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Gottes Wege

Der Winter hat die Stadt fest im Griff. Der Verkehr kriecht. Auf den eisglatten Bürgersteigen versuchen dick eingemummte Menschen, heil durchs Gewimmel zu kommen. Es wäre ein ganz gewöhnlicher Morgen an einem ganz gewöhnlichen ungemütlichen Dezembertag, wenn nicht Weihnachten unmittelbar bevorstünde. Der Gedanke daran, dass die Menschen heute Abend das Fest der Liebe zelebrieren werden, scheint die Welt zumindest ein paar frostige Atemzüge lang zu einem besseren Ort zu machen. Daran ändert auch nichts, dass unterm Tannenbaum nicht nur geherzt und geküsst, sondern auch gestritten und geprügelt wird. Es ist der Gedanke, der zählt. Und vielleicht ist das auch schon das ganze Geheimnis.

Diesmal scheint Abel tatsächlich meine Gedanken lesen zu können. «Falls du heute Abend nicht weißt, wohin, dann melde dich einfach. Mein Bauwagen ist dein Bauwagen.»

«Danke. Aber ich muss mich um Mutter kümmern. Wird nicht leicht, ihr klarzumachen, dass Jonas heute nicht dabei sein kann.»

«Du könntest sie belügen», empfiehlt Abel.

«Das sowieso. Glaubst du, ich hab vor, ihr auf die Nase zu binden, dass ihr Lieblingssohn ein international gesuchter Verbrecher ist?»

«Wie gesagt: Falls du es dir anders überlegst …»

«Danke», sage ich. «Und danke auch für eben.»

Abel nickt, hebt die Hand zum Gruß und verschwindet im Getümmel.

Ich überlege, dass es klug wäre, meine Klamotten aus Jonas’ Wohnung zu holen, bevor ich zu Mutter fahre. Sonst muss ich nämlich später noch mal in die Stadt. Vielleicht wäre das aber auch gar nicht so schlecht, denke ich. Auf diese Weise hätte Mutter heute Mittag ein bisschen Zeit für sich.

Als ich vor meinem Elternhaus stehe, schnürt mir der Anblick die Kehle zu. So verschneit und verträumt, wie das imposante Anwesen gerade daliegt, beschwört es die Erinnerung an unbeschwerte Kindertage herauf. An Schlittenfahrten, Schneeballschlachten und einen Bernhardiner namens Nepomuk, der viele Jahre zur Familie gehörte, bis Mutters exzessiver Zigarettenkonsum ihn dahinraffte. Nepomuk starb an einer Raucherlunge, Mutter gewöhnte sich die Zigaretten daraufhin ab. Wir verdanken dem Hund also immerhin ein paar rauchfreie Jahre.

Ein Fenster in der oberen Etage wird geöffnet.

«Überlegst du, ob du vor dem richtigen Haus stehst, oder hast du mein Geschenk vergessen?», ruft Mutter. «Komm lieber rein, sonst denken die Nachbarn noch, dass ich dich an Heiligabend vor die Tür gejagt habe.»

Bevor ich antworten kann, wird das Fenster wieder geschlossen.

«Schön, dass ich dich noch sehe», sagt sie, als ich das Haus betrete. Sie drückt mir einen schnellen Kuss auf die Wange.

Mein Blick fällt auf einen Koffer, der im Flur steht. «Was ist das?»

«Ein Koffer.»

«Das sehe ich. Aber was hat es damit auf sich?»

Sie lächelt verschmitzt. «Ich will Jonas überraschen. Deshalb fliege ich gleich nach Florida.»

«Aber … das … ist …», stottere ich entsetzt.

«Er hat mich gestern noch vom Bahnhof aus angerufen und mir erklärt, dass da dieser Weihnachtsempfang in der Bank stattfindet und der Vorstand von ihm erwartet, dass er seine neuen Mitarbeiter begrüßt. Aber er klang irgendwie traurig. Deshalb habe ich mir letzte Nacht überlegt, dass ich einfach hinfliege und die Feiertage mit ihm verbringe.»

«Aber … das ist viel zu weit», sage ich hilflos.

«Nein. Wegen der Zeitverschiebung gewinne ich sechs Stunden. Und Jonas muss ja am Nachmittag sowieso noch zu diesem Empfang in der Bank. Inzwischen werde ich ihm sein Leibgericht kochen.»

«Und was ist mit mir?», frage ich vorwurfsvoll. Ich bin gerade so perplex, dass mir kein vernünftiges Argument gegen ihren Plan einfällt. Deshalb schrecke ich nicht davor zurück, sie moralisch unter Druck zu setzen.

«Komm doch einfach mit», sagt sie. «Gestern gab es noch genügend freie Plätze im Internet. Wenn du willst, können wir gleich mal nachschauen.»

Ich starre sie ratlos an. Was mache ich jetzt?

«Wenn dir der Flug zu teuer ist, dann schenke ich ihn dir einfach zu Weihnachten», sagt sie mit einem milden Lächeln. «Ungewöhnliche Situationen erfordern manchmal ungewöhnliche Maßnahmen.»

Ich lasse mich auf dem Treppenabsatz nieder.

«Was ist denn?», fragt sie verstimmt. «Sag jetzt bitte nicht, dass du beleidigt bist, weil ich deinen Bruder am Weihnachtsabend in diesem völlig fremden Land nicht allein lassen möchte.»

«Jonas ist nicht in Florida», bringe ich mühsam hervor.

«Doch, das hat er mir gestern selbst gesagt.» Sie kramt einen Hochglanzprospekt aus ihrer Tasche und zeigt ihn mir. Es ist eine Broschüre, mit der potenzielle Käufer für Luxusapartments in Miami geworben werden sollen. «Und schau! Ich weiß sogar, wo er wohnt.»

«Mutter, Jonas ist nicht in Florida. Er hat ein paar berufliche … Probleme, wollte dich damit aber nicht behelligen.»

Sie wirkt kein bisschen verunsichert, eher ein wenig verärgert. «Jakob, was redest du da schon wieder für einen Quatsch?»

«Das ist kein Quatsch. Ich möchte dich davor bewahren, geschlagene zehn Stunden im Flieger zu sitzen, nur um dann herauszufinden, dass dein Sohn nicht da ist, wo du ihn vermutest.»

Sie greift ganz selbstverständlich nach ihrem Mantel und erwidert amüsiert: «Ach, Jakob! Du hast dir schon als Kind immer seltsame Geschichten ausgedacht, um deinen Bruder in Schwierigkeiten zu bringen. Weißt du noch, wie du Jonas einen ganzen Tag lang im Keller eingesperrt hast? Wir sollten glauben, dass er von zu Hause weggelaufen ist. Erst als wir die Polizei rufen wollten, hast du kalte Füße bekommen und alles gestanden.»

Ich beschließe kurzerhand, Mutter jetzt den gleichen Bären aufzubinden, den Jonas mir aufgebunden hat: Dass sein Job ihm gegen den Strich geht. Dass er in den Staaten neu anfangen will. Dass er sich nach einem ruhigen Leben abseits der stressigen Hochfinanz sehnt. Mutter hat ja eben selbst gesagt, dass ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen erfordern. Also mache ich ein zerknirschtes Gesicht und beginne mit meiner Lügengeschichte.

Sie hört ruhig zu, überlegt dann einen Moment und folgert blitzschnell: «Dann ist Jonas also doch in Miami.»

«Ja und nein», improvisiere ich. «Er wollte in Ruhe über seine Zukunft nachdenken. Deshalb hat er sich ein Wohnmobil gemietet, um über die Keys zu fahren.»

Sie sieht mich mit einem fast mitleidigen Blick an.

«Ausgerechnet an Heiligabend?», hakt sie argwöhnisch nach.

«Ausgerechnet an Heiligabend», bestätige ich nickend.

Sie hält mir ihren Mantel hin, damit ich ihr helfen kann, hineinzuschlüpfen.

«Warum erzählst du mir solche Märchen?», fragt sie. «Jonas hat mir gesagt, dass du bei ihm wohnst, weil du gerade mittellos bist und quasi auf der Straße stehst. Dankt man seinem Bruder eine solche Großzügigkeit, indem man Lügen über ihn verbreitet?»

Mein schwerkrimineller Bruder brüstet sich damit, mich vor der Obdachlosigkeit zu bewahren. Jonas hat wirklich Nerven.

Es klingelt.

«Das wird mein Taxi sein», sagt Mutter und sortiert Schal und Halstuch.

«Schick es wieder weg», bitte ich. «Ich sage dir jetzt endgültig die Wahrheit: Jonas hat in der Bank ein paar klitzekleine Buchungsfehler gemacht. Deshalb ermittelt möglicherweise die Polizei gegen ihn. Und weil er seine Unschuld beweisen will, wird er die Weihnachtstage durcharbeiten.»

«Umso mehr braucht er meine Unterstützung», sagt sie prompt. Ihr Ton lässt keinen Zweifel darüber, dass sie auch diese Geschichte für eine glatte Lüge hält. Ich glaube ihr sogar anzumerken, dass sie nicht einmal eine Sekunde darüber nachgedacht hat, ob nicht vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit darin stecken könnte.

Es klingelt erneut. Mutter öffnet, und der Taxifahrer erscheint, um das Gepäck zu holen. Mit den Worten «Ich komme sofort» lässt sie ihn vorgehen. Sie schließt die Tür, nimmt aber die Hand nicht von der Klinke.

«Jakob, ich habe nicht erwartet, dass du mich begleitest», sagt sie. «Es war dir schon immer unangenehm, Hilfe von deiner eigenen Familie anzunehmen. Ich vermute, du hast eine dubiose Angst vor emotionaler Abhängigkeit. Aber was weiß ich schon? Ich bin ja nur deine Mutter und war außerdem fast vierzig Jahre mit einem der wichtigsten Psychologen des letzten Jahrhunderts verheiratet.»

Ich nutze ihre Atempause, um meine letzte Munition abzufeuern: «Glaub mir, Mutter! Jonas hat wirklich große Schwierigkeiten. Er musste untertauchen. Deshalb ist er nicht in Miami.»

Sie hört mir überhaupt nicht zu. «Aber du sollst wissen, dass ich das akzeptiere. Ich fände es zwar schön, wenn wir Weihnachten zu dritt verbringen könnten, aber die Dinge sind nun mal nicht immer so, wie man sich das vielleicht wünscht.»

«Jonas hat die Bank um viel Geld betrogen», fahre ich fort.

Sie reicht mir den Hausschlüssel. «Ich hab dein Bett frisch bezogen, und der Kühlschrank ist brechend voll. Als Jonas mich anrief, hatte ich schon alles eingekauft. Wenn du willst, dann kannst du gern noch ein paar Leute einladen. Es ist genug da.»

«Jonas wird wohl nicht mehr nach Deutschland zurückkehren, weil ihm hier mehrere Jahre Knast drohen», gebe ich noch zu Protokoll.

Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange. «Frohe Weihnachten, mein Sohn. Und lass nicht wieder überall die Lichter brennen.»

Sie öffnet die Tür, tippelt durch den Schnee zu dem wartenden Taxi und winkt noch einmal kurz. Ich winke mechanisch zurück und schaue dem davonfahrenden Wagen nach. Erst als das Gefährt längst außer Sichtweite ist, lasse ich den Arm sinken. Ich fühle mich betäubt, und das nicht nur der Kälte wegen. Hätte ich Mutter noch stärker davon abhalten müssen, diese Reise anzutreten?

Fröstelnd betrete ich das Haus und ziehe die Tür ins Schloss. Zugleich beschließe ich, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Vielleicht begreift Mutter ja auf diese Weise, dass Jonas nicht der ist, für den sie ihn hält. Außerdem ist sie eine robuste Natur. Ich gehe fest davon aus, dass die Wahrheit über ihren Sohn sie nur kurzzeitig aus der Bahn werfen wird. Vielleicht sitzt sie heute Abend in einem kleinen Hotelzimmer in Miami und bläst Trübsal. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie in das nächstbeste Luxushotel eincheckt, ihren Frust mit ein paar Cocktails herunterspült und sich danach ein Festessen und einige tröstliche Beautybehandlungen gönnt.

Bevor ich zu Jonas fahre, um meine Sachen zu holen, werfe ich einen Blick in den Kühlschrank. Mal sehen, ob das Angebot wirklich so üppig ist, dass ich Abel zum Essen einladen kann. Wenn ich ihn vorhin richtig verstanden habe, dann hat er heute Abend auch noch nichts vor. Und für mich wäre es eine gute Gelegenheit, ihm für seine anwaltliche Hilfe zu danken.

Als mir beim Öffnen des bis zum Platzen gefüllten Kühlschranks eine Trüffelsalami entgegenrollt, weiß ich, dass Mutter ausnahmsweise mal nicht übertrieben hat. Mit dem Angebot könnte man problemlos ein Luxusrestaurant eröffnen. Es gibt Austern, Kaviar, Krustentiere, verschiedene Braten und Pasteten, Geflügel, diverse feine Salate und außerdem edlen Käse für den gediegenen Ausklang des Abends. Ein kaltes Buffet der Superlative, das nur noch serviert werden muss. Mutter vermeidet es zwar seit Jahren, den Herd zu benutzen, lässt es sich aber an Weihnachten grundsätzlich nicht nehmen, die Lieferung ihres Feinkosthändlers eigenhändig anzurichten. Warum sie das macht, ist Jonas und mir bis heute ein Rätsel, weil sie sonst selbst für ihren Canasta-Abend eine Studentin engagiert, die Knabberzeug nachfüllt und Häppchen reicht.

Auf der Anrichte neben dem Kühlschrank finde ich außerdem diverse Brotsorten sowie eine ganz ansehnliche Weinauswahl. Abel kann also kommen. Ich beschließe, ihm einen Besuch abzustatten, sobald ich meine Sachen geholt habe.

Jonas’ Wohnung ist von der Polizei versiegelt worden. Ich zögere einen Moment, das Siegel zu brechen. Dass mir eine Geldstrafe blühen könnte, schreckt mich nicht, weil ich sowieso kein Geld habe. Aber kann man für so was eingebuchtet werden?

Ich komme zu dem Schluss, dass ich keine Wahl habe. Wenn ich Hauptkommissarin Kroll jetzt erzähle, dass ich meine Wäsche aus der Wohnung holen möchte, weil ich sonst nur das besitze, was ich am Leib trage, wird sie ganz bestimmt dafür sorgen, dass mein nächster Wäschewechsel erst im kommenden Jahr stattfindet. Und ich wüsste nicht, wer sonst mir an Heiligabend den gesetzeskonformen Zugang zu Jonas’ Loft ermöglichen könnte. Ich hoffe also für den schlimmsten Fall auf einen milden Richter, öffne die Tür und zerreiße dabei das behördliche Siegel. Wenn ich mich beeile und nicht in flagranti erwischt werde, stehen die Chancen bestimmt ganz gut, dass ich ungeschoren davonkomme.

Die SEK-Leute haben ganze Arbeit geleistet. Das Sofa sieht wie ein zerrupfter Riesenvogel aus. Vor dem Sideboard mit dem versenkbaren Plasmabildschirm liegen Filmhüllen und DVDs. Das Kaminholz gleich daneben ist ebenso auseinandergepflückt worden wie mein Gepäck. Nun liegen meine Klamotten verstreut zwischen allerlei Kram, den die Beamten aus irgendwelchen Ecken geholt und dann einfach achtlos hingeworfen haben. Während ich mein Hab und Gut einsammele, fällt mein Blick auf das großformatige Bild mit dem Mammut. Die Kugeln des nervösen Beamten haben das Tier direkt zwischen den Stoßzähnen erwischt. Saubere Arbeit.

Ich bin schon wieder auf dem Weg zum Ausgang, da denke ich: Falls ich gerade wirklich eine Haftstrafe riskiere, dann wäre es blöd, Jonas’ Wein dazulassen. Erstens gehört er mir sowieso, weil ich ihn geschenkt bekommen habe, und zweitens ist es für das Ermittlungsverfahren bestimmt völlig unerheblich, welchen Weingeschmack mein Bruder hat. Ich verstaue die verbliebenen fünf Flaschen also in meinem Gepäck und mache mich dann endgültig auf den Weg.

Als ich den Hausflur betrete, stehe ich plötzlich vor einer jungen Frau. Sie ist um die dreißig, schlank und dunkelblond. Offenbar hat sie auf mich gewartet. Ich sehe, dass unter ihrem braunen Zottelmantel schwarze Moonboots hervorlugen. Wahrscheinlich eine Kollegin von Hauptkommissarin Kroll. Die junge Polizistin hatte den Auftrag, mich zu observieren, und wird mich jetzt wegen Einbruchs in eine behördlich versiegelte Wohnung festnehmen. Wie konnte ich Idiot auch nur so blöd sein zu glauben, dass der Fall für Kroll mit meiner Entlassung abgeschlossen sein würde? Ich hätte ein luxuriöses Weihnachtsfest haben können. Jetzt lande ich stattdessen bestimmt in einer Zelle mit einem Soziopathen, der seine ganz speziellen Vorstellungen vom Fest der Liebe hat. Selbst schuld.

«Ist Herr Jakobi vielleicht da?», fragt die junge Frau mit leiser Stimme.

«Jonas Jakobi?» Ich bin überrascht.

«Das ist doch seine Wohnung», sagt sie. Es klingt eher wie eine Frage.

«Ja», erwidere ich und kombiniere, dass sie keine Polizistin sein kann, wenn sie nicht weiß, dass Jonas längst abgehauen ist.

«Er musste plötzlich verreisen», erkläre ich und füge vage hinzu: «Wird wohl für länger sein.»

«Verstehe», sagt sie gedehnt und überlegt.

Ich ziehe die Tür hinter mir ins Schloss, denn da ich nun wohl doch nicht verhaftet werde, würde ich mich gerne aus dem Staub machen, bevor ich mein Glück überstrapaziere.

«Sie sind sein Bruder, oder?» Diesmal klingt es eher wie eine Feststellung. «Ich finde, Sie sehen ihm sehr ähnlich.»

«Darf ich fragen, wer das wissen will?»

«Oh, Entschuldigung. Ich bin Hanna Kaufmann. Jonas und ich, wir kennen uns aus der Bank.» Sie wirkt verlegen.

«Sie sind mit ihm befreundet», rate ich.

«Wir …» Sie atmet tief durch. «Nein. Um ehrlich zu sein: Wir haben eine Affäre. Oder besser gesagt: Wir hatten.»

Schlagartig wird mir klar, dass ich vor der Frau des Vorstandsvorsitzenden stehe. Jonas’ Geliebte ist also keine Erfindung. Wobei sie nicht den Eindruck macht, eine Stalkerin zu sein. In dieser Hinsicht hat mein Bruder wahrscheinlich wieder mal übertrieben, um glaubhaft zu machen, dass er wegen dieser Frau das Land verlassen muss.

Egal, nicht mein Bier. Ich beschließe, sie abzuwimmeln. «Wie gesagt, mein Bruder ist nicht da. Ich habe gerade nur ein paar private Dinge aus der Wohnung geholt. Leider kann ich Ihnen also nicht helfen.»

Ich gehe an ihr vorbei, und weil ich nicht in ein Gespräch verwickelt werden will, während ich auf den Fahrstuhl warte, steuere ich die Treppe an.

«Sie wissen nicht zufällig, wo ich ihn finden kann?»

«Nein. Bedauere», lüge ich. «Er hat seine Zelte hier komplett abgebrochen. Ich glaube, er will eine Weltreise machen oder so.»

«Er hat Probleme, nicht wahr?» Sie sagt es schnell und leise.

«Keine Ahnung. Das müssen Sie ihn schon selbst fragen.»

«Würde ich ja gern, aber ich kann ihn nicht erreichen.»

Kein Wunder. Jonas’ Handy hat die Polizei einkassiert. Er war natürlich klug genug, es nicht mitzunehmen.

Ich ziehe die Schultern hoch. «Wie gesagt: Tut mir leid.»

Ich wende mich wieder ab, doch sie will mich noch nicht gehen lassen. «Sie könnten ihm nicht zufällig eine Nachricht übermitteln?» In ihren Augen ist Verzweiflung zu sehen. «Es würde mir viel bedeuten. Sehr viel.»

«Ich habe auch gerade keinen Kontakt zu ihm», sage ich. «Aber falls er anruft, kann ich ihm selbstverständlich etwas ausrichten. Ich weiß nur nicht, wann das sein wird. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob er mich überhaupt anruft.»

«Sie scheinen meine einzige Chance zu sein», stellt sie fest und lächelt unsicher. Sie hat ein hübsches Lächeln. «Also muss ich es wohl darauf ankommen lassen, oder?»

«Okay. Was soll ich ihm denn ausrichten?»

«Dass ich schwanger bin.»

Mein Bruder sammelt also gerade Probleme wie andere Leute Rabattmarken, denke ich.

«Ich erwarte nichts von Jonas, nur damit das klar ist», fährt sie fort. «Überhaupt gar nichts. Ich spekuliere nicht einmal darauf, dass er sich meldet. Aber er soll wissen, dass er Vater wird. Ich möchte mir später nicht vorwerfen lassen, dass ich es ihm verschwiegen habe.»

Ich bin erstaunt, dass sie so ruhig bleibt. Was wird nun aus ihrer Ehe? Kann ihr Mann damit leben, dass seine Frau ein Kind von einem Angestellten erwartet, der obendrein die Bank ausgeplündert hat? Oder wird sie sich scheiden lassen und das Kind allein aufziehen?

Ich könnte sie fragen, aber ich will nicht unhöflich sein. Die Sache geht mich nichts an. Ich nicke also und sage: «Ich werde es Jonas ausrichten, falls er sich meldet. Das verspreche ich Ihnen.»

«Danke», erwidert sie, fischt glücklich eine Visitenkarte aus ihrem Mantel und reicht sie mir.

Ich werfe einen flüchtigen Blick darauf. Es ist ihre Geschäftskarte.

«Assistentin?», lese ich verwundert.

«Ja. Ich bin seine Assistentin.»

Interessant. «Und Sie sind nicht verheiratet, schätze ich.»

«Nein.» Sie schüttelt den Kopf, dann stutzt sie. «Aber ich habe Jonas gleich zu Beginn unserer Liaison gesagt, dass ich seine Ehe nicht gefährden werde, falls Sie darauf anspielen. Ich weiß, dass er mit Annabel seine Jugendliebe geheiratet hat. Und ich weiß auch, dass sie sehr lange gelitten hat, weil sie keine Kinder bekommen kann, wegen dieses verdammten Gendefekts, den niemand erforscht, weil er so selten vorkommt.»

Annabel? Jugendliebe? Gendefekt? Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass mein Bruder nicht einmal davor zurückschreckt, sich eine persönliche Tragödie anzudichten, nur um seine Assistentin ins Bett zu kriegen.

«Ja, schlimme Geschichte», sage ich und mache ein ernstes Gesicht. Das hier ist weder der passende Ort noch der richtige Moment, um Hanna reinen Wein einzuschenken. Außerdem soll Jonas das machen, schließlich geht es um seine Exgeliebte und sein Kind.

«Danke, das Sie mir helfen», sagt sie und vergräbt die Hände in ihren Manteltaschen. Sie wirkt allein und ein bisschen verloren.

Ich frage mich, ob sie jemanden hat, mit dem sie den heutigen Abend verbringen wird. Ich lege zwar überhaupt keinen Wert darauf, mich um Jonas’ schwangere Exfreundin zu kümmern, könnte es aber auch nicht verantworten, wenn sie Weihnachten mutterseelenallein feiern müsste. Falls es also in ihrem Leben wirklich niemanden gibt, außer einem steckbrieflich gesuchten Kriminellen, der gerade in der Karibik hockt, werde ich ihr zumindest anbieten, heute mein Gast zu sein.

«Haben Sie eigentlich Verwandte?», frage ich.

Sie nickt. «Ich fahre gleich nach Hamburg. Die Feiertage verbringe ich immer bei meinen Eltern.»

«Das freut mich», erwidere ich und verberge meine Erleichterung.

Sie zögert einen Moment. «Ich frage mich nur, ob ich den beiden von der Schwangerschaft erzählen sollte, oder lieber nicht.»

Das muss sie schon selbst entscheiden, denke ich und schweige.

«Soll ich?», fragt sie.

«Was spräche denn dagegen?», entgegne ich diplomatisch.

«Die Umstände sind nicht gerade … ideal», antwortet sie.

«Wieso das nicht? Sie können Ihren Eltern zwar keinen Schwiegersohn präsentieren, aber immerhin ein Enkelkind. Das ist doch was.»

Sie lächelt. «Stimmt. So kann man es auch sehen.»

«Weihnachten ist das Fest der Liebe», füge ich hinzu. «Ein guter Moment, um Ihren Eltern zu sagen, dass sie Großeltern werden. Und was die Sache mit Jonas betrifft. Wer weiß, vielleicht ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.» Ich beiße mir auf die Unterlippe, weil ich mich gerade definitiv zu weit aus dem Fenster gelehnt habe. Vielleicht merkt sie es nicht, denke ich.

«Meinen Sie wirklich?», hakt sie hoffnungsfroh ein.

Ich seufze. «Keine Ahnung. Fahren Sie nach Hamburg, denken Sie in Ruhe über alles nach, sprechen Sie mit Ihren Eltern und genießen Sie die Feiertage. Alles Weitere wird sich zeigen. Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten.»

«Ja. Frohe Weihnachten», sagt sie mit einem nachdenklichen Nicken.

Auf dem Heimweg frage ich mich, wie Jonas wohl reagieren wird, wenn er hört, dass Hanna ein Kind von ihm erwartet. Wenn ich früher über mein Leben nachgedacht habe, dann schien es mir selbstverständlich, dass ich eines Tages eine Familie haben würde. Anders bei Jonas. Er war in meiner Vorstellung immer der ewige Sonnyboy. Man kann ihn sich als älteren Mann mit gefärbten Haaren und zwei blutjungen Frauen im Schlepptau vorstellen, nicht aber als verantwortungsvollen Familienvater, der brav Elternabende besucht und am Wochenende mit seiner Familie ins Grüne fährt. Jetzt wird er Vater, während mein jüngster Versuch eines bürgerlichen Lebens gerade spektakulär gescheitert ist.

Das Zischen der U-Bahn-Türen reißt mich aus meinen Gedanken.

Abel Baumann betritt den Waggon, und dabei fällt mir siedend heiß ein, dass ich über das Gespräch mit Hanna den geplanten Besuch bei ihm vergessen habe. Er setzt sich neben mich.

«Was für ein Zufall», sagt er, ohne im mindesten überrascht zu sein.

«Weißt du etwa, dass ich dich für heute Abend zum Essen einladen will?», frage ich verblüfft.

«Woher soll ich das wissen?», erwidert Abel. «Glaubst du etwa, ich kann Gedanken lesen oder was? Aber das passt mir ganz gut. Rein zufällig habe ich noch nichts vor und könnte gleich mitkommen.» Er grinst.

Ich muss ebenfalls grinsen. Heiligabend, später Nachmittag. Ich habe Wein, ich habe saubere Wäsche, und ich bin auf dem Weg zu einem Gourmetessen. Außerdem werde ich den Abend in Gesellschaft eines Mannes verbringen, der behauptet, Gott zu sein. Nach menschlichem Ermessen kann das zwar nicht stimmen, aber es ist trotzdem eine schöne Vorstellung.