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Gottes Wunder

Ich warte aus Gründen der Selbstdisziplin bis zum Abend, bevor ich mir ein Glas Wein gönne. Glücklicherweise wird es im Winter früh dunkel.

Ich vermute, Jonas hat mir den einen oder anderen mittelprächtigen Tropfen dagelassen. Wahrscheinlich gehören die Flaschen zur Sorte jener undankbaren Mitbringsel, die man zwar irgendwie zu schade zum Wegkippen findet, aber lieber auch nicht selbst trinken möchte. Da ich in meiner momentanen Situation nicht wählerisch sein kann, hoffe ich das Beste und werfe einen optimistischen Blick auf das Angebot. Ich bin perplex, denn meine Vermutung entpuppt sich als kompletter Irrtum. Im Regal warten sechs stattliche Flaschen Bordeaux darauf, standesgemäß geköpft zu werden. Und wenn ich richtigliege, dann ist keine einzige dabei, für die man nicht tief in die Tasche greifen müsste. Ich schnappe mir erfreut einen Pomerol und finde nach kurzem Suchen Rotweinkelche und einen Dekanter, an dem noch das Preisschild baumelt. Mein Bruder ist wirklich ein Snob. Während der Wein atmet, flaniere ich durch die Wohnung und stelle dabei eher zufällig fest, dass sich in dem Sideboard neben dem Kamin ein versenkbarer Plasmabildschirm befindet.

Ich versorge mich mit Wein und zappe durch die Programme. Der Pomerol schmeckt göttlich. Im Fernsehen läuft das Vorweihnachtsprogramm, ein knallbuntes Potpourri aus Messen, Weltnachrichten, Weihnachtsliedern, Verkehrsdurchsagen, Bibelfilmen, Blitzeiswarnungen, Kindersendungen und jeder Menge Tipps rund um die anstehenden Feiertage. Wer immer noch nicht weiß, was er Weihnachten kochen, schenken oder singen soll, der kann es hier erfahren. Nach zehn Minuten Fernsehen fühle ich mich benebelt, obwohl ich erst zwei Schlucke Pomerol intus habe. Ich muss an Abels Worte denken: Dass der Mensch nie weiß, wann er genug hat. Ich glaube, da ist was dran, denn anders kann ich mir den hektischen und vollkommen überzogenen Quatsch, der auf allen Kanälen veranstaltet wird, beim besten Willen nicht erklären.

Mein Handy klingelt. Ich würde es gern ignorieren, aber nach diesem Klingeln wird es gleich noch mal klingeln, weil es mir signalisieren möchte, dass jemand auf die Mailbox gesprochen hat. Und dann wird es wieder klingeln, weil es mich an die Mailboxansage erinnern möchte. Und das tut es dann aus dem gleichen Grund eine Minute später noch einmal. All das finde ich dermaßen nervtötend, dass ich lieber gleich rangehe. «Jakobi.»

«Was machst du gerade?», fragt Abel.

«Nichts Besonderes. Warum?»

«Du wolltest doch über meine Therapie nachdenken. Ich dachte, du hast vielleicht eine Frage oder so. Ich will nämlich gleich ins Kino, und wenn ich einen Film sehe, höre ich nicht, was sonst noch in der Welt passiert.»

«Was schaust du dir an?», frage ich.

«Irgendeine Komödie», sagt Abel sonnig. «Du weißt doch, in Filmen werden alle Rätsel des Lebens gelöst. Na? Wer hat es gesagt?»

«Keine Ahnung.»

«Steve Martin in Grand Canyon

«Und? Hast du alle Rätsel des Lebens gelöst?»

Er lacht. «Was ist jetzt? Kann ich dir irgendwie behilflich sein?»

«Nein. Geh ruhig ins Kino. Viel Spaß.»

«Danke.»

Ich taste nach meinem Pomerol und nehme ein Schlückchen. Ein solcher Wein kann einem wirklich helfen, an ein höheres Wesen zu glauben, denke ich und merke zugleich, dass ich hundemüde bin. Vorsichtig stelle ich den Wein zurück, atme erneut tief durch und nicke auf der Stelle ein.

Der ebenso dezente wie melodische Klang der Türglocke reißt mich aus einem traumlosen Schlaf. Es ist stockfinster draußen, ich muss also mehrere Stunden geschlafen haben. An den Bodenleisten des Lofts leuchten kleine, bläulich schimmernde Lampen. Sie scheinen bei Dunkelheit automatisch anzugehen und sollen wohl die Bewohner davor bewahren, sich nachts zu verlaufen. Das schummrige Licht lässt den Flur wie die Gangway eines UFOs aussehen.

Wieder die Türglocke. Ich krame mein Handy hervor. Halb zwei. Wer will denn um diese Zeit meinen Bruder sprechen? Ich bin noch nicht ganz wach, deshalb brauche ich eine Weile für den Gedanken: Es ist Jonas’ Geliebte! Er hat heute Mittag noch prophezeit, dass sie ihm wahrscheinlich nachstellen wird. Eine Klette hat er sie genannt, und wenn ich mir vor Augen führe, wie spät es jetzt ist, dann kann ich das nur unterschreiben.

Zum dritten Mal die Türglocke. Ich beschließe, einfach nicht zu reagieren. In der Wohnung ist es still, und ich habe kein Licht angemacht. Wenn ich mich also weiterhin ruhig verhalte, wird Jonas’ enttäuschte Geliebte irgendwann aufgeben und sich trollen.

Stille. Ich frage mich, wie sie wohl aussehen mag. Mein Bruder hat ein Faible für große, superschlanke Frauen, gazellenartige Models, neben denen ein normal gebauter Mann wie der Koloss von Rhodos aussieht. Ob die Frau des Vorstandsvorsitzenden seinem Beuteschema entspricht?

Noch mal die Türglocke, diesmal nur kurz. Es scheint, als würde die verschmähte Geliebte langsam aufgeben. Mir fällt ein, dass ich mittels der Überwachungskamera einen unbemerkten Blick auf sie riskieren könnte, wenn ich denn wollte. Aber will ich das?

Schließlich siegt meine Neugier. Leise schleiche ich durch den Flur, aktiviere das Display am Eingang und sehe … nichts. Vor dem Haus ist lediglich ein leerer, nächtlicher Bürgersteig zu erkennen. Konzentriert betrachte ich das Display und stelle fest, dass man mehrere Perspektiven wählen kann, unter anderem eine, die zeigt, wer unmittelbar vor der Wohnungstür steht. Hat Jonas’ Verfolgerin es etwa irgendwie ins Haus geschafft? Und obendrein mitten in der Nacht? Beunruhigt drücke ich den entsprechenden Knopf.

Ich erstarre. Im Display ist das fleischige Gesicht einer düster dreinblickenden Mittvierzigerin zu sehen, die obendrein einen gewaltbereiten Eindruck macht. Man sieht, dass sie gerade ihren Arm bewegt, dann ertönt wieder die Türglocke. Ich zucke zusammen. Die Frau vor der Tür erinnert nicht mal von ferne an Jonas’ bisherige Magermodel-Freundinnen. Sie wirkt eher wie eine osteuropäische Hammerwerferin. Neben ihm dürfte sie wie der Koloss von Rhodos aussehen. Kein Wunder, dass mein Bruder bei Nacht und Nebel vor dieser Naturgewalt das Weite gesucht hat. So ähnlich werde ich es jetzt auch machen und mich absolut still verhalten, bis sie gegangen ist.

Ich verharre und fixiere das Display. Die Frau vor der Tür schaut starr in die Kamera. Man könnte meinen, wir würden uns ansehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit lässt sie ihre massigen Schultern sinken und wendet sich ab. Erleichtert atme ich vorsichtig aus. In diesem Moment hält sie inne und dreht sich noch einmal um. Ihr Blick ist nun forschend, er scheint mich förmlich zu durchdringen. Sieht aus, als würde sie sagen wollen: Ich weiß, dass du da bist. Ich kann es fühlen. Ich kann deinen Atem spüren.

Plötzlich haben ihre Augen einen entschlossenen Ausdruck. Sie wendet sich ab und verschwindet aus dem Blickfeld der Kamera. Ich will schon aufatmen, da sehe ich dunkle Schemen über den Hausflur huschen. Im nächsten Moment ist das Krachen und Splittern von Holz zu hören. Die Eingangstür fliegt mir entgegen und schleudert mich gegen die Garderobenwand, wo ein einsamer Mantel meinen Aufprall nur unwesentlich abmildert. Im gleichen Moment schießt mir ein Schwall Blut aus der Nase, während vier schwarz vermummte und schwerbewaffnete SEK-Männer in die Wohnung stürmen und sie rasch zu durchsuchen beginnen.

Dann taucht auch Jonas’ vermeintliche Geliebte auf. Sie schreitet gelassen durch die geborstene Eingangstür, sieht mein lädiertes Gesicht und zieht ein Funkgerät hervor. «Alles klar. Wir haben ihn. Er lebt, hat aber ein bisschen was auf die Nase gekriegt. Schickt den Arzt hoch. Danke. Ende.»

Nebenan ist eine Maschinengewehrsalve zu hören. Dann taucht einer der SEK-Beamten auf und wirft der Frau meine Reisetasche und den Kleiderbeutel vor die Füße.

«Die Wohnung ist sauber», sagt er zu ihr und wendet sich danach an mich: «Entschuldigung, einer meiner Männer ist heute etwas nervös, weil er bald Vater wird. Er hat aus Versehen auf Ihr Mammut geschossen.»

Ich signalisiere mit einem Nicken, dass ich es nicht krummnehme.

Die Frau deutet auf mein Gepäck. «Wollten Sie etwa verreisen?», fragt sie süffisant, zieht einen Ausweis hervor und hält ihn in die Höhe. «Jutta Kroll, Hauptkommissarin. Ich leite diesen Fall.» Sie greift erneut in ihre Tasche und zeigt mir ein Schreiben, bevor sie es auf die Anrichte legt. «Das ist der Durchsuchungsbeschluss. Wir interessieren uns nur für Papiere und Bargeld. Möchten Sie kooperieren?»

Ich schüttele andeutungsweise den Kopf, weil ich gerade damit beschäftigt bin, nicht an meinem eigenen Blut zu ersticken.

«Habe ich mir fast gedacht», erwidert Hauptkommissarin Kroll. «Wie dem auch sei, Sie müssen sowieso mitkommen.» Sie zieht ein weiteres Blatt Papier aus der Tasche und liest vor: «Jonas Jakobi, ich verhafte Sie hiermit wegen Urkundenfälschung, Untreue, Betrug, Kursmanipulation, Bilanzfälschung und Einbruch in bankinterne Informationssysteme zwecks Abwicklung unautorisierter Handelsgeschäfte.»

Ich muss laut lachen. Dann wird mir schwarz vor Augen.

Ich erwache in einem Krankenwagen und erkenne den schlaksigen Typen wieder, der mich um Haaresbreite bei meiner letzten Nasen-OP ins Jenseits befördert hätte. Dr. Kessels, wenn ich mich recht entsinne.

«Wie spät ist es?», will ich wissen.

«So gegen halb drei», antwortet er. «Sie waren nur kurz ohnmächtig. Wie fühlen Sie sich?»

«Okay», sage ich und versuche zu ertasten, ob meine Nase noch an ihrem Platz ist. Dabei spüre ich, dass der Arzt mir Tampons in die Nasenlöcher gestopft hat.

«Sieht schlimmer aus, als es ist. Diesmal hat Ihre Nase ausnahmsweise mal nichts abgekriegt. Ich vermute, der Schreck hat die Blutung ausgelöst. Nur ein paar geplatzte Äderchen. Wollen Sie trotzdem eine Schmerztablette?»

«Haben Sie mir die noch nicht weggenommen?», frage ich.

Er lacht und schüttelt den Kopf. «Nein, ich hab jetzt wieder Amphetamine. Die sind sowieso besser als Analgetika. Deshalb können Sie so viel Schmerzmittel haben, wie Sie wollen. Möchten Sie?»

«Danke, nein. Wo bringen Sie mich eigentlich hin?», frage ich.

«Aufs Präsidium. Die Kommissarin will Sie dringend sprechen.»

Ich verziehe widerwillig das Gesicht.

«Was haben Sie denn ausgefressen?», fragt er.

«Nichts», erwidere ich im Brustton der Überzeugung.

Er lacht. «Das kenne ich. Dann brauchen Sie folgende drei Sätze: Daran kann ich mich leider nicht erinnern. Das ist mir nicht bekannt. Und: Hierzu möchte ich mich nicht äußern.»

«Danke. Werde ich mir merken», sage ich.

«Und lassen Sie sich nicht in die Enge treiben», rät er. «Diese Kroll sieht nicht nur aus wie ein Profi-Wrestler, die hat auch schon einige schwere Jungs auf die Matte geschickt, hab ich mir sagen lassen.»

Das Verhörzimmer ist karg möbliert. Ein Tisch, zwei Stühle, in der Ecke ein einsamer Farn. An der Wand hängt eine Karte von Berlin, daneben eine überdimensionale Wanduhr, deren lautes Ticken die Stille zerhackt. Ich bin sicher, man hat das Modell bewusst gewählt, um die Wartenden zu zermürben. Mich persönlich zermürbt das Klacken des Sekundenzeigers kein bisschen. Mein Elternhaus war voll von solchen Uhren, denn Bartholomäus Jakobi war zwar ein Trinker, aber einer von der pünktlichen Sorte.

Ein junger Beamter hat Kaffee und Wasser gebracht. Ich sitze da mit meinen Tampons in den Nasenlöchern und sehe wahrscheinlich aus wie das Warzenschwein Pumbaa aus dem König der Löwen. Die Tür geht auf, und Hauptkommissarin Kroll erscheint. Müsste man ihr ebenfalls ein Tier zuordnen, wäre es wohl der Yeti. Oder Chewbacca aus Krieg der Sterne.

Sie pfeffert meinen Pass auf den Tisch und baut sich vor mir auf. «Sie sind nicht Jonas Jakobi. Sondern sein Bruder Jakob.»

«Sie sollten bei der Polizei anfangen», erwidere ich. «Ich glaube, Sie haben einen ausgeprägten detektivischen Spürsinn.»

«Hey! Ein Witzbold!», ruft sie theatralisch und lässt sich auf den Stuhl fallen. Das Möbelstück ächzt unter der Last ihres Körpers. «Keine Sorge. Ihnen wird das Lachen hier ganz schnell vergehen. Das verspreche ich Ihnen.»

Zwei Stunden später ist mir das Lachen immer noch nicht vergangen. Ich weiß inzwischen, dass mein Bruder mit seinen Spekulationsgeschäften die märchenhafte Summe von drei Milliarden Euro verzockt hat. Damit gehört er zu den Topkriminellen des Casinokapitalismus, weshalb damit zu rechnen ist, dass er nach einer moderaten Haftzeit von vier bis sechs Jahren mit Büchern, Filmen und Vortragsreisen eine Menge Geld verdienen wird. Es wäre sogar denkbar, dass ihm Letzteres gelingt, ohne zuvor in den Knast zu wandern, wenn er es heute schafft, Hauptkommissarin Chewbacca zu entwischen. Kuba liefert gewöhnlich nicht aus, und falls Jonas clever genug war, wenigstens ein paar Hunderttausend Euro von dem vielen Geld für sich selbst abzuzwacken, dann dürfte es locker für einen Neustart in der Karibik reichen. Ich gönne es ihm. Und ich werde mein Bestes tun, ihm die Flucht zu ermöglichen. Irgendwie ist mir ein Betrüger als Bruder fast lieber, als es jener Musterknabe war, den Jonas uns immer vorgespielt hat.

Die vergangenen zwei Stunden sind auch an der Kommissarin nicht spurlos vorübergegangen. Sie lässt zum wiederholten Male neuen Kaffee kommen, während sie sich mit den Fingerspitzen die Schläfen massiert.

«Sie sollten sich eine Weile hinlegen», sage ich. «Sie sehen müde aus.»

Sie hält inne und blickt mich verächtlich an. «Ich weiß, dass Ihr Bruder Europa noch nicht verlassen hat. So was habe ich im Gefühl. Und ich weiß auch, dass Sie mir sagen können, welchen Flug er gebucht hat.»

«Wer sagt überhaupt, dass er fliegen will?», antworte ich.

«Will er denn?», fragt sie lauernd.

Ich lächle nachsichtig. «Ich plaudere hier mit Ihnen aus lauter Freundlichkeit», sage ich und fahre mit gespielter Strenge fort: «Wenn Sie mir ständig blöd kommen, dann verweigere ich die Aussage. Rechtlich gesehen darf ich das. Es handelt sich ja schließlich um meinen Bruder.»

Sie beugt sich vor. «Glauben Sie wirklich, dass Sie so einfach davonkommen würden? Ich krieg Sie dran wegen Beihilfe.»

Es klopft. Ein älterer Mann in Zivil steckt den Kopf durch die Tür. «Jutta, kannst du mal bitte kommen? Wir haben da was.»

Kroll überlegt einen Moment, dann sagt sie: «Nur zu. Wir haben schließlich vor Herrn Dr. Jakobi nichts zu verbergen.»

Der Beamte tritt ein. Ich ahne nichts Gutes.

«Wir haben das Passwort für den Computer von Jonas Jakobi geknackt. Er wollte eine Bahnreise buchen für heute Nacht, hat die Buchung aber abgebrochen.»

«Interessant», sagt Kroll. «Wo sollte es denn hingehen?»

«Paris. Flughafen Charles-de-Gaulle.»

Die Kommissarin mustert mich. «Stimmt das mit Ihren Informationen überein, Dr. Jakobi?»

Ich blicke instinktiv zur Uhr. Kurz vor fünf. Noch eineinhalb Stunden bis zu Jonas’ Abflug. Kann also nicht schaden, wenn die Soko erst mal in Paris nach ihm sucht. Kroll folgt meinem Blick und scheint zufrieden mit der Reaktion.

«Wir überprüfen alle Flüge nach Übersee, die in den kommenden drei Stunden starten», ordnet sie an, schnappt sich ihre Tasse und ist im nächsten Moment mit dem Kollegen durch die Tür verschwunden.

Ich kann mir ein müdes, aber zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Mein Bruder hat doch tatsächlich die großartige Idee gehabt, eine falsche Fährte zu legen. Eigentlich sollte man von einem Topbetrüger nichts anderes erwarten, aber ich bin dennoch beeindruckt. Fragt sich jetzt nur, ob seine Finte die Polizei lange genug beschäftigt.

Leider bringt uns der Umweg über Paris nur eine knappe halbe Stunde, dann sitzt Hauptkommissarin Kroll schon wieder vor meinem Tisch. Ihre Kollegen haben die Passagierlisten in Paris überprüft und nichts gefunden. Auch der Computerabgleich des Fahndungsfotos mit den Bildern der Überwachungskameras hat ergeben, dass Jonas in den letzten zwölf Stunden den Flughafen Charles-de-Gaulle nicht betreten hat.

Daraus schließt die Kommissarin messerscharf, dass sie von Jonas reingelegt worden ist. Und sie hat noch eine Theorie: Wenn man links antäuscht, dann will man wahrscheinlich in die rechte Ecke schießen. Kroll glaubt deshalb, dass Jonas Paris als Köder ausgelegt hat, weil er sich in die entgegengesetzte Richtung vom Acker machen will. Also liegt der gesuchte Flughafen ihrer Überzeugung nach in Osteuropa. Von Berlin aus gesehen kommen da ihrer Meinung nach nicht allzu viele große Flughäfen in Betracht. Fragt sich nur, ob Jonas vielleicht einen kleineren Flughafen angesteuert hat und/oder ob er vielleicht mit falschen Papieren reist.

Die Details beiseitegelassen, kommt die Kommissarin mit ihren Vermutungen der Wahrheit bedenklich nahe. Mir wird mulmig zumute.

Es klopft, dann öffnet sich die Tür. Ich erstarre. Der Besucher ist Abel Baumann. Er trägt einen gutsitzenden, offenbar teuren Anzug und hat einen schwarzen Diplomatenkoffer dabei.

«Wer sind Sie?», fragt Kroll brüsk. «Und was machen Sie hier?»

Abel zieht eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines edlen Sakkos und reicht ihr das Stück Papier. «Ich möchte bitte mit meinem Mandanten alleine sprechen.»

Die Kommissarin nimmt die Karte und nickt wenig begeistert. Dann verlässt sie den Raum mit den Worten: «Zehn Minuten. Und erklären Sie ihm, wie ernst die Lage ist.»

Kaum ist die Tür geschlossen, da legt Abel seinen Zeigefinger an die Lippen und bedeutet mir, mich zu setzen. Er zieht einen Zettel hervor und schiebt ihn über den Tisch. Ich lese: Die hören mit. Also sei vorsichtig, was du jetzt erzählst!

Während ich den Zettel studiere, sagt Abel betont entspannt: «Schön, Jakob. Freut mich, dich zu sehen. Dann wären wir ja jetzt unter uns.»

Ich nicke und erwidere: «Gut, dass du da bist. Die löchern mich schon seit Stunden. Ich weiß gar nicht, was die von mir wollen, es geht doch hier nicht um mich, sondern um meinen Bruder.»

Abel nickt zufrieden und bedeutet mir mit einem Zwinkern, dass wir auf dem richtigen Weg sind. «Das schon, aber die glauben natürlich, dass du weißt, wohin er sich absetzen will.»

«Das weiß ich ja auch», erwidere ich. «Aber das muss ich denen ja nicht auf die Nase binden, oder?»

«Nein. Es könnte dir zwar Scherereien ersparen und sich für deinen Bruder strafmildernd auswirken, aber es ist dein gutes Recht, die Klappe zu halten. Außerdem müsste ich sowieso vorher mit denen reden, falls du …»

«Nein. Ich will Jonas nicht verpfeifen», unterbreche ich und schaue zur Uhr. Viertel vor fünf. Wenn die Polizei noch mal eine halbe Stunde Zeit verliert, dann ist Jonas so gut wie weg.

«Kann ich verstehen», erwidert Abel. «Dann verweigerst du ab jetzt bitte einfach die Aussage, und ich beeile mich, dich hier so schnell wie möglich rauszuholen.» Er steht auf.

«Warte mal. Was wird denn juristisch aller Wahrscheinlichkeit nach auf mich zukommen?», frage ich und kritzele nebenbei auf Abels Zettel: Wir brauchen noch eine halbe Stunde.

Abel nimmt das Stück Papier, nickt und legt es sorgfältig in seinen Diplomatenkoffer. «Das kann ich dir nicht so genau sagen, Jakob. Die Angelegenheit hat ja auch eine politische Dimension. Diese Hauptkommissarin Kroll wird sicher nicht gut auf dich zu sprechen sein, wenn du ihren Fahndungserfolg zunichtemachst. Im Zweifelsfall wird sie versuchen, dich wegen Beihilfe dranzukriegen, vermute ich.»

«Ja. Das hat sie schon gesagt», merke ich an.

«Das sagen die immer», erwidert Abel. «Heißt aber noch lange nicht, dass sie damit auch durchkommen.»

Ich schaue auf die Uhr. Abel folgt meinem Blick.

«Wenn du willst, dann verhandele ich mit ihnen.» Vielsagend fügt er hinzu: «Könnte aber eine Viertelstunde dauern. Vielleicht sogar länger.»

Ich nicke. «Gut. Fragen kostet ja nichts.»

Abel braucht leider keine zehn Minuten, um von der Kommissarin garantiert zu bekommen, dass ich straffrei ausgehe, wenn ich plaudere.

Es ist kurz vor sechs, als ich vorgebe, zähneknirschend meinen Bruder zu verraten: «Jonas wollte wirklich nach Paris. Aber nicht, um von dort aus zu fliegen. Er hat in Paris den Zug nach Marseille genommen. Er will sich mit einem Schiff nach Nordafrika absetzen.»

Kroll wirkt genervt. «Nordafrika ist groß. Wo genau will er denn da hin?»

«Keine Ahnung», erwidere ich. «Er klang nicht sehr wählerisch.»

«Und könnte es obendrein sein, dass er irgendwo als blinder Passagier an Bord geht und die Passage cash bezahlt?», fragt Kroll schnippisch. «Auf diese Weise wäre er dann auch auf keiner Passagierliste zu finden.»

«Was weiß denn ich?», gebe ich unwirsch zu Protokoll. «Ja. Möglich.»

Der Blick der Kommissarin durchbohrt mich. «Wenn Sie mir hier Mist erzählen, dann buchte ich Sie für lange Zeit ein. Das schwöre ich Ihnen.»

Ich zeige mein schönstes Pokerface.

«Wann wollte er denn weg?», will Kroll wissen.

«Ich denke mal, heute Morgen.»

Sie merkt, dass es keinen Sinn hat, mich noch länger auszuquetschen, und wendet sich ab mit den Worten: «Wir müssen sämtliche Schiffe, die heute Morgen in Marseille mit Ziel Nordafrika ablegen, filzen.»

«Aber das ist Wahnsinn», höre ich einen ihrer Kollegen sagen, bevor sich die Tür schließt.

Abel sieht mich an und nickt fast unmerklich. Es ist ein anerkennendes Nicken. «Ich versuche uns noch mal einen frischen Kaffee zu besorgen», sagt er aufgeräumt.

Zehn Minuten später sitzen wir entspannt beisammen und warten darauf, dass Kroll zwar Jonas in Marseille nicht findet, mich aber trotzdem laufen lassen muss, weil sie mir nicht beweisen kann, dass ich sie angelogen habe. Zu diesem Zeitpunkt sind es nur noch sieben Minuten, bis mein Bruder über alle Berge ist.

Plötzlich fliegt die Tür auf. Kroll und ein Kollege, das Handy am Ohr, stürmen ins Zimmer. Vor Schreck verschütte ich meinen Kaffee.

«Wir wissen, dass es Prag ist. Und wir wissen, dass er falsche Papiere hat», bellt sie. «Eine Überwachungskamera hat ihn heute Morgen gefilmt, aber er taucht auf keiner Passagierliste auf. Unter welchem Namen reist er?»

Da ich wirklich keine Ahnung habe, zucke ich mit den Schultern.

«Dann sagen Sie mir jetzt, welche Maschine es ist.»

Sie sieht mein bestürztes Gesicht und wiederholt: «Welche Maschine?»

Sie beugt sich über den Schreibtisch und schiebt dabei Abels Koffer zur Seite, der zwar herunterfällt, aber von Abel geistesgegenwärtig aufgefangen wird. Da der Koffer nicht verschlossen war, fallen zwei Kugelschreiber und ein kleines Blatt Papier heraus. Es segelt zu Boden. Bevor Abel es einsammeln kann, ist für einen kurzen Moment meine Notiz von vorhin zu sehen: Wir brauchen noch eine halbe Stunde.

Kroll starrt auf den Zettel, dann sieht sie mich an. Ein ebenso triumphierender wie hasserfüllter Blick. Ich muss schlucken. Sie schaut zur Uhr, dann zu Abel. Dann schließt sie die Augen und rechnet fieberhaft.

«Es ist eine Maschine, die in den nächsten zehn Minuten abhebt», sagt sie zu ihrem Kollegen, der nun leise in sein Handy spricht.

«Der Kollege in Prag sagt, dass zwei Maschinen auf der Startbahn stehen, die beide passen könnten. Eine nach Mexiko, eine nach Kuba. Sechs Uhr zwanzig, und drei Minuten später.»

«Sie sollen beide Maschinen aufhalten», ordnet Kroll an. Sie sieht mir dabei direkt in die Augen. Ich weiß nicht, ob sie erkennen kann, wie bitter mir diese Niederlage schmeckt. Zwei Minuten hätten wir noch gebraucht, vielleicht drei. Mehr nicht. Drei verdammte Minuten.

Krolls Kollege nimmt das Handy vom Ohr. «Der Kollege in Prag sagt, er stoppt die Maschinen nicht auf gut Glück. Sie sollen den betreffende Flug nennen, sonst kriegen beide Maschinen Starterlaubnis.»

Ich spüre Hoffnung in mir aufkeimen. Kroll sieht mir immer noch in die Augen. «Mexiko oder Kuba?», fragt sie drohend.

Ich blicke zu Abel, der mir aufmunternd zunickt. Schön, dass er mir vertraut, aber gerade geht mir der Arsch mächtig auf Grundeis.

«Mexiko oder Kuba», wiederholt Kroll nachdrücklich.

«Du musst jetzt auf dein Bauchgefühl hören.» Ich schaue ihn an und weiß gerade nicht, ob er das wirklich gesagt hat. Ich habe jedenfalls nicht gesehen, dass sich seine Lippen bewegt haben.

Ich blicke der Kommissarin in die Augen und versuche zu ergründen, was in ihr vorgeht. Ich muss auf mein Bauchgefühl hören, denke ich. Sekunden, die mir wie Minuten vorkommen, dann lese ich in ihrem Gesicht das Wort: Lüge. Und im gleichen Moment weiß ich, was zu tun ist.

«Kuba», sage ich mit fester Stimme.

«Geht doch.» Sie nickt erfreut, wendet sich an ihren Kollegen, der gerade in sein Handy sprechen will, und stoppt ihn mit einer energischen Handbewegung.

«Mexiko», sagt sie. «Es ist die Maschine nach Mexiko.»

Der Beamte schaut sie irritiert an. «Aber er hat doch gerade gesagt …»

«Stoppen Sie den Flug nach Mexiko», unterbricht sie barsch. «Ich weiß, was ich tue. Die Maschine nach Kuba kann starten.»

Sie würdigt mich keines weiteren Blickes. Hocherhobenen Hauptes verlässt sie das Zimmer. Der Beamte mit dem Handy folgt ihr schulterzuckend und gibt ihre Order an den Prager Kollegen weiter.

Abel macht ein zufriedenes Gesicht.

Ein paar Minuten später, wir haben uns bereits auf einen baldigen Aufbruch eingestellt, erscheint erneut die Kommissarin. Wieder fliegt die Tür auf, diesmal sieht Kroll aus, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. «Das zahle ich Ihnen heim. Ich bringe Sie hinter Gitter, das garantiere ich Ihnen», stößt sie mit hochrotem Kopf hervor. «Ihr sauberer Bruder ist über alle Berge. Sie haben es also geschafft! Gratuliere!»

«Und wofür wollen Sie meinen Mandanten einsperren?», fragt Abel betont entspannt. «Dafür, dass er Ihnen die Wahrheit gesagt hat? In Anwesenheit mehrerer Zeugen? Ich an Ihrer Stelle würde das nicht an die große Glocke hängen.»

Kroll schnaubt verächtlich. Auch ihr ist klar, dass sie das Spiel verloren hat. Sie schießt einen letzten, hasserfüllten Blick ab und verschwindet.

Einen Moment herrscht Schweigen, dann atme ich tief durch.

«Alles okay?», fragt Abel besorgt.

«Danke. Alles bestens», sage ich müde, aber glücklich. «Lass uns abhauen.»

«Vielleicht nimmst du erst mal die Dinger aus der Nase», erwidert Abel.