist sichtlich amüsiert.
«Hier hat sich aber jemand viel Mühe gegeben», bemerke ich beim Anblick der akkurat ausgerichteten Heiligenfiguren.
«Das war alles der Josef, mein Mann», erklärt sie und geleitet uns in die Küche. «Der Josef ist nämlich Zimmermann.»
Auf dem Tisch stehen eine Schüssel mit Weißwürsten, ein Korb mit Salzbrezeln und ein großes Glas süßer Senf. Mit den Worten «Ich hol uns rasch noch Bier und Limonade» verschwindet Maria.
Ich werfe Abel einen kritischen Blick zu. «Die beiden heißen Maria und Josef? Das ist’n Witz, oder?»
«Nein. Wieso?», erwidert Abel. «Wir sind hier in Bayern. Komisch wäre es eher, wenn die beiden anders heißen würden.»
«Und er ist … Zimmermann?»
«Was hast du gegen diesen ehrenwerten Beruf einzuwenden?»
«Und haben Maria und du vielleicht zufällig auch einen Sohn, den Josef quasi adoptiert hat?», frage ich.
«Zufällig ja. Wobei Maria gleich drei Kinder von drei verschiedenen Männern hat. Josef ist in keinem Fall der leibliche Vater. Er hat es irgendwann akzeptiert, dass seine Frau regelmäßig von anderen Männern schwanger wurde. Wie du unschwer erkannt hast, sind die beiden sehr gläubig. Er glaubt, dass Gott ihn prüfen will. Sie glaubt, dass Gott ihr andere Männer schickt, weil Josef unfruchtbar ist.»
«Oh. Das wusste ich nicht. Tut mir leid.»
«Muss es nicht», entgegnet Abel. «Sie liegt falsch. Josef ist nicht unfruchtbar, die beiden passen nur biologisch nicht gerade perfekt zusammen. Josef hatte mal eine Affäre mit der Nachbarin. Er hat mit ihr ein Kind gezeugt. Aber das weiß er nicht, weil sie es ihm verschwiegen hat.»
«Und euer Sohn heißt Jesus», rate ich.
«Christian», korrigiert Abel.
«Was ist mit Christian?», will Maria wissen. Gerade hat sie die Küche betreten.
«Wir sind mit ihm verabredet», antwortet Abel. «Später.»
Sie nickt, scheint aber nicht eben begeistert von unserem Plan zu sein. Sie stellt die mitgebrachten Flaschen auf den Tisch. «Limo oder Bier?»
«Limo», antworten Abel und ich synchron. Die letzte Nacht steckt uns noch in den Knochen.
Die Küchentüre knarrt, und ein gedrungener Kerl mit riesigen Händen betritt den Raum. Er trägt eine Lederhose und ein kariertes Hemd, aus dem graue Brusthaare hervorschauen. «Grüß Gott, miteinander!»
«Ich grüß dich auch, Josef!», erwidert Abel sonnig.
Marias Mann nickt in die Runde, setzt sich an den gedeckten Tisch und bekreuzigt sich. «Wir wollen beten.»
Er wartet, bis alle die Hände gefaltet und die Köpfe gesenkt haben.
«Gott will uns speisen. Gott will uns tränken. Nun lasst uns still unsere Augen senken. Und lasst uns seiner Gäste gedenken.»
Hübsches Gebet, finde ich, räuspere mich und will gerade sagen: Amen. Da trifft mich Josefs vorwurfsvoller Blick. Offenbar ist er noch nicht fertig. Rasch nehme ich wieder eine demütige Haltung ein.
«Und lasst uns seiner Gäste gedenken», wiederholt Josef mit Nachdruck. «Dem Hirsch im Klee. Dem Karpfen im See. Der Biene im Honigduft. Dem Spatz in der Himmelsluft …»
Ich werfe Abel einen fragenden Blick zu. Keine Reaktion.
«… Der Schlange im Dorn. Dem Mäuschen im Korn …» Josef scheint das Gebet sehr zu mögen, denn seine eben noch ernste Miene verwandelt sich zunehmend in ein entrücktes Lächeln. «… Dem Bären im Forst. Dem Adler im Horst …»
Ich überschlage, dass allein die Aufzählung der heimischen Tierarten schnell mal ein paar Stündchen in Anspruch nehmen könnte, und hoffe, dass dem Verfasser des Gebets zügig die Reime ausgegangen sind.
«… Dem Fuchs auf der Heide. Der Kuh auf der Weide. Dem Hasen im Park. Der Taube im Schlag …»
Jesus Christus! Kann das mal jemand abstellen?
«… Dem Käfer im Reis. Der Krähe im Mais …»
Ich muss niesen. Josef hält inne und wartet dann seelenruhig ab, bis alle sich geräuspert haben und wieder absolute Stille eingekehrt ist. Gerade will er mit seinem enzyklopädischen Gebet fortfahren, da erscheint eine Denkfalte auf seiner Stirn. Er überlegt, an welcher Stelle ich sein Gebet mit meinem unheiligen Niesen unterbrochen habe.
«Krähe im Mais», sage ich rasch. Ich befürchte, wenn er den Anschluss nicht findet, fängt Josef einfach wieder von vorn an. Gott sei Dank hellt sich seine Miene auf. Er erinnert sich also. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass Abel sich ein Grinsen nicht verkneifen kann.
«Dem Käfer im Reis. Der Krähe im Mais», setzt Josef erneut an. «Dem Kuckuck im Stamm. Dem Bock auf dem Kamm. Dem Ochs auf der Au. Dem Huhn und dem Pfau. Dem Löw, der Gazelle. Dem Gnu, der Libelle. Dem Fröschlein im Teich …»
Ich schiele zu den Weißwürsten. Das wird wohl heute nichts mehr.
«… Ob arm oder reich …», höre ich Josef sagen und spitze die Ohren. Was war das? Ein Themenwechsel? Ist etwa die Liste der Tiere abgearbeitet? Ich mache mir zarte Hoffnungen, dass das Gebet doch noch vor Anbruch der Nacht ein Ende haben könnte.
«… Ob Wiese, ob Wald. Ob jung oder alt. Ob Mensch oder Tier. Ob Fliege, ob Stier. Ob groß oder klein …» Josef macht eine Kunstpause, in der man nun blöderweise mein gelangweiltes Seufzen hört, was der Vortragende aber ignoriert. «Gott lädt uns alle ein. Er gibt uns reichlich Speis und Trank. Drum beten wir: Dem Herrn sei Dank.»
«Amen», sagt Maria und bekreuzigt sich in Windeseile, um nun zügig alle Anwesenden mit Weißwürsten und Getränken zu versorgen.
Halleluja. Das Schönste am Gottesdienst ist der Moment, wenn man ihn hinter sich hat. Das weiß ich noch gut aus jener Zeit, als meine Mutter mich sonntags in die Kirche schleppte.
«Guten Appetit!», wünsche ich höflich. Abel nickt stumm. Maria und Josef schauen mich jedoch an, als hätte ich einen dreckigen Witz erzählt. Wie ich nun erklärt bekomme, mögen unsere Gastgeber es nicht, wenn beim Essen gesprochen wird. Zeitraubende und langweilige Gebete sind okay, anregende Gespräche unerwünscht. Glücklicherweise sind ein paar Weißwürste rasch gegessen. Sonst wäre das hier wohl eine sehr zähe Angelegenheit.
Nach dem Mahl bitten Josef und Maria mich in die gute Stube. Allein. Das trifft sich gut, weil ich mit den beiden ohnehin über Abel reden wollte.
«Es freut uns sehr, dass Gott endlich einen Weg gefunden hat, um unserem bedauernswerten Abel zu helfen», fällt Josef mit der Tür ins Haus. Er fischt eine besonders hässliche Pfeife aus einem rustikalen Pfeifenhalter und beginnt, sie umständlich zu stopfen. «Wissen Sie, mein Großvater, der Jeremias, war auch mehr als zwanzig Jahre seines Lebens ans Bett geschnallt. Und nun frage ich Sie: Hat es ihm etwa geschadet?»
«Oh. Ich fürchte, dass es ihm durchaus geschadet hat», antworte ich vorsichtig. «Glücklicherweise haben sich aber die Therapiemethoden in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert …»
«Nein. Es hat ihm nicht geschadet», fällt Josef mir mit erhobener Stimme ins Wort. Und im Stil eines Predigers fährt er fort: «Weil unsere Seele nämlich gerettet wird, wenn wir Gottes Plan gehorchen. Der heilige Paulus hat uns ein Beispiel gegeben. Als die Brüder und Schwestern ihn anflehten, sich nicht in die Hände seiner Verfolger zu begeben, da sagte Paulus: ‹Warum weint ihr und macht mir das Herz schwer? Ich bin bereit, mich in Jerusalem nicht nur fesseln zu lassen, sondern auch für Jesus, unseren Herrn, zu sterben›.»
«Amen», sagt Maria und bekreuzigt sich rasch.
«Wurde Paulus denn auch ans Bett gefesselt?», rutscht es mir raus.
Josef, der gerade seine Pfeife anzünden will, hält inne und blickt konsterniert zu Maria. Die zuckt hilflos mit den Schultern.
Ihr Mann wirft mir einen abfälligen Blick zu, dann setzt er den Pfeifentabak in Brand. Sekunden später ziehen ekelhaft süßliche Rauchschwaden durch die Luft.
«Was hat Abel Ihnen eigentlich über seine Probleme erzählt?», frage ich.
«Nicht viel», erwidert Josef. «Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Als die Maria damals schwanger war, da hat der Abel sich bloß aus der Affäre ziehen wollen. Deshalb hat er diesen Blödsinn erfunden, dass er Gott ist. Man kennt das doch von Leuten, die nicht zum Militär wollen. Die sagen dann auch, dass sie schwul sind. Oder bekloppt.»
«Ähm, meines Wissens ist Homosexualität kein Hinderungsgrund mehr für eine militärische …» Ich unterbreche mich und winke ab. Es hat sicher keinen Sinn, mit Josef über homosexuelle Amtsträger zu reden.
«Wissen Sie noch, wann Abel zum ersten Mal behauptet hat, Gott zu sein?», frage ich.
«Der Christian ist im Sommer einundzwanzig geworden», antwortet Maria. «Also logischerweise vor zweiundzwanzig Jahren.» Sie bekreuzigt sich erneut, als könne himmlischer Beistand nicht schaden, wenn es um ihre Affäre mit Abel Baumann geht.
«Und haben Sie beide damals versucht, Abel zu helfen?»
Josef nickt energisch. «Zum Pastor Oettinger höchstpersönlich hab ich den Abel geschleppt. Aber der Oettinger konnte auch nichts für ihn tun. Unser Pastor hat dann die Diözese informiert. Der Bischof hat zurückgeschrieben, dass die Kirche nicht zuständig ist. Wenn der Abel vom Teufel besessen gewesen wäre, dann hätte man ihn exorzieren können. Aber gegen Leute, die von Gott besessen sind, da kann selbst der Vatikan nichts ausrichten.»
«Und dann haben wir ihn zu diesem Professor Spindler gebracht», ergänzt Maria. «Das ist auch so ein Irrenarzt, wie Sie einer sind. Und der meinte dann, dass der Abel zwar schon ziemlich deppert ist, aber auch wieder nicht so deppert, dass man ihn wegsperren müsst. Schließlich würde es in Bayern eine Menge Leute geben, die glauben, dass sie Gott sind, und sich auch so aufführen. Abel wäre da noch einer der harmlosen Fälle, hat der Professor gemeint.»
Erstaunlich, wie einfach die Welt in Bayern sein kann.
«Wirklich. Wir haben alles versucht», erklärt Maria abschließend.
«Das haben wir», bestätigt Josef und schmaucht seine Pfeife. «Jetzt kann nur noch der Allmächtige helfen. Lasst uns also für den armen Abel einen heiligen Rosenkranz beten.»
«Sehr, sehr gern, aber ohne mich. Ich muss leider los», sage ich rasch. «Abel und ich wollen ja noch weiter, und außerdem sollte ich darauf achten, dass er keinen Unfug anstellt. Aber es schadet ganz bestimmt nicht, wenn Sie beide für uns beten. Und vielen Dank für das Essen.»
Als Josef mir ein aufmunterndes «Dann Gott mit Ihnen» zuruft, bin ich bereits durch die Tür. Nichts gegen einen konstruktiven Dialog mit den Himmelsmächten, aber ich glaube, man sollte ihnen auch nicht ständig am Rockzipfel hängen.
«Und? Was hältst du von den beiden?», will Abel wissen, als wir wenig später mit der Regionalbahn durch die eingeschneite Landschaft zuckeln. «Sind schon ein bisschen anstrengend, oder?»
Da es eine rhetorische Frage ist, spare ich mir die Antwort.
«Lebt euer Sohn deshalb nicht in München?», frage ich. «Weil seine Mutter und sein Stiefvater ihm auf die Nerven gehen?»
Abel lacht. «Schön wär’s. Christian ist der Schlimmste von allen. Die beiden waren ihm nicht fromm genug. Deshalb ist er Mönch geworden. Nicht mal ich hab das verhindern können.» Abel blickt auf seine Uhr. «Außerdem ist Christian genau genommen nicht mein Sohn, sondern der Sohn von Abel Baumann. Hab ich dir doch erzählt.»
«Nein, hast du nicht», erwidere ich. «Jedenfalls nicht richtig.»
Abel merkt auf. «Ach, ja? Wirklich?»
Ich nicke. «Wirklich.»
Er schaut wieder auf die Uhr. «Okay. Als ich in Abel Baumanns Körper geschlüpft bin, da wollte ich dort eigentlich nur ein paar Minuten bleiben. Aber dann hat Abels Seele offenbar beschlossen, nicht wiederzukommen. Also habe ich gewartet. Erst mal ein paar Stunden. An diesem Abend hatte Baumann ein Stelldichein mit Maria. Sie kam vorbei und hat ihn … also quasi mich … also mich in seinem Körper … verführt.»
«Du hast mit ihr geschlafen», fasse ich zusammen.
«Genau», bestätigt Abel. «Als Baumanns Seele am nächsten Morgen immer noch nicht wieder da war, hab ich noch mal einen Tag gewartet und dann entschieden, seinen Körper zu verlassen. Es war noch eine Menge anderer Dinge zu tun. Außerdem dachte ich: Tut mir leid, aber selbst schuld.»
«Selbst schuld …?»
Abel nickt. «Ich hab dir doch schon erzählt, dass ein Körper ohne Seele nicht leben kann.»
Ich brauche ein paar Sekunden, um die Dimension dieser Aussage zu begreifen. «Wie? Du hättest einfach so den Tod von Abel Baumann in Kauf genommen?»
Abel sieht mich durchdringend an. «Jakob. Nur mal fürs Protokoll: Ich bin Gott. Ich darf das.» Abel schaut wieder auf die Uhr. «Außerdem war Baumann selbst schuld. Ich wollte ihm einen Gefallen tun. Er hat’s verbockt.»
Abel steht auf, geht zur Tür und blickt hinaus. «Wie dem auch sei … du siehst, ich habe Abels Körper dann doch nicht verlassen. Ich wollte erst mal sicher sein, dass es Maria und dem Kind gutgeht …»
«Du hast sie … also Baumann hat sie … in dieser Nacht … geschwängert?»
«So sieht’s aus», sagt Abel und sieht hinaus.
«Bis Simming sind es noch fast zwanzig Minuten», bemerke ich.
«Ich weiß. Wir müssen für das letzte Stück den Bus nehmen.»
Er schaut wieder auf seine Uhr und legt nun seine freie Hand an die Notbremse.
«Abel?», frage ich alarmiert.
Er reagiert nicht, sondern blickt konzentriert auf seine Uhr.
«Abel!», rufe ich und springe auf, aber da ist es bereits zu spät.
Mit einem Ruck hat er die Notbremse gezogen. Die Bremsen kreischen, und ich werde unsanft auf den Sitz geworfen. Während die Fliehkräfte des bremsenden Zuges mich in die Polster drücken, habe ich so eine Art Vision. Ich sehe nämlich, dass die physikalischen Gesetze für Abel gerade nicht zu gelten scheinen. Obwohl er wie ich umhergeschleudert werden müsste, kommt er seelenruhig durch den immer noch lautstark bremsenden Zug spaziert und setzt sich hin, als wäre nichts gewesen.
Mit einem Ruck und einem letzten Kreischen kommt der Zug zum Stehen. Dabei werde ich vom Sitz auf den Boden befördert. Erstaunt rappele ich mich wieder hoch.
«Ich weiß, was du jetzt denkst», sagt Abel grinsend. «Die Fähigkeit, kurzzeitig physikalische Gesetze zu umgehen, könnte damit zusammenhängen, dass ich Gott bin. Könnte aber auch ein Trick sein, den ich im Zirkus gelernt habe. Vielleicht von diesen Typen, die Körperpyramiden bauen.»
«Warum hast du den Zug angehalten?», frage ich atemlos.
«Weil er in zwei Minuten entgleist wäre», erklärt Abel ruhig. «Vor uns, direkt unter den Gleisen, liegt eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Kälteeinbruch hat ihr den Rest gegeben. Deswegen geht sie gleich hoch.»
«Aha», sage ich leise.
Mit einem Zischen öffnet sich die Tür, und ein kalter Wind fegt durchs Abteil. Der gerötete Kopf eines rundlichen Kerls in Bahnuniform erscheint.
«Wer hat hier die Notbremse gezogen?»
Abel zeigt auf mich: «Der da war’s.»
Entgeistert starre ich ihn an.
«Nur’n Scherz», flüstert Abel. «Keine Sorge. Wir hauen sowieso gleich ab.»
«Und dürfte ich vielleicht auch erfahren, warum Sie die Notbremse gezogen haben?», fragt der überfordert wirkende Schaffner streng.
Ich schweige ratlos. Man hört nur das leise Säuseln des Windes.
Abel wirft derweil wieder einen Blick auf seine Uhr. Er hält kurz inne, dann schaut er mich an und seine Lippen formen ein tonloses Bumm!
Fast im gleichen Moment zerreißt eine Explosion die winterliche Stille.
Geschockt schaut der Beamte in die betreffende Richtung und verschwindet mit einen «ach du großer Scheißdreck, ach du großer!» aus unserem Blickfeld.
«Auf geht’s», sagt Abel. «Der Bus wartet nicht.»
Als wir wenig später durch kniehohen Schnee marschieren, ist Abels Laune blendend. Genüsslich atmet er die kalte Winterluft ein und betrachtet immer wieder die uns umgebenden Berge und Wälder. «Ist das nicht wunderschön, Jakob? Ich muss feststellen, dass meine Schöpfung zumindest teilweise absolut gelungen ist. Was meinst du?»
Ich stapfe schweigend und düster vor mich hinstierend durch den Schnee. Es ist mir egal, dass Abel meine Zulassung aufs Spiel setzt. Ich bin ja sowieso drauf und dran, meinen Job an den Nagel zu hängen. Aber ich möchte nicht obendrein noch Ärger mit der Polizei bekommen. Außerdem ärgert es mich, dass ich mir nicht erklären kann, wie Abel die Sache eben angestellt hat. War die Bombe wirklich eine alte Fliegerbombe? Gab es einen genauen Zeitplan für die Sprengung, von dem Abel wusste? Aber warum haben die Behörden dann einen vollbesetzten Personenzug in die Nähe des Sprengkörpers fahren lassen? Oder hat Abel die Sprengladung selbst gelegt und ferngezündet? In diesem Fall muss er doch damit rechnen, dass sein vermeintlicher Sabotageakt publik wird. Und ich würde dann aus der Presse erfahren, dass die Fliegerbombe nur eine Erfindung ist. Mein Patient muss diese Showeinlage irgendwie anders hinbekommen haben. Aber wie?
«Jakob? Alles okay?» Abel klingt besorgt.
«Nichts ist okay. Ich habe dir gesagt, dass ich die Behörden einschalten muss, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen.»
Abel bleibt abrupt stehen. Er wirkt geschockt. «Was meinst du, Jakob?»
Ich bleibe nun ebenfalls stehen. «Abel, ich bin dafür verantwortlich, dass du keinen Mist baust. Findest du nicht, dass du es mit mir absprechen müsstest, wenn du Notbremsen ziehst und Bomben hochgehen lässt?»
Abel zuckt mit den Schultern. «Was hätte ich denn sagen sollen? Du, Jakob? Da liegt übrigens ’ne Fliegerbombe unter den Gleisen. Ich zieh gleich mal kurz die Notbremse. Nur damit du Bescheid weißt.»
«Ja. Zum Beispiel.»
Abel verschränkt die Arme vor der Brust. «Und was hättest du erwidert? ‹Okay, Abel. Dann halte ich mich jetzt mal gut fest, damit ich nicht durch die Gegend geschleudert werde›?»
Wir sehen uns streitlustig an.
«Nein, ich hätte wahrscheinlich versucht, dich aufzuhalten.»
«Siehst du», sagt Abel und stapft weiter. «Und weil ich vermeiden wollte, dass uns beiden die Lampe ausgepustet wird, musste ich dich eben zu deinem Glück zwingen.»
«Vielleicht ist das ja einer deiner Denkfehler», rufe ich ihm hinterher. «Wäre doch möglich, dass sich die Menschen nicht zu irgendetwas zwingen lassen möchten. Weder zu ihrem Unglück noch zu ihrem Glück.»
Er hält erneut inne, dreht sich verwundert zu mir um und fragt: «Soll das etwa heißen, du wärst eben lieber gestorben?»
«Nein!», rufe ich. «Aber was geht’s dich an? Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Kram! Dir kann es doch egal sein, ob du stirbst oder nicht.»
Er stutzt. «Wie meinst du das? Mir kann es egal sein?»
«Na, es ist für dich egal, ob Abel Baumann lebt oder nicht. Ich meine, du bist nicht an diesen Körper gebunden, und wenn sogar meine Seele in die ewigen Jagdgründe aufsteigen kann, dann muss deine Seele sich doch erst recht keine Sorgen machen. Immerhin bist du Gott. Du hast sozusagen ein Ticket erster Klasse, wenn es um Seelenreisen geht.»
Ich mustere ihn aufmerksam. Meine Provokation soll ihn aus der Reserve locken.
Er sieht mich an, dann sacken seine Schultern herab. «Weißt du, Jakob, die Wahrheit ist …» Er stockt. Das folgende Geständnis fällt ihm schwer. «Die Wahrheit ist, dass ich eine Heidenangst vor dem Tod habe.»
Ich schaue ihn verdutzt an. Dann muss ich lachen. «Der war gut», sage ich. «Gott hat Angst vor dem Tod.»
Abel verzieht keine Miene und wartet geduldig, bis ich mich wieder beruhigt habe. Langsam dämmert mir, dass er keinen Witz gemacht hat.
«Was ich dir über die Seelen gesagt habe, das stimmt: Alle Seelen sind unsterblich. Aber manche von ihnen befinden sich in einem Zustand, den die meisten Menschen nicht als Leben bezeichnen würden. Diese Seelen liegen in einem traumlosen Schlaf, man könnte fast sagen, in so einer Art Koma. Manchmal erwacht eine Seele aus diesem Zustand. Es gibt aber auch einige, die schlafen schon so lange, dass ungewiss ist, ob sie überhaupt jemals wieder erwachen. Warum das so ist? – Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Aber dieser Zustand kommt dem des Todes schon sehr nahe.»
«Ist das so eine Art Nirwana?», frage ich.
«Ja. So könnte man es auch sagen», erwidert Abel.
«Interessant. Dann haben die Buddhisten also auch recht», stelle ich fest.
Abel nickt. «Keine der Weltreligionen liegt mit ihren Ansichten völlig daneben. Aber alle ein entscheidendes bisschen.» Der Wind frischt auf. Abel zieht seine Wollmütze tiefer über die Ohren. «Jedenfalls wäre die logische Folge meiner aktuellen Misere, dass ich am Ende im Nirwana lande: Die Menschen verlieren mehr und mehr den Glauben an mich, also werde ich schwächer und schwächer, bis ich schließlich vielleicht sogar ganz verschwinde. Manchmal komme ich mir vor wie ein Gedanke, den sich die Menschheit aus dem Kopf schlagen möchte. Und mein Gefühl sagt mir obendrein, dass meine Zeit langsam knapp wird.»
«Und das hat angefangen, als Gott sich den Körper von Abel Baumann geliehen hat», rekapituliere ich und denke: Womit wir nun Abels Trauma wahrscheinlich einen entscheidenden Schritt näherkommen.
Er nickt. «Ich wusste damals sofort, dass Maria nach dieser gemeinsamen Nacht schwanger war. Und ich glaube, sie hat es auch gewusst. Am nächsten Tag kam sie zu mir, um unsere Affäre zu beenden. Vielleicht hoffte sie, dass ich mich aus dem Staub machen und Josef problemlos die Vaterschaft anerkennen würde.»
«Aber Gott hat sich nicht aus dem Staub gemacht.»
Abel sieht mich an und seufzt. «Viel schlimmer. Ich wollte es nach ein paar Tagen, konnte es aber nicht. Dabei wäre ich wirklich gern abgehauen. Es hat keine Woche gedauert, da war mir klar, dass das Kind bei Maria und Josef gut aufgehoben sein würde. Baumanns Seele war immer noch nicht zurückgekehrt. Also …» Er deutet mit der Hand ein startendes Flugzeug an.
«Also wolltest du dich vom Acker machen», vollende ich den Satz.
Abel nickt. «Aber es ging nicht. Ich hing plötzlich in diesem Körper fest. Und je mehr Anstrengungen ich unternahm, aus Baumanns Körper herauszukommen, desto tiefer schien ich hineinzurutschen. Zunächst dachte ich an einen vorübergehenden Zustand. Vielleicht ein göttlicher Schwächeanfall? Oder eine Wackelei in der Ordnung des Universums? Aber aus Tagen wurden Wochen, und aus Wochen wurden Monate, ohne dass auch nur die geringste Änderung eintrat.»
«Ist das denn kompliziert, diese Seelenwanderung?», will ich wissen.
«Überhaupt nicht», erwidert Abel. «Nicht schwieriger, als eine Tür zu öffnen oder zu schließen. Aber im Fall von Abel Baumann scheine ich den Schlüssel verlegt zu haben. Die Tür lässt sich nicht wieder öffnen.»
«Und du wartest seit mehr als zwanzig Jahren darauf, dass dieser Zustand sich ändert?», frage ich.
«Was sind denn schon zwanzig Jahre? Es hat über hundert Millionen Jahre gedauert, bis sich endlich mal ein Fisch aus dem Wasser getraut hat. Außerdem hatte ich ja eine Menge zu tun …»
«Züge anhalten und Flugzeuge kapern?», frage ich.
«Beispielsweise», bestätigt Abel. «Kurz vor der Geburt habe ich Maria und Josef eingeweiht. Ich dachte, wenn jemand Verständnis für meine Probleme hat, dann sind es die beiden. Fehlanzeige.»
«Sie haben mir heute erzählt, dass …», beginne ich.
«Ich weiß, was sie dir heute erzählt haben», unterbricht Abel.
«Oh. Gedankenübertragung?», vermute ich.
Er schüttelt den Kopf. «Nein. Diesmal hab ich schlicht an der Tür gelauscht.»
Leichter Schneefall setzt ein.
«Und jetzt merke ich, dass die Kräfte dieses Körpers, in dem ich seit über zwanzig Jahren gefangen bin, ebenso nachlassen wie meine eigenen. Und ich frage mich mit Sorge, was wohl passieren wird, wenn dieser Körper eines Tages den Geist aufgibt.»
Ich schaue in den Himmel. Schneeflocken stürzen lautlos herab. Sieht aus, als würde man durch einen Meteoritenschwarm fliegen.
«Was denkst du?», fragt Abel nach einer Weile.
«War es nicht so, dass du meine Gedanken lesen kannst?», antworte ich.
«Das heißt ja nicht, dass ich sie auch immer verstehe», entgegnet Abel.
«Ich dachte gerade, dass du sehr menschliche Probleme hast.»
«Und das passt natürlich nicht zu Gott», konstatiert Abel.
«An deiner Stelle wäre ich froh, ein Psychotiker zu sein. Wenn du wirklich Gott wärst, könnte dir wahrscheinlich niemand helfen.»
Abel seufzt. «Das ist es ja», sagt er.