KAPITEL 36
»IST ER DAS?«
»Ja.«
Jude betrachtete das Leichentuch, das Wilson bedeckte. Sämtliche Pläne zum Abtransport waren verschoben worden. Vor dem Hauseingang war ein gelbes Absperrband gespannt, welches das Haus als Tatort kennzeichnete. Alle, die vorhin noch da gewesen waren, waren gegangen. Stattdessen hatten sich ein Detective, ein Spurensicherungsteam, ein uniformierter Polizist und eine Fotografin eingefunden, und zwar wegen dieser Person – dieses Jungen – mit den langen blonden Haaren, der David Gibson hieß. Seine Augen wurden fast vollständig von seinem Prinz-Eisenherz-Pony verborgen. Er trug die blauen Shorts und das weiße Hemd einer katholischen Schuluniform, und er war es, der Alarm geschlagen hatte.
»Ich habe ihn nie in echt gesehen. Meinen Sie, ich könnte mal unter das Tuch schauen?«, fragte David und schüttelte seine Haare aus wie ein Welpe, der aus dem Regen kommt.
»Vertrau mir. Ich glaube nicht, dass du ihn jetzt in echt sehen willst«, sagte Jude.
»Verschwinden wir hier. Wir sollten den Tatort nicht noch mehr verunreinigen, als wir es schon getan haben. Komm.« Josie legte David Gibson die Hand auf den Arm und neigte den Kopf.
Josie, Jude und David Gibson – alias »CheezeWiz« für seine Freunde im Internet – tauchten unter dem gelben Absperrband hindurch und gingen rasch über Wilsons Rampe hinunter, an der prächtigen Magnolie vorbei, und setzten sich in Judes Mercedes: David und Jude nach hinten, Josie nach vorn, wo sie sich zu den beiden umdrehte. Die Beleuchtung war eingeschaltet. Es war warm und ruhig. David hatte seine Aussage zu Protokoll gegeben, und Jude war befragt worden, weil er Wilson gefunden hatte, und jetzt wollten Josie und Jude selbst hören, was David zu sagen hatte.
»Ich war echt durch den Wind. Ich kann’s nicht fassen, dass er tot ist.« Davids Kopf wippte vor und zurück, zu einer Musik, die nur er hören konnte. »Ich dachte zwar, dass da irgendwas faul ist, aber ich dachte nicht, dass er tot ist oder so.«
»Fangen wir von vorne an«, schlug Josie vor. »Zuallererst, wie alt bist du?«
»Zweiundzwanzig. Ich bin gerade zweiundzwanzig geworden.« David blinzelte einmal mit seinen wässrigen blauen Augen und dann erneut, als Jude und Josie einen skeptischen Blick wechselten. Er kramte in der Hosentasche nach seinem Portemonnaie. »Doch. Wirklich. Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen.« Er zog die Geldbörse aus den dunkelblauen Shorts. »Schauen Sie. Zweiundzwanzig. Ich sehe nur total jung aus.«
Josie besah sich den Ausweis, Jude gleichzeitig dessen Gegenstück in der Realität. Klapperdürr und so ausgemergelt, wie ein gesundes, menschliches Wesen gerade noch sein kann, war David außerdem so bleich, als würde er in einer Höhle leben und sich nur von Wasser und Brot ernähren.
»Was soll das Poloshirt von St. Paul’s? Überhaupt die ganze Uniform?« Jude hob den Blick und betrachtete Davids Aufmachung.
»Nichts.« David zuckte die Achseln. »Ich bin einfach nicht mehr gewachsen, seit ich aus der Highschool raus bin. Ich wollte nicht so viel Geld für Kleider ausgeben. Ich meine, haben Sie dieses Zeug schon mal angehabt? Katholische Schuluniformen sind der reinste Beton, Mann. Diese Shorts stehen von allein. Ich hab drei Stück davon, eine lange Hose, zehn Hemden und ein Sweatshirt. Bei den Abständen, in denen ich sie wechsle und wasche, und bei dem Maß an Bewegung, das ich habe, müssten die Hosen noch mal zehn Jahre halten, falls ich mein derzeitiges Gewicht halte. Die Hemden sind allerdings nicht ganz so gut. Vier Jahre, höchstens. Aber das ist okay.«
»Und es kommt Ihnen kein bisschen seltsam vor, die Sachen draußen anzuziehen?«, fragte Josie, während David seine Geldbörse wieder einsteckte.
»Ach so, Sie meinen, ich würde rausgehen.« David hob einen Finger, im Gesicht ein elfenhaftes Grinsen, als würde es ihm diebische Freude bereiten, so weit außerhalb der Norm zu stehen. »Deswegen habe ich doch so lange gebraucht, bis ich hier war. Normalerweise habe ich keinen Grund rauszugehen, also auch keine Gelegenheit, normale Transportmittel zu benutzen. Ich hab ein paar Anläufe gebraucht, bevor ich jemanden fand, der mir einen Wagen leihen wollte. Anschließend musste ich herausbekommen, wo Wilson wohnt, und das hat ewig gedauert. Es war schon komisch. Normalerweise kriege ich solche Recherchen echt schnell auf die Reihe, aber ich glaube, ich war einfach durch den Wind, und darum war ich nicht ganz auf der Höhe.«
»Okay, jetzt sind Sie ja hier. Erzählen Sie von Anfang an, und fangen Sie damit an, wie Sie Wilson kennengelernt haben«, schlug Jude vor, dem bereits die Geduld ausging.
»Oh je. Mal sehen.« David legte einen langen Finger ans Kinn und rechnete nach. »Ich war vierzehn und hatte Probleme mit der Integralrechnung. Ich bin online gegangen, um mir Hilfe zu suchen, und da war Wilson. Er war cool. Richtig super. Er hat mir mit der Integralrechnung geholfen, und dann habe ich ein paar von seinen Webseiten gesehen, und die waren so cool. Richtig super.«
Das Headbanging hörte so schnell auf, wie es begonnen hatte, aber die Geschichte ging nahtlos weiter.
»Dann hat Wilson mir einen Job als Softwaretester besorgt, und anstatt aufs College zu gehen, wie meine Eltern es wollten, arbeite ich einfach an meinen Computern. Ab und zu übernehme ich einen Auftrag, um meine Rechnungen bezahlen zu können, aber hauptsächlich spiele ich Schach – in erster Linie gegen den Computer. Wenn Wilson und ich nicht schlafen konnten, haben wir immer geredet. Bei ihm war es aber schlimmer als bei mir.«
»Meinen Sie damit, dass Sie telefoniert haben, oder haben Sie sich über den Computer unterhalten?« Jude drängte auf wirkliche Informationen.
»Über den Computer«, erwiderte David geringschätzig und musterte Jude, als sei er vom Mars.
Der junge Mann nahm die Schultern zurück, sein Hals wurde länger; er bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen.
»Hey, ich sollte wirklich mal nach Hause zurück. Das von Wilson sollten alle erfahren, finden Sie nicht? Wir werden eine Online-Totenwache machen.«
Jude holte tief Luft, das Geräusch erfüllte den Wagen. Josie war sprachlos. David merkte es gar nicht. Der Kerl lebte in der Matrix, und sie hatte geglaubt, das sei nur ein Film.
»Eins nach dem anderen. Wieso dachten Sie, dass bei Wilsons Tod etwas faul sei?«, fragte Josie.
»Ich hatte gerade eine neue Firewall ausprobiert. Verstehen Sie, ich hab ein paar von meinen eigenen Viren hochgeladen, um zu sehen, wie schnell ich sie knacken könnte. Jedenfalls, ich bin zu meinem anderen PC rüber, um mich einzuloggen und zu schauen, ob jemand zum Chatten da ist …« Er ließ die Schultern wieder nach vorn sinken und faltete die Hände.
»Sie hatten doch gesagt, Sie hätten Wilson nie gesehen«, unterbrach ihn Jude.
»Nicht persönlich. Ich hab ihn über eine Webcam gesehen. Wilson war gigantisch«, informierte David Gibson sie mit einem verwunderten Blinzeln. »Ich konnte sein Gesicht und einen Teil von seinen Schultern sehen. Ich meine, diese Kameras verschaffen einem nicht gerade einen Panoramablick. Wenn man vor dem Computer sitzt, ist man ziemlich dicht vor der Linse.«
»Aber Sie konnten in Wilsons Wohnung hineinschauen?«, fragte Jude.
»Klar. Sie habe ich bestimmt schon hundert Mal gesehen«, sagte David lächelnd. »Ein paarmal hab ich mitgekriegt, wie Sie Wilson Geldscheine unter seine Bücher auf dem Schreibtisch geschoben haben. Das war witzig. Wilson war immer so überrascht, wenn er dieses Geld gefunden hat. Er hat sich dann immer ausgeloggt, um ein paar von diesen Zitronenkuchen zu bestellen, die er so mochte. Sie haben für Wilson ganz schön viel Geld aus dem Fenster geworfen. Dabei war er stinkreich. Er hat für die halbe Softwareindustrie gearbeitet. Wilson war ein Genie.«
David blickte Josie an, einen Moment lang zufrieden mit sich selbst, bevor sein Lächeln schwand und er seine Haare wieder schüttelte. Davids Finger, deren Nägel bis zum Nagelbett abgebissen waren, krampften sich um seine knochigen Knie. Josie sah die Notizen, die er sich mit blauem Kugelschreiber auf den Unterarm gekritzelt hatte. Er war immer noch ein Jugendlicher, der älter wurde, ohne ein Gefühl für das Vergehen der Zeit zu haben; ein Peter Pan, der vom Feenstaub der Bits und Bytes lebte.
»Jedenfalls habe ich bei Wilson reingeschaut, und da sehe ich auf einmal diesen anderen Kerl in seiner Wohnung. Erst habe ich geglaubt, Sie seien es.« Er nickte Jude zu. »Aber Sie waren es nicht. Der Anzug von dem Kerl war nicht so schön wie Ihrer, wenn auch ganz okay. So richtig hab ich nicht darauf geachtet. Ich hab ihn nur von hinten gesehen. Er hat sich über Wilsons großen Sessel gebeugt.«
»Konnten Sie erkennen, was er gemacht hat?«, fragte Josie ruhig.
David schüttelte ernst den Kopf, und diesmal blieben die Haare an Ort und Stelle.
»Nein. Er hat sich einfach nur so über Wilson gebeugt.« David verdrehte den knochigen Körper, ohne damit Josies Fantasie auf die Sprünge helfen zu können. »Dann sehe ich, wie er in das andere Zimmer geht. Ungefähr vier Minuten später kommt er wieder raus. Ich fand’s komisch, dass dieser Mann in das Schlafzimmer gegangen ist. Keiner betritt abends je dieses Schlafzimmer, nicht mal Wilson.«
»Und sein Gesicht haben Sie nicht gesehen?«, bohrte Josie.
»Wie schon gesagt, es wurde langsam dunkel, und Wilsons Kamera ist nicht gerade die modernste, deswegen war der Blickwinkel begrenzt. Ich habe ihm immer gesagt, er sollte sich eine bessere besorgen«, sagte David nüchtern. »Jedenfalls hab ich das Kinn von dem Kerl gesehen. Und sein Hemd, seine Krawatte, den Anzug. Ein paar Bilder habe ich mir abgespeichert, allerdings weiß ich nicht, wie scharf die sind. Das Unheimliche war, dass der Kerl an Wilsons Computern rumgefummelt hat. Keiner außer Wilson hat diese Computer je angefasst, und da beugt sich dieser Mann einfach vor und macht an ihnen herum, als seien es seine eigenen.«
David lehnte sich zurück. Er hob die Hände, riss die babyblauen Augen auf und schüttelte erneut sein Haar. Er war fertig. Ende der Geschichte.
»Wie lange blieb der Mann in der Wohnung?«, fragte Jude.
»Höchstens zehn Minuten. Nicht so lange.«
»Haben Sie irgendetwas gehört?«
»Es ist eine Webcam, kein Soundsystem. Wir hatten nur das Kamerabild, und außerdem IM …«
»Was ist das?« Josie veränderte die Position ihrer langen Beine. Das rechte schlief langsam ein. Am liebsten wäre sie ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten, doch die vertrauliche Atmosphäre im Auto war dem Gespräch zuträglicher.
»Instant Message«, erklärte David geduldig. »Sie wissen schon, Chatten, in Echtzeit. Wir tippen dabei so, wie wir hier reden. Bei mir hat Wilson immer die Kamera eingeschaltet. Er hatte ein nettes Lächeln.« David rutschte auf seinem Platz herum und hob schließlich eine Hand, um am Kragen seines Uniformhemds herumzuspielen.
»Jedenfalls, als der Kerl weg war und Wilson nicht online kam, wusste ich, dass irgendwas nicht stimmte. Ich habe versucht, ihn anzurufen, obwohl mir klar war, dass Wilson das nicht gefallen würde. Ich habe hingesehen, und er hat sich nicht mal gerührt, als das Telefon geklingelt hat. Es war richtig unheimlich. Ich hab seine Adresse rausgekriegt, die Bullen angerufen – das war vielleicht eine komische Erfahrung, Mann, die Bullen anzurufen –, und dann hab ich einen Wagen aufgetrieben und bin hierhergefahren. Das hab ich nur gemacht, weil ich die Polizei nicht bei mir zu Hause haben wollte.« David wischte sich die Hände an seinen Betonhosen ab. »Gut zu wissen, dass ich keine Platzangst oder so was habe. Das hat mir ein bisschen Sorgen gemacht.«
David redete weiter und ließ sich über seine Sozialisierung aus, als Josie Jude an der Schulter berührte.
»Sie gehen gerade.«
Jude und David Gibson schauten zum Haus hinüber und sahen gerade noch, wie vier Männer Wilson auf der Bahre die Rampe hinunter zu einem flachen Transporter rollten, der gerade eingetroffen war. Mehrere Nachbarn hatten sich versammelt, die gestikulierten und redeten, während die Männer sich mit Wilsons Leiche abmühten.
»Herrgott noch mal«, murmelte Jude zornig und stieß die Tür auf.
Josie ließ ihn gehen. Niemand hätte Wilson auf würdevolle Art transportieren können, aber Jude war nicht in der Lage, das zu begreifen, als er auf die Männer zumarschierte. Er vertrat ihnen den Weg, und Wilsons riesiger Leichnam kam ins Schwanken und wäre beinahe von der Bahre gekippt. Zwei Männer hielten die Leiche fest, während der Detective ruhig und sachlich mit Jude diskutierte.
David Gibson machte große Augen. Das leibhaftig stattfindende Drama fesselte ihn zwar, aber sein Beobachterposten genügte ihm. Im Grunde hatte er Wilson ja nicht gekannt. Er kannte weder den Klang seiner Stimme noch Wilsons Art, mehr zu watscheln als zu gehen, weder Wilsons Liebenswürdigkeit noch Judes Freundlichkeit. Trotzdem, so vermutete Josie, gab es ein paar Dinge, die David durchaus wusste. Sie beugte sich über die Lehne des Mercedes und tippte David an der Schulter an. Er erschrak sich fast zu Tode.
»David, wenn Sie sich an Wilsons Computer setzen, könnten Sie uns dann sagen, welche Dateien gelöscht worden sind?«
»Klar, aber das wird wohl kaum möglich sein.«
Josie folgte seinem Blick. Wieder kamen Männer aus dem Haus, die Wilsons Computer mit deutlich weniger Mühe transportierten als zuvor Wilson selbst. Josie sank der Mut. Sie würden die Computer mitnehmen und alle beschlagnahmen. Nicht Wilsons Freund, sondern ein Diener des Staates würde sich durch die Festplatten arbeiten und nach Hinweisen auf ein Verbrechen suchen. Nicht Josie würde als Erste erfahren, was sich auf diesen Computern befand, sondern Ruth Alcott.
Enttäuscht drehte Josie sich auf ihrem Sitz nach vorn, stützte den Ellbogen gegen die Scheibe und legte den Kopf in die Hand. So viel zu ihren tollen Ideen und raffinierten Strategien. Was auch immer es war, worüber Wilson mit Jude und Josie hatte reden wollen, es war verloren. Wochen, vielleicht Monate würden vergehen, bevor Ruth ihnen ihre Ergebnisse aushändigen würde. Mit einem Zungenschnalzen griff Josie nach der Tür. Gerade als sie aussteigen wollte, fuhr Davids Kopf über die Sitzlehnen nach vorne. Der üppige blonde Vorhang seines Haares streifte über das Armaturenbrett, als er den Kopf drehte, um sie ansehen zu können.
»Wissen Sie was, ich könnte auf meinem Computer nachsehen. Verstehen Sie, Wilson und ich, wir hatten zwei von unseren Computern vernetzt. Ich habe von meiner Wohnung aus auf alles Zugriff, was er mir überlassen hat. Was meinen Sie? Würde das etwas bringen?«
Josie drehte den Kopf, kniff die Augen zusammen und starrte David eisig an, weil er das nicht gleich gesagt hatte. Doch ihre Missbilligung war an ihn vollkommen verschwendet. Sie verzog die Lippen. Es war weniger ein Lächeln als vielmehr ein Zeichen der Anstrengung, die es sie kostete, um nicht zu schreien.
»Ja, David. Ich glaube, man könnte sagen, dass das etwas bringen würde.«