Gott schwebt
Ich erkenne das Krankenhaus sofort wieder. Hier war ich, als Ellens eifersüchtiger Boxer mir eins auf die Nase gehauen hat. Und hier ist mir auch in jener Nacht zum ersten Mal Abel Baumann begegnet. Gerade durchzuckt mich der bange Gedanke, dass ich Abel an diesem Ort nun zum letzten Mal lebend sehen könnte.
Auch heute gleicht der Wartebereich einem Bienenstock. Allerdings sind diesmal fast nur Zirkusleute hier. Abels Kollegen scheinen direkt aus der Manege zu kommen, denn fast alle tragen Kostüme unter den rasch übergeworfenen Mänteln und Jacken. Ich erblicke einen Mann mit Frack und Zylinder, der ein Zauberer oder Dompteur sein könnte. Vielleicht handelt es sich auch um den Zirkusdirektor höchstpersönlich. Man sieht durchtrainierte Männer in buntbedruckten Gymnastikanzügen, zierliche Frauen mit schneeweißen Ballettkleidern und einen Clown, der nicht einmal Gelegenheit hatte, sich abzuschminken.
Ich halte nach einen bekannten Gesicht in der Menge Ausschau und erkenne den Irokesenschnitt von Eisen-Heinz. Im selben Moment sieht auch er mich, nebst Abels Familie und Ellen, die uns hergebracht hat. Sofort löst Heinz sich aus der Gruppe und kommt rasch auf uns zu.
«Freut mich wirklich sehr, dass ihr gekommen seid. Er hat schon mehrmals nach euch beiden gefragt», sagt Heinz und deutet auf Maria und Christian. Josef runzelt beleidigt die Stirn, bemüht sich aber, seinen Missmut zu verbergen.
«Er möchte Sie übrigens auch sprechen», fügt Heinz hinzu und zeigt diesmal auf mich. «Allerdings will er unbedingt allein mit Ihnen reden.» Ich nicke zur Bestätigung, während Heinz sich mit Maria und Christian auf den Weg ins Krankenzimmer macht. Josef steht einen Moment lang etwas unschlüssig da, dann seufzt er leise und trottet schicksalsergeben hinterher.
Ich setze mich. Fühlt sich an, als hätte ich bereits die ganze Nacht hier zugebracht, obwohl ich gerade erst angekommen bin.
Ellen mustert mich. «Meinst du, ich kann dich allein lassen?»
«Klar. Danke für deine Hilfe.»
«Keine Ursache. Wenn du noch irgendetwas brauchst, dann melde dich einfach.» Sie haucht mir einen Kuss auf die Wange. «Alles Gute, Jakob.»
Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Eine Weile höre ich noch das Klackern ihrer Absätze auf dem Steinfußboden. Dann verschmilzt es langsam mit den Umgebungsgeräuschen und geht schließlich im großen Summen und Rauschen unter.
«So sieht man sich also wieder», höre ich eine Stimme sagen. «Dann haben Sie es ja offensichtlich geschafft, einen Bogen um den Knast zu machen.»
Ich öffne die Augen. Vor mir steht Dr. Kessels.
«Wie geht es Ihrer Nase?», will er wissen und setzt sich neben mich.
«Ganz okay», antworte ich.
«Lassen Sie doch mal sehen», bittet er, legt mir eine Hand auf die Stirn und löst mit der anderen vorsichtig eine Ecke des Verbands.
Er ist zufrieden mit dem, was er sieht. «Der kann im Prinzip runter, ich würde ihn aber noch ein paar Tage drauflassen. Nur zum Schutz. Ansonsten sieht alles sehr gut aus.» Er klebt den Verband wieder fest. «Alles klar. Wenn Sie nur der Nase wegen gekommen sind, dann habe ich Ihnen gerade ein paar Stunden Wartezeit erspart.»
«Nein. Ich bin wegen Abel Baumann hier», sage ich.
«Oh. Das tut mir leid», erwidert er. «Sind Sie ein Verwandter?»
«Ein Freund, würde ich sagen. Obwohl wir uns noch nicht so lange kennen.» Ich überlege, ob Abel uns auch als Freunde bezeichnen würde, bleibe mir selbst aber die Antwort schuldig. «Außerdem bin ich sein Arzt», füge ich hinzu.
Dr. Kessels stutzt.
«Abel ist bei mir in Therapie», erkläre ich. «Ich bin sein Psychologe.»
Kessels nickt in Zeitlupe. «Das erklärt vielleicht die etwas ungewöhnlichen Begleitumstände», entgegnet er und blickt nachdenklich zu den wartenden Zirkusleuten.
«Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen», sage ich.
«Ich meine nicht die Artisten», erklärt Kessels. «Ich habe schon gehört, dass die Truppe zufällig in der Stadt ist. Wenn all diese Menschen zwischen zwei Vorstellungen hier auftauchen, um ihrem alten Kollegen beizustehen, dann finde ich das schlicht großartig. Ich erlebe hier täglich Familien, die weitaus weniger Interesse an ihren Angehörigen haben.»
«Und was sind dann die ungewöhnlichen Begleitumstände?», frage ich.
«Sie wissen noch überhaupt nichts, oder?»
«Nein. Ich habe nur durch Zufall erfahren, dass Abel im Krankenhaus liegt. Und man hat mir gesagt, dass er einen sehr schweren Unfall hatte.»
«Das ist eine nette Untertreibung, würde ich sagen.» Sein Piepser meldet sich. Er wirft einen kurzen Blick darauf. «Ich muss leider los. Schon wieder ein Notfall.» Er steht auf.
«Können Sie mir nicht wenigstens ganz kurz sagen, was passiert ist?»
«Na ja. Ähm …» Er zögert. «Also, die Kurzversion lautet: Ihr Patient hat ein Schwert in der Brust stecken. Und zwar mitten im Herzen. Das Organ kann jede Sekunde kollabieren. Und im Grunde ist es ein Wunder, dass das nicht längst passiert ist. Leider können wir nichts für ihn tun, denn sobald wir das Schwert entfernen, wird das Herz ganz bestimmt kollabieren.»
Ich starre ihn an, wie ich wohl auch Abel Baumann angestarrt habe, als der mir sagte, dass ich Gott höchstpersönlich vor mir habe.
«Ich weiß schon, was Sie sagen wollen», fährt der Arzt fort. «Aber Ihr Patient weigert sich, an irgendwelche Apparate angeschlossen zu werden. Ein Kunstherz will er deshalb auch nicht. Er hat gesagt, dann stirbt er lieber.»
Ich bin noch immer sprachlos. Nicht allein, weil Abel medizinische Hilfe verweigert, sondern auch weil ich mich frage, wie es dazu kommen konnte, dass ein Schwert in seiner Brust steckt.
Erneut meldet sich Dr. Kessels’ Piepser. Er wirft einen weiteren Blick auf das Gerät und macht sich nun endgültig auf den Weg. «Entschuldigung!», ruft er im Gehen. «Ich muss jetzt wirklich los. Fragen Sie den Kerl mit dem Irokesenschnitt. Der kann Ihnen alles erklären.»
Es dauert eine ganze Weile, bis ich Gelegenheit habe, ungestört mit Eisen-Heinz zu sprechen. Nachdem er Maria, Josef und Christian zu Abel gebracht hat, bestürmen ihn die Wartenden mit Fragen. Heinz nimmt sich Zeit, um alle geduldig zu beantworten. Dann setzt er sich neben mich.
«Haben Sie schon mit dem Arzt gesprochen?»
«Nur kurz», erwidere ich. «Er hatte einen weiteren Notfall. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass in Abels Brust ein Schwert steckt. Und dass er nach Lage der Dinge daran sterben wird.»
Heinz nickt nachdenklich. «Wissen Sie denn auch schon, dass es sich um das Schwert des Erzengels Michael handelt?»
Mein ungläubiges Schweigen ist ihm Antwort genug. «Verstehe. Sie wissen es also noch nicht. Sehen Sie diese Typen dahinten?» Heinz deutet auf ein paar kantige Kerle in dunklen Anzügen, die etwas versteckt hinter der Artistentruppe an einem Kaffeeautomaten herumstehen. «Das sind Sicherheitsleute. Die sind hier, um das Schwert zu bewachen. Es soll angeblich aus purem Gold sein. Sie werden es wohl mitnehmen, wenn …» Er unterbricht sich, blickt nachdenklich zu Boden und verharrt in dieser Haltung.
Ich schweige und warte geduldig darauf, dass Heinz mit seiner Erzählung fortfährt, doch der sitzt weiterhin stumm da und scheint sich gerade in seinen Gedanken zu verlieren.
«Heinz?»
Er sieht mich an, als hätte ich ihn aus einer tiefen Trance geholt.
«Entschuldigung, wo waren wir stehengeblieben?»
«Sie wollten mir erklären, wie das goldene Erzengelschwert in Abels Brust gelandet ist, vermute ich.»
Er nickt und sammelt sich. «Es gibt da doch diese Wanderausstellung, vielleicht haben Sie davon gehört. Zwölf Skulpturen aus dem Mittelalter, die lange Zeit als verschollen galten. Zusammen bilden sie einen Zyklus zum Tag des Jüngsten Gerichts. Der gesamte Zyklus konnte erst vor ein paar Jahren vollständig rekonstruiert werden. Und jetzt wird das Ergebnis in allen großen Städten gezeigt.»
«Und was hat das mit Abels Verletzung zu tun?»
«Eine dieser zwölf Einzelstatuen stellt den Erzengel Michael dar, der mit seinem goldenen Schwert den Drachen tötet.»
«Abel ist von einer Skulptur erdolcht worden?», rutscht es mir raus.
«Ja. Leider. So ähnlich zumindest», erwidert Eisen-Heinz. «Diese besagte Skulptur steht auf einem mannshohen Sockel, in den Bibeltexte eingemeißelt sind. Die Besucher, insbesondere die Schulklassen, ziehen bei den Besichtigungen deshalb gewöhnlich an diesem Sockel vorbei.»
Jetzt ahne ich, was passiert ist. «Und dem Erzengel ist das Schwert aus der Hand gefallen. Ich glaube, das nennt man Materialermüdung.»
«Stimmt», sagt Heinz. «Um die tausend Jahre haben der Skulptur tatsächlich stark zugesetzt. Aber es war alles noch viel schlimmer. Nicht nur das Schwert ist runtergekommen, sondern der ganze Erzengel. Abel war zufällig im Ausstellungsraum, als plötzlich kleine Stücke aus dem Sockel bröselten und der Engel nach vorn kippte. Die Skulptur wäre wohl geradewegs in eine Schulklasse gestürzt, wenn Abel sich nicht blitzschnell dazwischengeworfen und die Kinder zur Seite gejagt hätte. Die Statue selbst hat Abel dann verfehlt, sonst wäre er auch wohl auf der Stelle tot gewesen. Aber leider hat ihn das Schwert des Erzengels erwischt.» Heinz lacht bitter auf. «Ist das nicht eine merkwürdige Ironie des Schicksals?», fragt er. «Gott höchstpersönlich wird ausgerechnet von jenem Engel zur Strecke gebracht, der ihm von all seinen himmlischen Heerscharen am nächsten steht.»
Überrascht blicke ich ihn an. «Gott?»
Jetzt ist auch Heinz überrascht. «Sie sind sein Therapeut. Hat Abel Ihnen denn nicht erzählt, dass er Gott ist?»
«Doch, das hat er», sage ich. «Aber ich habe bislang noch niemanden getroffen, der ihm das auch geglaubt hat.»
«Selbstverständlich glaube ich ihm», erwidert Heinz. «Und ich habe nie an seiner Geschichte gezweifelt.»
«Und warum sind Sie sich so sicher?», will ich wissen.
Heinz zuckt mit den Schultern. «Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich als junger Mensch eine Menge Unfug angestellt habe. Ich war auf der Suche nach Antworten auf die elementaren Fragen. Wer bin ich? Wo komme ich her? Und wo gehe ich hin? Was ist der Sinn des Lebens? Ich habe fünfzehn Jahre investiert, um die Antworten auf diese Fragen zu finden. Und ich habe auf allen Kontinenten danach gesucht.» Er hält kurz inne und scheint seinen Erlebnissen in aller Welt nachzuschmecken. «Wissen Sie, mir sind viele weise Menschen auf meinem Weg begegnet, und ich glaube sogar, dass man einige von ihnen als Heilige bezeichnen könnte. Aber so jemanden wie Abel Baumann habe ich noch nie getroffen. Ich spüre, dass er ein Leuchten in sich trägt, das nicht von dieser Welt ist.»
«Sie verlassen sich ganz allein auf Ihr Gefühl?», frage ich erstaunt.
Heinz sieht mich irritiert an. «Ja. Was denn sonst? Es gibt nichts, das konkreter wäre als Gefühle. Das ist der Grund, warum die Menschen sich nicht nach Erkenntnissen sehnen, sondern nach Liebe, Glück und Freundschaft.»
Ich schweige nachdenklich.
Bevor ich etwas erwidern kann, wird am Ende des Flures eine Tür geöffnet und die in Tränen aufgelöste Maria erscheint. Josef hat einen Arm um sie gelegt. Mit der freien Hand tätschelt er seiner Ehefrau behutsam die Schulter. Christian folgt den beiden. Er wirkt nicht nur gefasst, sondern beinahe beglückt, obwohl er abgekämpft aussieht.
Während Josef Maria langsam zum Ausgang geleitet, überbringt Christian mir die Nachricht, dass Abel nun gerne mich sehen würde.
«War es sehr schwer für Ihre Mutter?», frage ich und schaue der von Weinkrämpfen geschüttelten Maria hinterher.
«Es war ein schmerzliches, aber auch ein reinigendes Gespräch», erwidert Christian und faltet fromm die Hände vor der Brust. «Wie letztlich alle armen Sünder hat auch mein Vater auf dem Totenbett seine Verfehlungen bereut und Abbitte geleistet.»
Heinz und ich wechseln einen kurzen Blick. Wahrscheinlich fragen wir uns beide, was Abels überraschendes Geständnis ausgelöst haben könnte.
«Vater hat zugegeben, dass seine gotteslästerlichen Geschichten nur Erfindungen waren», fährt Christian fort. «Wie wir alle schon lange vermutet haben, wollte er sich damit lediglich vor der Verantwortung für seine Familie drücken. Das ist zwar eine nicht eben rühmliche, aber eine durchaus menschliche Reaktion. Er hätte nur früher die Wahrheit ans Licht bringen müssen. Dann wären seinen Angehörigen und besonders meiner Mutter viele Sorgen erspart geblieben.»
Christian nickt sachte und erhaben. Man weiß nicht, ob er nachdenkt oder mit stiller Begeisterung seinen eigenen Erkenntnissen zustimmt. Er wirkt gerade jedenfalls derart hochmütig und selbstzufrieden, dass mir bei seinem Anblick fast schlecht wird.
«Leider wollte Vater nicht, dass ich ihm die Beichte abnehme. Hoffen wir, dass Gott ihm dennoch seine schweren Sünden verzeiht. Ich werde gleich eine heilige Messe in der Krankenhauskapelle lesen, um die Gnade Gottes für meinen Vater zu erbitten. Sie beide sind herzlich eingeladen, ebenso natürlich auch die übrigen Weggefährten meines Vaters.» Er schaut kurz zu den Artisten, dann nickt er uns aufmunternd zu. «Es würde mich sehr freuen, wenn Sie alle an unseren Gebeten teilnehmen könnten.»
Feierlich schreitet Christian von dannen. Heinz und ich sehen ihm nach.
«Was für ein eitler Pinsel», stößt Heinz zwischen den Zähnen hervor. «Es ist kaum zu glauben, dass er in gewisser Weise Gottes Sohn ist.»
«Ich finde es irgendwie tröstlich, dass selbst Gott Probleme mit seinen Kindern hat», sage ich und mache mich auf den Weg zu Abel.
Das Krankenzimmer ist in trübes Licht getaucht. Als ich die Tür schließe, herrscht augenblicklich Ruhe. Ein leichter Geruch von Desinfektionsmitteln hängt in der Luft. Leise versehen die Diagnosegeräte ihren Dienst. Das monotone Blinken ist irgendwie beruhigend. Noch schlägt Abels Herz also.
«Bist du es, Jakob?», fragt er mit schwacher Stimme.
Das goldene Schwert, das in seiner Brust steckt, zittert ein wenig.
«Ja, ich bin es», sage ich und füge rasch hinzu: «Beweg dich nicht, ich komme zu dir.» Ich habe große Angst, dass sein Herz kollabieren könnte.
Er erinnert an einen Feldherrn, der seine letzte Schlacht geschlagen hat. Ich erschrecke, als ich sein aschgraues Gesicht sehe. Er bemerkt es.
«Ich bin selbst erstaunt, Jakob. Aber die schlichte Wahrheit lautet: Es ist vorbei. Ich habe eine halbe Sekunde lang nicht aufgepasst, und jetzt werde ich sterben.»
«Sie können dir hier helfen, Abel. Du musst es nur …»
Mit einer winzigen Handbewegung bringt er mich zum Schweigen.
«Es ist vorbei, Jakob. Ich wurstele seit Jahrtausenden hier vor mich hin, ohne irgendetwas zu erreichen. Das Schwert hier ist nur das Tüpfelchen auf dem i. Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht! Ich bin erledigt. Das war ich schon, lange bevor wir uns getroffen haben, ich wollte es nur nicht wahrhaben.» Er atmet flach.
«Hast du deswegen Christian angelogen?», frage ich. «Weil du aufgeben willst?»
«Nein. Weil ich den dreien nicht noch länger das Leben schwer machen will. Wenn sie unbedingt an einen perfekten Gott glauben möchten, dann sollen sie das tun. Ich kann es ihnen nicht mal verdenken. Es ist wirklich ein bisschen viel verlangt, an einen Gott zu glauben, der ständig Fehler macht.» Sein Mund verzieht sich zu einem schiefen Lächeln. «Genau deshalb glaubt ja auch niemand an mich.»
Ich kann nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen treten, und versuche, sie herunterzuschlucken. «Heinz glaubt an dich. Das hat er mir eben selbst gesagt.» Wieder muss ich schlucken. «Und ich glaube an dich.»
Für einen kurzen Moment ist ein schwacher Glanz in seinen Augen zu sehen. «Dann hoffe ich mal, dass zwei Gläubige ausreichen, um mich vor dem Nirwana zu bewahren.»
«Es gibt hier noch viel für dich zu tun», wende ich ein.
Er lächelt matt. «Ich hab alles versucht, Jakob. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass ich mich jetzt mal eine kleine Ewigkeit lang ausruhe. Das Nirwana scheint mir ein passender Ort für einen ausgedienten Gott zu sein.»
«Du hast nicht ausgedient, Abel. Du darfst nur nicht aufgeben. Du könntest noch viele Menschen überzeugen. Aber dazu musst du erst wieder auf die Beine kommen …»
«Lass gut sein, Jakob. Falls die Menschen mich eines Tages wieder brauchen, dann können sie mich ja rufen. Sofern ich dann nicht allzu sehr damit beschäftigt bin, tot zu sein, komme ich gern.»
Ich muss lächeln, obwohl sich meine Augen wieder mit Tränen füllen. «Was ist mit denen, die dich jetzt brauchen?», frage ich mit belegter Stimme.
«Ich bin sicher, du kommst ganz gut allein zurecht.» Er kann ein kurzes Husten nicht unterdrücken. Das Schwert in seiner Brust zittert.
«Vorsicht, Abel! Beweg dich nicht!», bitte ich.
«Zu spät», haucht er. Ich sehe, dass seine Augenlider flattern.
«Abel. Warte! Bitte! Bleib hier!»
Langsam schüttelt er den Kopf und flüstert: «Danke für alles, Jakob.»
Ich sehe, dass Blut aus der klaffenden Wunde unter seinem Herzen quillt und springe auf, um Hilfe zu holen, da ertönt ein schriller Sinuston. Entsetzt starre ich auf die ohrenbetäubend pfeifenden Geräte.
Die Tür wird aufgerissen. Krankenhauspersonal stürmt herein. Eine Schwester befreit Abels leblosen Körper von den Elektroden, eine andere stellt das enervierende Fiepen ab.
«Wir brauchen sofort einen OP!», ruft ein blutjunger Arzt mit raspelkurzen Haaren. «Und jemand soll Dr. Kessels holen! Los, los! Beeilung!»
Es dauert nur Sekunden, bis die Klinikmitarbeiter Abels Bett auf den Flur geschoben haben. Als die Tür ins Schloss fällt, herrscht augenblicklich Stille. Erschöpft und verzweifelt lasse ich mich auf einen Stuhl sinken.
Wenn ich könnte, würde ich jetzt beten. Aber zu wem? Bis heute war ich ein Ungläubiger, der Gott an seiner Seite hatte. Jetzt bin ich ein gottloser Gläubiger.