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Gott ist erfinderisch

Ich erwache in einem winzigen Krankenzimmer. Mühsam richte ich mich auf. Kommt mir vor, als hätte ich überall Muskelkater, selbst in Regionen meines Körpers, wo ich niemals Muskeln vermutet hätte. Was ist mit mir passiert? Ich schaue zum Fenster und stelle fest, dass es dunkel wird. Hatte der Tag nicht eben erst angefangen? Seltsam.

Ich teile das Zimmer mit zwei alten Männern. Der eine schnarcht leise, der andere liegt mit weit geöffnetem Mund da und gibt keinen Mucks von sich. Würde die Bettdecke sich nicht im Rhythmus der Atemzüge heben und senken, könnte man den Kerl glatt für tot halten.

Mein Blick fällt auf einen winzigen Fernseher, der an der gegenüberliegenden Wand unterhalb der Decke klebt. Sieht aus, als hätte jemand versucht, ihn so aufzuhängen, dass man möglichst wenig vom Fernsehprogramm erkennen kann. Gerade läuft stumm ein Fußballspiel. Könnte auch Eishockey sein.

Ein leises Knarren. Die Tür öffnet sich und das ebenso dezent wie sorgfältig geschminkte Gesicht meiner Mutter erscheint.

«Er ist wieder unter den Lebenden», sagt sie zu jemandem, den ich nicht sehen kann. «Du musst später rauchen gehen, Schatz.»

«Schon okay», antwortet die Stimme hinter der Tür. Es ist mein Bruder Jonas.

Ein paar Sekunden später stehen die beiden am Kopfende meines Bettes.

«Was ist passiert?», will ich wissen. «Und warum seid ihr beide hier?»

Mutter runzelt vorwurfsvoll die Stirn, dann wendet sie sich zu Jonas. «Hab ich es nicht gleich gesagt? Er wird es uns nicht danken. Wie üblich.»

«Was danken?», frage ich und ärgere mich darüber, dass Mutter in der dritten Person über mich spricht, während ich anwesend bin. Obwohl sie weiß, dass es mich auf die Palme bringt, macht sie das regelmäßig.

Ihr strafender Blick trifft mich. «Wir haben stundenlang in dieser schrecklichen Cafeteria gehockt und darauf gewartet, dass du endlich aus dem Koma aufwachst. Wir waren schon ganz krank vor Sorge.»

«Koma? Was denn fürn Koma?»

Jonas macht eine beschwichtigende Handbewegung und bedeutet mir mit einem Seitenblick, dass unsere Mutter ein wenig übertreibt. Auch das macht sie regelmäßig.

«Es gab Komplikationen bei deiner OP», erklärt Jonas. «Dein Leben stand auf Messers Schneide. Um ein Haar hätten sie dich verloren.»

Die Information dringt nur langsam in mein Bewusstsein. Zugleich spüre ich ein seltsames Unbehagen. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an die letzten Stunden. Vermutlich hätte ich meinen eigenen Tod verschlafen. Vorsichtig betaste ich meine Nase. Ich erinnere mich nun wieder an Abel Baumann, die Kellnerin und meinen doppelten Knockout.

«Keine Sorge. Sie haben alles wieder gut hinbekommen», erklärt Jonas.

«Aber du musst uns jetzt hoch und heilig versprechen, dass du mit dem Trinken aufhörst», sagt Mutter theatralisch.

Ich blicke fragend zu Jonas, der zuckt ahnungslos mit den Schultern.

«Einer Mutter kann man nun mal nichts vormachen», fährt sie fort. «Ich weiß doch, dass die meisten Komplikationen bei einer Vollnarkose auftreten, weil es sich bei den Patienten um schwere Alkoholiker handelt. In solchen Momenten kommt die Wahrheit dann eben doch ans Licht.»

Ich seufze. «Mutter, ich bin kein Alkoholiker.»

«Da habe ich aber von Ellen was ganz anderes gehört. Dem Inhalt deines Kühlschrankes nach zu schließen, ernährst du dich von Billigwein.»

Hätte ich mir ja denken können, dass sich die beiden längst ausgetauscht haben. Meine Exfrau und meine Mutter verstehen sich nämlich blendend. Kein Wunder, denn charakterlich gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass ich mit Ellen quasi meine Mutter geheiratet habe, psychologisch gesehen. Das ist zwar schrecklich, aber nachvollziehbar. Ein Therapeut ist ebenso wenig gegen Neurosen gefeit wie ein Zahnarzt gegen Karies. Wobei dieser Vergleich hinkt, weil Zahnschmerzen meist nach ein paar Tagen vorbei sind, während eine neurotische Ehe gerne mal sieben Jahre dauern kann.

«Ellen wollte übrigens auch kommen. Sie hat versucht, ihre Termine zu verschieben. Hat aber nicht geklappt. Sie lässt dich grüßen. Wenn du willst, dann holt sie dich morgen ab.» Mutter zieht ihr Smartphone hervor und entriegelt es mit einem Wisch. «Soll ich ihr simsen?»

«Nein», sage ich. «Und wieso kann ich nicht sofort raus? Mir geht’s gut.»

«Sie wollen dich noch eine Nacht hierbehalten», antwortet Jonas. «Ist nur zur Beobachtung.»

«Also ich würde auch keine Nacht länger als nötig in diesem alten, zugigen Kasten bleiben», erklärt Mutter und zupft an ihrer Kurzhaarfrisur. «Wobei ich gesehen habe, dass in den picobello renovierten Einzelzimmern für die Privatpatienten sogar Plasmafernseher hängen.»

«Wie schade, dass ich kein Privatpatient bin», erwidere ich. «Einen Plasmafernseher hätte ich auch gern gehabt, als ich im Koma lag.»

Mutter verzieht ihre schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln. «Vielleicht kann dir ja dein Bruder eine Nacht in der gehobenen Zimmerkategorie spendieren.»

«Mutter! Bitte!», wirft Jonas mit gespielter Empörung ein. In Wahrheit könnte er stundenlang zuhören, wenn sie ihn über den grünen Klee lobt.

«Wusstest du eigentlich, dass die Bank ihm einen äußerst lukrativen Job in Übersee angeboten hat?»

Ich nicke Jonas anerkennend zu. «Nein. Aber gratuliere. Und wo da genau in Übersee?»

«Was spielt denn das für eine Rolle?», blafft Mutter.

«Ich finde, es ist schon ein Unterschied, ob er künftig an der Wall Street sitzt oder irgendwo in den Anden.»

«Weder noch», erwidert Jonas herablassend. «Sie wollen, dass ich dabei helfe, eine Investmentbank in Florida aufzubauen.»

Wäre Arroganz ansteckend, müsste mein Bruder jetzt auf die Quarantänestation. Und zwar zusammen mit unserer Mutter.

«Florida», wiederhole ich und pfeife anerkennend. «Das ist doch ein Paradies für Rentner, habe ich gehört. Magst du Mutter nicht mitnehmen? Ihr könntet abends am Strand sitzen, Hummer essen und über mich lästern.»

«Schon klar, dass du mich loswerden willst», erwidert Mutter. «Aber ich bleibe natürlich in Berlin. Erstens würde ich unseren Familiensitz nie im Leben verkaufen, und zweitens kümmert sich eine Mutter immer besonders um jenes Kind, das ihr die größten Sorgen bereitet. Bei Jonas weiß ich, dass er seinen Weg gehen wird. Er ist noch nicht mal vierzig, hat einen guten Job und verdient eine Menge Geld. Es würde mich außerdem nicht wundern, wenn er uns bald eine hübsche Amerikanerin vorstellt …»

«Mutter, ich habe schon verstanden, dass ich dein Problemkind bin», unterbreche ich. «Aber besten Dank für die vielen verletzenden Details.»

«Gern geschehen», entgegnet Mutter mit einem eiskalten Lächeln.

«Deine Befürchtungen sind übrigens unbegründet», fahre ich fort. «Ich komme gut allein zurecht und habe nicht die Absicht, dich um Hilfe zu bitten.»

Mutter zieht verächtlich Luft durch die Nase. «Du kommst allein zurecht? Da höre ich aber ganz andere Geschichten. Ellen hat mir erzählt, du kannst die Miete nicht bezahlen, weder für das Apartment noch für die Praxis. Außerdem scheinen dir die Patienten nicht gerade die Bude einzurennen.» Sie seufzt bedeutungsvoll. «Ein Glück, dass dein Vater das nicht miterleben muss. Er würde sich ganz bestimmt …»

Ein energisches, kurzes Klopfen lässt sie verstummen. Dann öffnet eine korpulente Krankenschwester schwungvoll die Tür und verkündet: «Ich bitte jetzt alle Besucher mal kurz auf den Flur. Es dauert nur ein paar Minuten. Vielen Dank!»

Die Visite erspart mir Mutters Vortrag über all jene Enttäuschungen, die ich meinem Vater glücklicherweise nicht mehr zumuten muss, weil er vor fünf Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Man könnte sagen: in weiser Voraussicht. Knapp vor seinem Siebzigsten ereilte ihn ein Herzinfarkt. Kein ungewöhnliches Schicksal für einen ebenso arbeitsbesessenen wie unsportlichen Alkoholiker. Wobei Vaters tägliche halbe Flasche Scotch oder Brandy nie als Alkoholismus bezeichnet werden durfte. Da er ausnahmslos nach 17 Uhr trank und nie Anzeichen eines Rausches zeigte, galten seine acht bis zehn doppelstöckigen harten Drinks am Tag offiziell immer als kultivierte Variante des Feierabendbierchens.

Routiniert verteilt die Krankenschwester Medikamente. Meine Bettnachbarn bekommen randvolle Tablettenboxen, nach Tageszeiten sortiert. Auf mein Tischchen stellt sie einen kleinen Plastikbecher mit zwei Pillen darin. «Nur ein mittelschweres Schmerzmittel. Reine Vorsichtsmaßnahme, falls Ihnen heute Nacht die Nase weh tun sollte.»

«Danke», sage ich.

Sie nickt und zieht mit den Worten «Der Arzt ist auch gleich da» die Tür ins Schloss. Ich kann für den Bruchteil einer Sekunde Mutter sehen, die gerade auf Jonas einredet. Bestimmt schildert sie ihm meine desolaten Lebensumstände und spart nicht mit düsteren Farben und apokalyptischen Wendungen. Seit Vaters Tod muss ich mir regelmäßig von ihr anhören, dass ich als Psychotherapeut und Stütze der Gesellschaft eine herbe Enttäuschung bin. Mutter glaubt, dass ich in Vaters viel zu große Fußstapfen treten wollte. Psychologisch gesehen ist das ein Totschlagargument, weil alle Kinder zunächst einmal in die Fußstapfen ihrer Eltern treten wollen. Die Frage ist nur, ob man dem vorgezeichneten Weg dann später wirklich folgt oder davon abweicht.

Ich gebe zu, in meinem Fall scheinen die Dinge klar auf der Hand zu liegen. Mein Vater ist der berühmte Psychologe Bartholomäus Jakobi. Sein Buch über die verkaufspsychologische Wirkung der Spektralfarben gilt als Standardwerk und hat ihm zunächst wissenschaftliche Anerkennung eingebracht, dann diverse Gastprofessuren und damit schließlich eine große Villa in Berlin-Zehlendorf. Obwohl Mutter nicht müde wird, das Haus als unseren Familiensitz zu bezeichnen, lebt sie dort seit Jahren allein und weigert sich, zumindest einen Teil des viel zu großen Anwesens unterzuvermieten.

Erneut wird die Tür geöffnet, und jener schlaksige Typ mit ungesunder Hautfarbe, der sich mir letzte Nacht als Dr. Kessels vorgestellt hat, erscheint.

«Hallo! Wie geht es Ihnen?»

Ich zucke mit den Schultern. «Danke. Eigentlich ganz gut.»

«Das freut mich», sagt er und hustet heiser. «Tut mir leid, dass Sie noch bis morgen hierbleiben müssen, aber ich möchte kein Risiko eingehen. Sonst sterben Sie womöglich ausgerechnet heute Nacht, und dann heißt es wieder, ich hätte die OP verbockt.»

«Und? Haben Sie sie verbockt?», frage ich launig.

«Natürlich habe ich sie verbockt», erwidert er und schielt auf meinen Becher mit Schmerztabletten. «Anfängerfehler. Ich habe der Narkoseschwester eine falsche Anweisung gegeben. Ist aber nur passiert, weil ich seit fast fünfzig Stunden auf den Beinen bin.»

«Hört sich an, als müssten Sie den Laden allein schmeißen», werfe ich ein.

«Sagen wir so: Das aktuelle Gesundheitssystem ist nicht gerade arbeitnehmerfreundlich.» Er lässt meine Pillen nicht aus den Augen.

«Eine würde ich Ihnen abtreten», sage ich. «Die andere brauche ich vielleicht noch selbst.»

«Hey! Das ist aber nett von Ihnen! Danke!» Er fischt eine der Pillen aus dem Plastikbecher und schiebt sie sich in den Mund. «Sie müssen sich jedenfalls keine Sorgen machen. Ich bin sicher, morgen früh ist alles überstanden. Und Ihre Nase dürfte auch wieder wie neu werden.»

«Was genau ist denn eigentlich mit mir passiert?», frage ich.

Er öffnet die Pillenschachtel meines Bettnachbarn und pickt sich ein paar Tabletten heraus, als wären es Erdnüsse. «Nichts Besonderes. Ihr Herz ist stehengeblieben.»

«Oh», erwidere ich verblüfft.

«Nur ein paar Minuten.»

«Ehrlich gesagt klingt das für mich ziemlich lange.»

«I wo!», erwidert er und wirft sich seine gesammelten Pillen in den Mund. «Es klingt dramatischer, als es ist. Stimmt schon, in gewisser Weise waren Sie eine kurze Weile tot. Und vor zweihundert Jahren wären Sie es wohl auch geblieben.» Er lacht kurz auf und hustet ein paarmal. «Aber für uns heute ist das Routine. Kein Grund zur Panik.»

«Dann ist es ja ein hübscher Zufall, dass ich noch am Leben bin.»

«Das ist die richtige Einstellung!», entgegnet er und wendet sich zur Tür. «Ich muss zurück in den OP. Komplizierte Herzgeschichte. Wir sollten ihm beide die Daumen drücken. Kann ich noch was für Sie tun?»

Ich will schon den Kopf schütteln, da fällt mir doch noch etwas ein. «Draußen stehen ein Kerl um die vierzig und eine ältere Dame mit kurzen, dunklen Haaren. Könnten Sie denen bitte sagen, dass ich Ruhe brauche und jetzt nicht mehr gestört werden darf?»

Er lächelt. «Familie, was? Kein Problem. Ich wimmel die beiden ab.»

Im nächsten Moment ist er verschwunden. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich benutze eine schäbige Ausrede, um Mutter und Jonas wegzuschicken, obwohl die beiden nur meinetwegen den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht haben. Mein Gewissen zwickt mich zum Glück nicht lange. Zum einen werde ich mir noch viele Jahre anhören müssen, wie meine engste Familie heute aufopferungsvoll um mein Leben gefiebert hat. Zum anderen bin ich tatsächlich hundemüde. Meine Notlüge war also lediglich eine kleine Übertreibung. Langsam fallen mir die Augen zu.

Als ich wieder erwache, herrscht tiefste Nacht. Draußen ist es zappenduster. Der Raum wird nur vom matten Schein des Fernsehbildschirms erleuchtet. Meine Bettnachbarn sehen sich einen alten Film an. Die beiden sind nun hellwach. Man hört Tütenknistern und Essgeräusche.

Ich konzentriere mich auf den Bildschirm und erkenne James Stewart. Gerade spricht er mit einem freundlichen Kerl in altmodischer Unterwäsche. Die Szene kommt mir bekannt vor. Das ist einer dieser Streifen, die jedes Jahr zu Weihnachten wiederholt werden. Ich überlege, wie der Film heißt, und erinnere mich, dass James Stewart sich das Leben nehmen will und der freundliche Kerl ein Engel ist, der ihn retten soll. Ich glaube, das Wort Leben kommt sogar im Titel vor. Während ich angestrengt überlege, werde ich erneut von bleierner Müdigkeit gepackt. Wieder fallen mir die Augen zu, und wieder werde ich ins Reich der Träume hinabgezogen.

Als ich erwache, fühle ich mich frisch und ausgeruht. Es ist Morgen. Die Wintersonne taucht den Raum in kaltes Licht. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Zimmernachbarn verschwunden sind, und zwar mitsamt ihren Betten. Ich setze mich auf und schaue mich um.

«Ich dachte, ein Einzelzimmer wäre Ihnen lieber», höre ich Abel Baumann sagen. Er sitzt etwas versteckt an dem kleinen Besuchertisch vor meinem Bett, hat zwei dampfende Tassen Kaffee mitgebracht und hält mir nun eine davon hin. «Möchten Sie? Ist ganz frisch.»

«Danke.» Ich nehme die Tasse entgegen, überlege aber zugleich, ob ich es Baumann ein bisschen krummnehmen sollte, dass er mir bis ans Krankenbett gefolgt ist. Ich mag ihn zwar, und er hat irgendwie eine gute Aura. Trotzdem muss ich darauf achten, die professionelle Distanz zu wahren. Ich nehme einen Schluck Kaffee. Tut gut. «Wo sind denn die beiden Alten hin, die hier lagen?»

«Die hab ich in ein anderes Zimmer verlegen lassen», sagt Baumann.

Erst jetzt fällt mir auf, dass er sein Clownskostüm gegen einen Arztkittel getauscht hat.

«Arbeiten Sie etwa hier?», frage ich irritiert.

Baumann streicht über seine grauen Bartstoppeln. «Nein. Den Kittel hier hab ich nur geliehen.»

Er sieht mein fragendes Gesicht und fügt hinzu: «Ehrlich gesagt, mache ich das häufiger, dass ich mir … ähm … Dinge leihe.»

«Sie leihen sich einen Arztkittel und lassen Patienten verlegen?», frage ich mit kritischem Blick.

Baumann zuckt mit den Schultern. «Wenn mich schon alle hier für den neuen Chefarzt halten, dann kann ich es uns doch auch ein bisschen nett machen, oder? Außerdem schulden die mir was. Immerhin hab ich schon Visite gemacht.»

«Sie haben … Visite gemacht?», frage ich erschrocken. «Das ist definitiv nicht in Ordnung. Ich hoffe, Sie wissen das.»

Baumann winkt ab. «Ich hab den Leuten nur Mut zugesprochen. Dafür kommt man ja wohl nicht gleich in den Knast, oder?»

«Oh. Da wäre ich mir nicht so sicher.»

«Eigentlich bin ich ja auch nicht der Visite wegen gekommen. Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht. Und ich dachte, nebenbei könnten wir einen Termin für unsere erste Sitzung ausmachen. Hat ja gestern nicht geklappt.»

«Stimmt.» Mir fällt ein, dass ich heute entlassen werden soll. Wir könnten uns später treffen. «Sie sind nicht zufällig mit dem Auto da, oder?»

Baumann schüttelt den Kopf. «Ich gehe meistens zu Fuß.»

Ich überlege, ob ich Baumann um Taxigeld bitten soll. Ich schulde ihm ja ohnehin noch das Frühstück. Allerdings spricht es nicht gerade für eine funktionierende professionelle Distanz, wenn sich ein Psychologe ständig Geld von seinem Patienten pumpt. Bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, wird die Tür aufgerissen, und die korpulente Krankenschwester erscheint, diesmal in Begleitung von zwei Polizisten.

«Das ist er», verkündet sie und zeigt auf Abel, dessen freundliches Lächeln nicht über sein urplötzliches Unbehagen hinwegtäuschen kann.

«Können Sie sich als Mitarbeiter dieses Krankenhauses ausweisen?», fragt einer der Polizisten in forschem Ton.

Abel schüttelt den Kopf. «Ich hab den Kittel nur geliehen. Ich wollte ihn gleich wieder zurückgeben …», beginnt er zu erklären, wird aber von dem anderen Polizisten unterbrochen: «Sie müssen mitkommen.»

Rasch und routiniert haken die beiden Beamten den verdutzten Baumann unter und geleiten ihn zur Tür.

«Entschuldigen Sie die Störung», sagt einer der beiden zu mir, der andere nickt zustimmend. Abel sieht mich flehentlich an, schweigt aber. Bevor ich etwas sagen kann, sind die Polizisten mit ihm und der Krankenschwester auf dem Gang verschwunden.

Ich brauche ein paar Schrecksekunden, um zu begreifen, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, Abel Baumann einfach so seinem Schicksal zu überlassen. Er mag noch nicht offiziell mein Patient sein, aber immerhin hat er mich bereits für die erste Sitzung gebucht.

Entschlossen werfe ich die Decke zurück, springe aus dem Bett und will zur Tür hechten, aber mein Kreislauf kommt nach der langen Ruhephase nicht so schnell auf Touren. Ich falle der Länge nach hin. Glücklicherweise wird dabei ausnahmsweise meine Nase nicht in Mitleidenschaft gezogen. Dafür bin ich nun schlagartig hellwach.

Als ich den Gang betrete, sind die Polizisten gerade im Begriff, mit Abel im Fahrstuhl zu verschwinden.

«Moment!», rufe ich. «Warten Sie! Ich komme mit!»

Die Beamten sehen sich erstaunt an, immerhin stellt sich einer der beiden in die Lichtschranke, um die Fahrstuhltür zu blockieren. Ich eile durch den Krankenhausflur und sehe, dass Baumann erleichtert lächelt.

«Stehen Sie denn in irgendeiner Beziehung zueinander?» Der Polizist, der die Fahrstuhltür blockiert, sieht mich argwöhnisch an.

«Herr Baumann ist mein Patient», antworte ich.

Der Beamte mustert meine ungewaschenen Haare und den schmuddeligen Bademantel. Dann dreht er sich zu Baumann, der mit seinem schneeweißen Kittel problemlos als Koryphäe der Humanmedizin durchgehen würde.

«Stimmt das?», fragt der Beamte.

Baumann nickt. «Ja. Das ist mein Psychotherapeut.»

Der Polizist wirft seinem Kollegen einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu. Dann bedeutet er mir mit einem Kopfnicken, dass ich ebenfalls in den Fahrstuhl steigen soll.