Gott ist kooperativ
Die Adresse auf Abel Baumanns Visitenkarte gibt es nicht. Da, wo das betreffende Haus stehen müsste, klafft eine Baulücke. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass der Platz trotzdem bewohnt ist. Fünf oder sechs Bauwagen sind versteckt hinter Bäumen, Gestrüpp und Sperrmüll im Halbdunkel auszumachen. Eine Konstruktion aus Holz und Eisenschrott entpuppt sich als selbstgebauter Briefkasten. Die mit Filzstift aufgekritzelte Adresse stimmt mit jener auf Baumanns Visitenkarte überein. So wohnt also Gott. In einer Wagenburg auf einer illegalen Müllkippe. Ich hatte mir sein Reich etwas pompöser vorgestellt.
Das matte Licht meines Handydisplays leuchtet mir den Weg, als ich mich zu den Bauwagen vorarbeite und dabei zwei Ratten aufscheuche, die so groß sind, dass ich sie im ersten Moment für streunende Hunde halte. Glücklicherweise haben die beiden genauso viel Respekt vor mir wie ich vor ihnen. Bei Gelegenheit muss ich Gott mal fragen, was er sich bei manchen seiner Kreaturen eigentlich so gedacht hat.
Ein alter Mann mit schlohweißem Irokesenschnitt öffnet mir eine halbe Ewigkeit, nachdem ich an seinem Bauwagen geklopft habe. Er hat sich offenbar viel Zeit gelassen, um die knapp zehn Quadratmeter seiner Behausung zu durchqueren.
«Was’n los?», fragt er und streicht über seinen Unterarm, den ein tätowiertes Kreuz mit Flammen ziert.
«Hübsch», sage ich und deute auf das Tattoo. «Hat das was zu bedeuten?»
Er nickt. «Das bedeutet, dass ich mal jung und blöd war. Wollen Sie meinen Hintern sehen? Ich hab dieses berühmte Bild von Michelangelo draufstechen lassen, wo Gott Adam erschafft. Wenn ich den Arsch zusammenkneife, dann berühren sich ihre Zeigefinger.»
«Leider bin ich gerade etwas in Eile», weiche ich aus. «Wissen Sie zufällig, wo ich Abel Baumann finden kann?»
Der Irokese nickt. «Bei Freddy. Der hat heute ’ne Hochzeitsgesellschaft, und da wollte Abel zugucken.»
Die Wortwahl irritiert mich. «Zugucken? Heißt das, er ist auf einer Hochzeit, zu der er nicht eingeladen wurde?»
Der Irokese nickt. «Ja. Wie üblich, könnte man sagen.»
«Wo finde ich denn diesen Freddy?», frage ich beklommen. Ich ahne, dass Abels ungebetenes Auftauchen bei einer Hochzeit für Ärger sorgen könnte.
«Sind Sie etwa ’n Bulle oder so was?» Der Irokese verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust. Obwohl er die siebzig überschritten haben dürfte, spannen sich beachtliche Muskeln unter seinem Ringelpulli.
«Nein. Ich bin sein Therapeut», erwidere ich.
Das Gesicht des Irokesen hellt sich auf. «Ach, Sie sind das! Hab schon viel von Ihnen gehört», sagt er und ergreift freudig meine Hand. «Ich bin übrigens Heinz. Besser bekannt als Eisen-Heinz. Kraftakrobat. Abel und ich haben uns im Zirkus kennengelernt.» Mit der Wucht eines Schraubstocks drückt Eisen-Heinz mir herzlich die Hand. «Freddys Pizzeria ist nur fünf Minuten die Straße runter. Essen Sie lieber nichts, seine Frau kocht beschissen. Aber die beiden sind rasend nett.»
Tatsächlich macht der Laden einen sympathischen Eindruck. Freddys Frau Valentina bringt locker drei Zentner auf die Waage, wird von ihrem Mann, einem hageren Kerl mit zurückgegelten Haaren und Menjou-Bärtchen, aber trotzdem liebevoll meine kleine Gazelle genannt.
Abel Baumann sitzt am einzigen Tisch im Eingangsbereich, gleich neben der Theke. Vor ihm steht ein doppelter Grappa. Gewöhnlich warten hier die Pizzalieferanten auf ihren Einsatz, vermute ich. Interessiert betrachtet Baumann den Gastraum, wo eine vielleicht dreißigköpfige Hochzeitsgesellschaft gerade von Freddy und zwei Aushilfen mit Espresso, Digestifs und Tiramisu versorgt wird. Die Braut, eine kurvige Endzwanzigerin mit vollem, pechschwarzem Haar, packt ihrem schmächtigen Bräutigam großzügig Nachtisch auf den Teller, als ich mich neben Baumann setze.
«Eisen-Heinz hat mir gesagt, wo ich Sie finden kann.»
«Ich weiß», erwidert Baumann, ohne das Geschehen im Gastraum aus den Augen zu lassen.
«Stimmt. Hatte ich ganz vergessen. Sie haben ja sicher auch gewusst, dass ich kommen würde, richtig?»
Baumann nickt ernst und nippt an seinem Grappa. Ich bedeute dem vorbeihuschenden Freddy, dass ich auch gern so einen hätte und versuche zu ergründen, was mein Sitznachbar nur an dieser Hochzeitsfeier findet.
«Kennen Sie die beiden?»
Baumann schüttelt den Kopf.
«Kennen Sie hier sonst jemanden?»
«Außer Freddy und Valentina? Nein.»
Freddy stellt mir den Grappa vor die Nase. Ich nehme einen winzigen Schluck. «Würden Sie mir dann verraten, was Sie hier machen?»
«Da! Jetzt!», sagt Baumann und deutet mit einer Kopfbewegung zum Brautpaar. Ich sehe, wie der Bräutigam mit seinem übervollen Teller an der Festtafel Platz nimmt, während die Braut ihren Blick über die Menge schweifen lässt. Sie scheint sich davon überzeugen zu wollen, dass alle Gäste gut versorgt sind. Erst bei genauem Hinsehen erkennt man, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders ist. Ihr träumerisches Lächeln verrät es. Sie sonnt sich im Hochgefühl dieses Augenblicks. Mit jeder Pore ihres Körpers genießt sie diesen Moment voller Glanz und Liebe, diese Sekunden im Bannstrahl des vollkommenen irdischen Glücks.
«Das war er», sagt Baumann und dreht nun doch den Kopf zu mir. «Das war der Höhepunkt ihres Lebens.»
Ich nicke. «Zumindest der vorläufige Höhepunkt.»
Abel schüttelt energisch den Kopf. «Nein. Der absolute. Das gerade war der absolute Höhepunkt ihres Lebens.»
«Aber es weiß doch niemand, was noch kommt», gebe ich irritiert zu bedenken.
«Doch. Ich schon. Ich weiß es», entgegnet Baumann. «Sie wünscht sich Kinder, kann aber keine bekommen. In ein paar Jahren wird sie das frustriert einsehen. Ihre Ehe existiert zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Dieser Kerl mit dem Berg Tiramisu vor der Nase, den sie heute geheiratet hat, wird eine Geliebte haben und sich scheiden lassen, um mit der anderen Frau ein neues Leben zu beginnen. Zu diesem Zeitpunkt wird die andere Frau von ihm schwanger sein. Bei dieser anderen Frau handelt es sich um die Schwester unserer schönen Braut. Und das wird ihr für alle Zeiten das Herz brechen.»
Offenbar hat mein Patient einen psychotischen Schub. «Sind Sie deshalb hier?», frage ich. «Ist das so eine Art göttliche Mission? Wollen Sie die Braut vielleicht vor einer unglücklichen Zukunft bewahren?»
«Soll ich?», fragt Baumann launig und kippt seinen Grappa in einem Zug herunter.
«Nur zu!», sage ich und mache eine einladende Handbewegung.
Er mustert mich. «Sie wollen von mir tatsächlich einen … Gottesbeweis?»
Ich wiege den Kopf hin und her. Wenn es helfen würde, Baumanns psychischen Zustand zu verbessern, dann hätte ich gegen unkonventionelle Maßnahmen nichts einzuwenden. Aber deshalb glaube ich noch lange nicht, dass er tatsächlich die Macht hat, den Lauf der Welt zu verändern. Wahrscheinlich wird Baumann mir einen Taschenspielertrick servieren, indem er eine vermeintlich magische Handbewegung macht und dann behauptet, damit habe er das Leben der Braut zum Besseren gewendet. Man könnte ihm nicht einmal das Gegenteil beweisen, weil es Jahre dauern würde, bis man es nachprüfen könnte. Da es mich dennoch interessiert, wie sich mein Patient aus der Affäre zieht, sage ich locker: «Ach, ja. Warum eigentlich nicht?»
Baumann schaut mich an und scheint zu überlegen, ob er mir meine Bitte erfüllen soll. «Wollen Sie gleich die große Show, oder reicht Ihnen eine kleine Kostprobe?», fragt er lächelnd.
«Bitte keine Umstände», sage ich.
«Gut. Ich werde es mir überlegen», entgegnet Baumann abwiegelnd. «Aber zunächst würde ich gerne etwas anderes mit Ihnen besprechen.»
Er winkt Freddy an unseren Tisch und drückt ihm mit den Worten «Danke, stimmt so» einen Schein in die Hand.
Dann zieht er einen Umschlag aus der Innentasche seines Mantels und reicht ihn mir. «Fünfzehnhundert Euro.»
«Wofür?», frage ich.
«Ihr Honorar. Dafür, dass Sie mich nach München begleiten.»
Ich schaue auf den Umschlag, dann wieder zu Baumann.
«Übermorgen wären wir wieder zurück. Wenn Ihnen das Honorar nicht hoch genug ist, sagen Sie es bitte. Spesen gehen natürlich extra.»
«Und was wollen wir in München?»
«Meine Familie besuchen. Sie möchten meine Familie doch gern kennenlernen, um mehr über mich zu erfahren, oder etwa nicht?»
«Das habe ich nie gesagt.»
«Aber gedacht», sagt Baumann. Offenbar mache ich ein verwundertes Gesicht, denn er fügt hinzu: «Keine Sorge, ich kann nicht automatisch Ihre Gedanken lesen. Nur, wenn Sie intensiv an mich denken. Oder wenn ich mich auf Sie konzentriere.»
Immer noch schaue ich ihn verständnislos an.
«Na, irgendwie muss ich ja mit meinen Geschöpfen in Kontakt treten können – und meine Geschöpfe mit mir.»
«Ach, Sie meinen, als ich diesen Gedanken hatte, war das so etwas wie ein Gebet», sage ich und bin beeindruckt von der Intelligenz meines Patienten. Es liegt nahe, dass ich mir sein familiäres Umfeld anschauen möchte. Um das zu vermuten, muss man kein Hellseher sein. Dass er mir seine richtige Vermutung aber als ein kleines Wunder verkauft, finde ich bemerkenswert.
Baumann zuckt mit den Schultern. «Keine Ahnung. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich persönlich mache mir nicht viel aus Religion. Außerdem beten die meisten Leute sowieso nur deshalb, weil sie hoffen, dass ich ihre Probleme löse oder Ihnen Plätze im Paradies besorge.»
Er greift neben sich, fördert einen kleinen Koffer zutage und stellt ihn auf den Tisch. «Ich dachte, wir nehmen den Nachtzug und fahren morgen Abend wieder zurück. Dann sparen wir das Hotel.»
Er sieht, dass ich verwundert auf seinen Koffer blicke.
«Ich habe nur das Nötigste eingepackt», erklärt er. «Ich dachte, wir kaufen Ihnen am Bahnhof eine Zahnbürste und das bisschen Krimskrams, was man sonst noch so braucht. Wir können aber auch noch mal bei Ihnen zu Hause vorbeifahren, wenn Ihnen das lieber ist.»
«Nein, ist schon okay», sage ich und denke daran, dass Ellen wahrscheinlich immer noch in meiner Wohnung auf mich wartet. Wie ich sie kenne, gibt sie nicht so leicht auf. Der Nachtzug nach München kommt mir also in gewisser Hinsicht sogar gelegen.
«Schön», fasst Baumann zusammen. «Freut mich sehr, dass Sie dabei sind.»
Eher nebenbei betrachtet er das Geschehen an der Festtafel. Ich folge seinem Beispiel und sehe eine Hochzeitsgesellschaft beim Schlemmen. Nichts Besonderes. Eine Weile schauen wir schweigend zu.
«Wen genau werden wir denn in München treffen?», frage ich.
«Ich habe einen Sohn», erwidert Abel. «Er weiß, dass ich mich in Therapie begeben habe. Und er möchte Sie gern kennenlernen.» Abel macht eine Kunstpause. «Und dann ist da noch die Mutter.» Er überlegt einen kurzen Moment. «Wir haben nicht das beste Verhältnis, würde ich sagen.»
«Sind Sie geschieden?», frage ich.
«Wir waren nie verheiratet. Unser Kind ist das Ergebnis einer Affäre. Es ist bei ihr und ihrem Mann aufgewachsen.»
Ich komme nicht dazu, mir über Baumanns Familienbande Gedanken zu machen, denn in diesem Moment ist ein dumpfer Schlag zu hören, gefolgt von einem lauten Klirren. Gläser kippen um, eines fällt zu Boden, wo es zerplatzt und seinen Inhalt über die Terracottafliesen verteilt. Atemlose Stille. Selbst die noch anwesenden Kinder geben keinen Laut von sich.
Eine junge, drahtige Frau mit kurzen Haaren und einem schlichten Abendkleid ist für diese Stille verantwortlich. Sie hat gerade mit ihren kleinen harten Fäusten auf den Tisch gehauen und damit das Geschirr zum Klingen und die Gäste zum Verstummen gebracht.
Nun steht sie mit vor Zorn gerötetem Gesicht und zusammengekniffenen Lippen da. Sie stützt sich mit ihren immer noch geballten Fäusten auf der Tischplatte ab. Das Weiß an den Knöcheln ist hervorgetreten. Die Anspannung der jungen Frau vibriert im Raum, weshalb niemand wagt, das Schweigen zu brechen.
Schließlich tut sie es selbst.
«Ich kann das nicht», bringt sie mühsam hervor. «Ich kann nicht mit ansehen, wie du meine Schwester heiratest, als würde es unsere Liebe überhaupt nicht geben.»
Die Köpfe drehen sich abrupt zum Bräutigam, zugleich ist ein ebenso erstauntes wie entsetztes kollektives Einatmen zu vernehmen.
Der Bräutigam sitzt vor seinem absurd großen Teller mit Tiramisu. Er hat kurz vor dem Ausbruch der jungen Frau den Löffel in den Mund gesteckt und ist in dieser Haltung erstarrt. Jetzt, wo alle Augen auf ihn gerichtet sind, zieht er in Zeitlupe den Löffel aus dem Mund und schluckt schwer. Er wirft einen vorsichtigen Blick zu seiner Frau, die ihn in ebenso banger wie hoffnungsvoller Erwartung ansieht.
«Das ist eine Lüge», sagt er mit heiserer Stimme. Es klingt wie: Lass uns später darüber reden, Schatz.
Die Braut blinzelt, ihre Augen bekommen einen feuchten Glanz.
«Glaub mir! Sie lügt», bekräftigt er ängstlich. «Es ist nichts zwischen uns gewesen. Rein gar nichts! Bitte, Liebling, ich …»
Er verstummt abrupt, denn seine frischgebackene Ehefrau hebt abwehrend die Hände. Ihr Gesicht wirkt nun wie versteinert. Wahrscheinlich ahnt sie, dass ihre Schwester die Wahrheit sagt. Niemand versaut eine Hochzeit ohne triftigen Grund.
Die Schwester lässt sich schluchzend auf ihren Stuhl sinken. «Was bist du nur für ein Schwein!», stößt sie hervor. «Keine drei Tage ist es her, da hast du noch in meinem Bett gelegen und davon geredet, dass du die Hochzeit am liebsten absagen würdest.»
Eine ältere Dame legt ihren Arm um die Verschmähte und reicht ihr ein winziges Spitzentaschentuch. Gleichzeitig beginnt nun auch die Braut zu schluchzen. «War das etwa die Nacht, in der du angeblich kurzfristig nach Hamburg musstest?»
Während der Bräutigam nervös zwischen den beiden Frauen hin und her schaut und fieberhaft überlegt, wie er die Situation entschärfen kann, erwacht die Gesellschaft aus der Schockstarre. Hier und da wird getuschelt, zwei junge Frauen, wahrscheinlich Brautjungfern, springen auf und kümmern sich um die Frischvermählte, deren Make-up gerade von Tränenbächen weggespült wird. Die betrogene Schwester weint sich unterdessen an der Schulter der älteren Dame aus.
Rasch bemüht sich das Personal, den Glasschaden ohne viel Aufhebens zu beseitigen. Zudem werden eilig Schnäpse kredenzt. Wahrscheinlich sollen sie die Anwesenden beruhigen. Freddy scheint jedenfalls zu hoffen, dass er mit Spirituosen eine weitere Eskalation vermeiden kann. Er irrt.
Mit leisem Surren löst sich ein elektrischer Rollstuhl von der Festtafel, in dem ein vierschrötiger Kerl um die sechzig sitzt.
Während sich das Gefährt erstaunlich schnell auf den Bräutigam zubewegt, zieht der Fahrer einen Krückstock hervor, um ihm dem Hallodri mit den Worten «Du gottverdammte Drecksau» über den Schädel zu ziehen.
Der Schlag verfehlt sein Ziel, denn der Bräutigam springt auf und weicht dem Angreifer aus.
Geschrei unter den Gästen, ein Tumult entsteht.
«Nein! Vater! Bitte nicht!», ruft die Braut.
Der Mann im Rollstuhl hört nicht hin. Er ist durch die Wucht des Schlages nach vorne gekippt. Sein Toupet hat sich gelöst und versperrt ihm nun die Sicht. Er berappelt sich hastig und reißt dabei den Krückstock hoch. Der Knauf liegt zwischen den Beinen des Bräutigams, dessen Fuß in der Rückenlehne seines umgekippten Stuhls feststeckt. Mit voller Wucht rammt der Brautvater dem Bräutigam den Knauf in die Weichteile.
Der Getroffene gibt keinen Mucks von sich, wirkt aber ungeheuer erstaunt, während sein Gesicht zügig die Farbe von Hüttenkäse annimmt. Außerdem presst er vor Schmerz die Beine zusammen, womit er den Stock mitsamt Knauf einklemmt. Wütend und ruckartig zieht der Brautvater den – wie man nun sieht – erstaunlich großen Knauf zwischen den Beinen des Bräutigams hervor. Diesmal geht ein gedämpftes «Uhh» durch die Reihen. Wahrscheinlich haben die meisten hier den gleichen Gedanken: Ein Schlag auf den Kopf wäre angenehmer gewesen.
Der Bräutigam zeigt immer noch keine Reaktion. Schließlich huscht ein entrücktes Lächeln über sein Gesicht, er geht in die Knie und fällt mit dem Gesicht voran in seine Familienportion Tiramisu.
Während die Gäste aufspringen und ich Freddy zum Telefon eilen sehe, greift Baumann nach seinem Koffer. «Ich würde gerne weg sein, bevor die Polizei hier ist. Das gibt sonst ja doch wieder nur Ärger.»
Besorgt schaue ich Baumann an. «Im schlimmsten Fall kann ein Schlag in die Hoden so etwas wie einen Reflextod auslösen.»
«Keine Sorge», beschwichtigt Baumann. «Er braucht jetzt nur ganz viel Eis und noch mehr Geduld. Wenn das Erbrechen und der Schüttelfrost vorbei sind, hat er das Schlimmste bereits überstanden. Jedenfalls wird er die Hochzeitsnacht nie vergessen.» Baumann deutet mit einem Kopfnicken zur Tür. «Was ist? Wollen wir los?»
Als unser ICE bereits in voller Fahrt durch die Landschaft brettert, habe ich Baumanns Taschenspielertricks analysiert und bin nun sicher, das Puzzle zusammensetzen zu können. Ich vermute, dass mein Patient nicht mit einer derartigen Eskalation des Abends gerechnet hat, vielleicht aber schon mit einem kleinen Eklat. Ich könnte mir nämlich vorstellen, dass Baumann von der Affäre der Schwester mit dem Bräutigam wusste, so wie wahrscheinlich fast jeder am Tisch und womöglich auch Freddy, der es Baumann gesteckt haben könnte. Die Hoffnung auf das, was Baumann eben eine gute Show genannt hat, war also nicht unbegründet. Und Baumann musste auch damit rechnen, dass ich nach seiner Entlassung aus dem Polizeigewahrsam direkt informiert werden würde. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis ich bei Freddy auftauchen würde. Mit Baumanns angeblicher Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, hatte das natürlich nichts zu tun.
Zufrieden nippe ich an meinem Wein. Wir sind die einzigen Gäste im Bordrestaurant. Mit einem saftigen Trinkgeld hat Baumann den Kellner dazu bewegen können, uns zu dieser späten Stunde noch Brot und Käse zu servieren. Außerdem stehen fünf Viertelliter-Fläschchen Rotwein am Fenster, die Baumann mit den Worten «Ist ja nicht mehr als eine normale Flasche» auf Vorrat gekauft hat. Ich glaube, er hat sich absichtlich verrechnet.
Auf dem Weg zum Bahnhof ist der erste Schnee gefallen. Große Flocken haben die Stadt binnen weniger als einer halben Stunde in ein mattes Weiß getaucht. Momentan ist die Schneehaut noch dünn wie ein Negligé, aber schon morgen früh könnte eine dicke Decke daraus geworden sein.
Im Fahrtwind des Zuges wirbeln die Schneeflocken am Fenster vorbei, als würde draußen ein Sturm toben. Ich betrachte das Schauspiel und denke daran, dass Weihnachten vor der Tür steht. Bald wird auch dieses Jahr im Regal der Geschichte verschwinden und dort langsam verstauben. Die Zeit ist schon ein seltsames Ding.
«Gegen Weltverlorenheit hilft übrigens Wein», sagt Baumann unvermittelt und gießt mir großzügig ein.
Seine Worte reißen mich aus den Gedanken. «Sie schulden mir einige Erklärungen», stelle ich fest.
Baumann nickt. «Ich weiß. Morgen. Wir trinken und essen jetzt was, dann ruhen wir uns aus, und morgen beantworte ich Ihre Fragen.» Er sieht, dass ich gerne sofort reden würde und fügt hinzu: «Es war ein sehr langer Tag.»
Das stimmt. Ich spüre es an einem unangenehmen Ziehen in der Nasengegend. Trotzdem muss Baumann mir heute noch erklären, wie er das Geld für die Reise und mein fürstliches Honorar aufgetrieben hat. Ich möchte nämlich nicht mitten in der Nacht von der Bahnpolizei aus dem Abteil gezerrt werden, weil Baumann irgendwelche krummen Dinger gedreht hat. Wäre uns nicht die Hochzeitsschlägerei dazwischengekommen, hätte ich ihn schon früher gefragt. «Das Geld für diese Reise. Und mein Honorar. Ist das Ihr Erspartes?»
Baumann hält inne, überlegt und antwortet: «Nein, warum fragen Sie?»
Ich schweige und sehe ihn prüfend an.
Baumann stutzt, denkt nach, dann versteht er. «Glauben Sie etwa, dass ich es gestohlen habe?»
Ich ziehe die Schultern hoch. «Keine Ahnung. Sagen Sie es mir.»
«Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen. Ich gehe zwar nicht immer den geraden Weg. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich krumme Dinger drehe.»
«Schön. Dann sagen Sie mir doch einfach, woher Sie es haben.»
Er greift nach einem der Weinfläschchen, dreht den Verschluss ab und schenkt uns nach. «Nur damit Sie beruhigt sind: Ich habe das Geld gewonnen.»
Meine Augenbrauen wandern ein paar Millimeter nach oben. «Gewonnen?»
«Ja. Ganz legal gewonnen», fährt er fort. «Würde ich es drauf anlegen, könnte ich jedes Casino der Welt ausräumen. Will ich aber nicht. Ich bleibe bescheiden und verhalte mich unauffällig.» Er grinst. «Und wenn ich mal etwas Geld außer der Reihe brauche, gehe ich einfach in die nächste Spielbank und hebe ein bisschen was ab.»
«Gott ist ein Zocker? Interessant. Dabei hat Einstein doch behauptet: Gott würfelt nicht.»
«Ich weiß. Einstein war’n Klugscheißer», erwidert Baumann. «Gott würfelt nicht nur, er spielt auch sehr gern Roulette. Und Black Jack. Und manchmal pokert Gott sogar. Glauben Sie etwa, dass man so etwas wie den Menschen erschaffen kann, wenn man kein Glücksspieler ist?»
Als wir den Schlafwagen beziehen, ist es weit nach Mitternacht. Baumann hat uns eine Suite gemietet, was bedeutet, dass unsere beiden Abteile durch eine dünne Tür verbunden sind. Auch wenn sie geschlossen ist, kann man sich unterhalten, ohne die Stimme zu erheben. Da wir beide müde sind, ist unser Gespräch aber verebbt. Ich höre, dass Baumann geräuschvoll gurgelt. Das Plätschern eines Wasserhahns dringt durch die Tür. Es folgen ein «Gute Nacht» und das Klicken des Lichtschalters.
«Gute Nacht», erwidere ich und lösche ebenfalls das Licht.
So hundemüde, wie ich bin, müssten mir binnen Sekunden die Augen zufallen. Stattdessen starre ich hellwach ins Dunkel und rekapituliere meinen Tag mit Abel Baumann. Ich möchte der entscheidenden Frage ein Stück näherkommen: Wer ist Abel Baumann? Er ist nicht Gott, so viel ist sicher. Aber er scheint ein paar Tricks zu beherrschen, die einfache Gemüter ziemlich beeindrucken könnten. Vielleicht ist Baumann beim Zirkus einem Hellseher begegnet, der ihm seine Betriebsgeheimnisse verraten hat. Vielleicht war mein Patient auch selbst Illusionist, bevor er sich für eine Karriere als Clown entschieden hat. Er könnte sogar ein ehemaliger Kollege von mir sein, der seine wissenschaftliche Karriere an den Nagel gehängt hat, um sich den Grenzwissenschaften zuzuwenden. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn es sich bei Baumann um einen Psychologen mit psychischen Problemen handelte.
«Grübeln Sie nicht so viel», höre ich Baumann nebenan sagen.
Ich muss grinsen. Baumann kann sich natürlich an zwei Fingern ausrechnen, dass ich über ihn nachdenke. Mit Hellseherei hat das wenig zu tun. Ich würde eher sagen, dass mein Patient ein durchaus talentierter Zauberer ist.
In Baumanns Abteil sind nun Geräusche zu hören. Dann ein Klopfen.
«Ich höre auf zu denken», sage ich. «Versprochen.»
Die Verbindungstür öffnet sich, Licht fällt in mein Abteil. Abel erscheint im Halbdunkel. Er hat eine Flasche Scotch und zwei Gläser in der Hand.
«Hier ist mein Vorschlag», sagt er: «Wir trinken ein Glas oder auch zwei, und ich beantworte so lange alle Fragen, bis einem von uns die Augen zufallen.»
Ich setze mich auf die Bettkante. «Klingt fair.»
Er stellt die Gläser auf einen kleinen, mausgrauen Tisch, zwängt sich auf den dazugehörigen Stuhl und gießt ein. «Ich bin aber nur bereit, auf meine Nachtruhe zu verzichten, wenn ich Sie nicht länger siezen muss.»
Er reicht mir ein Glas. «Ich bin Abel.»
Ich vermute, dass es sich günstig auf unser Therapeut-Patient-Verhältnis auswirken könnte, wenn ich seinem Vorschlag zustimme. «Jakob», erwidere ich also und proste ihm zu.
Wir trinken. Ein angenehmes Brennen in den Eingeweiden.
«Okay, Jakob. Dann schieß mal los!», sagt Abel. «Was willst du wissen?»
Ich halte ihm mein Glas hin. «Erst hätt ich gern noch einen. Passiert ja schließlich nicht alle Tage, dass Gott einem das Du anbietet.»