KAPITEL 28
ZUSAMMENGESUNKEN SASS JOSIE auf einem Stuhl in Faye Baxters Kanzlei und dribbelte ihren Volleyball neben sich auf den Fußboden. Draußen vor Fayes Büro waren Angie, die Rechtsanwaltsgehilfin, und eine weitere Empfangsdame mit den Dingen beschäftigt, die täglich in einer Vorortskanzlei anfielen. Eigentlich hätte das auch für Faye gelten müssen, aber Josie war aufgetaucht und hatte ein offenes Ohr und eine objektive Meinung gebraucht.
»Jude wirft das Handtuch. Er hat mir gesagt, dass ich ab jetzt allein dastehe.«
»Für mich hört es sich nicht so an, als hätte er eine Wahl. Sein Mandant hat ihm den Geldhahn zugedreht. Was soll er denn machen?«
»Ach, komm schon,«, jammerte Josie. »Ohne Jude und Colin würde Archer gar nicht erst in dieser Klemme sitzen. Wenn die Situation umgekehrt wäre, würde ich doch genauso …«
Ein Blick auf Faye genügte, um Josie zurückrudern zu lassen, wenn auch widerwillig.
»Na schön. Wenn mir auf einmal dreißig Riesen fehlen würden, würde ich vielleicht genauso handeln, aber das ändert nichts daran, dass Archer sich die nötigen Ermittlungen nicht leisten kann. Es ärgert mich wirklich, dass Jude Wilson nicht mehr dabei haben will.«
»Nun ja, das erschwert die Sache. Aber du hast immer noch einen Mandanten und einen Fall. Dich wegen Jude Getts zu grämen, bringt Archer gar nichts.«
»Ich gräme mich ja gar nicht, und ich bin auch weiterhin entschlossen«, sagte Josie mürrisch. »Ich musste nur mal Dampf ablassen. Vielleicht bin ich ja auch gar nicht wütend deswegen. Vielleicht habe ich nur Angst, dass Archer tatsächlich schuldig sein könnte.«
Josie dribbelte den Ball im Rhythmus ihrer Worte, als würde ihr das helfen, all die hässlichen Gefühle wegzupacken und zu verstauen: den verloren gegangenen Glauben an Archer, an sich selbst, den Zorn und die Enttäuschung über Jude, die Sorge um Hannah – alles Gefühle, die Josie loswerden musste, um sich konzentrieren zu können.
»Gib mir den Ball, Josie«, sagte Faye scharf. »Du machst mich wahnsinnig. Ich kann nicht denken, wenn du das machst.«
Faye streckte die Hände aus, aber Josie hielt ihren geliebten Ball fest, den ihr Vater ihr anlässlich ihres Volleyballstipendiums für die University of Southern California geschenkt hatte, und drückte ihn gegen ihren Bauch, als sei er ein Kuscheltier aus Hartgummi. Faye zog ein Gesicht, wie man es bei einem widerspenstigen, aber im Grunde liebenswerten Kind tut.
Schade, dass es mit ihnen beiden nicht funktioniert hatte. Faye war so erpicht darauf gewesen, Josie als Teilhaberin in ihrer kleinen Kanzlei zu haben. Aber Josies Mandat bei Hannahs Prozess und der Wirbel, den das in einer Kanzlei verursacht hatte, die auf einen so medienträchtigen Fall nicht eingerichtet war, hatten alles geändert. Faye hatte ihr Angebot zurückgezogen, und die Partnerschaft war geplatzt. Ihre Freundschaft hatte die Sache glücklicherweise überlebt. Sie hatten ein Arrangement vereinbart, bei dem beide profitierten. Josie zahlte eine symbolische Summe, um Fayes Kanzleiräume zu nutzen und ihre Mitarbeiter für bestimmte Aufgaben heranzuziehen; Faye dagegen durfte bei Bedarf Josies Dienste in Anspruch nehmen. Diese Regelung nützte beiden – besonders Faye. Sie war zu alt für die Art von Problemfällen, die Josie anschleppte, aber nicht zu alt, um bei kniffligen Fragen ihren Rat beizusteuern.
»Danke«, sagte Faye, als Josie mit dem Dribbeln endlich aufhörte.
»Keine Ursache«, brummte Josie und fügte dann ein »’tschuldigung« hinzu, als sie gleich darauf wieder damit anfing. »Ich bin wegen Jude durcheinander. Und wegen der heutigen Zeugenaussage. Ich hatte zwar nicht mit einem kampflosen Sieg gerechnet, aber auch nicht damit, völlig fertiggemacht zu werden, und ich weiß einfach nicht, was schiefgelaufen ist. Ich konnte nicht richtig denken, meine Reaktionen waren verlangsamt. Ich habe es nicht geschafft, auch nur einen dieser Zeugen infrage zu stellen, es sei denn, man rechnet Carol Schmidt mit ein, die ich zumindest eingeschüchtert habe. Ich war mit dem Versuch beschäftigt, die Zeugenaussagen über Archer mit dem Mann, den ich kenne, in Einklang zu bringen.«
»Du bist auch nur ein Mensch, Josie.«
»Das war es nicht allein. Ich war voreingenommen. Falls Archer diesem Jungen irgendetwas getan hat – sei es unbewusst oder spontan oder vorsätzlich –, dann wäre das furchtbar, und er sollte dafür verurteilt werden. Das war meine Einstellung, und das geht einfach nicht, wenn ich ihn verteidigen soll.«
Faye verlagerte ihr beträchtliches Gewicht und stützte das Kinn in die Hand. Sie sah großartig aus, die sprichwörtliche Rubens-Schönheit.
»Das ist eine ganz schöne Kehrtwendung. Noch vor nicht allzu langer Zeit warst du der Meinung, dass Hannah das Recht hatte, sich gegen ihren Misshandler zu wehren, aber Archer willst du das nicht zugestehen. Nicht sehr professionell, Josie«, rügte Faye sie.
»Sei nicht albern. Äpfel und Birnen«, beharrte Josie. »Archer ist nicht misshandelt worden. Er ist erwachsen und hat deutlich klargestellt, dass er in dieser Beziehung tat, was er wollte.«
»Tatsächlich?« Faye zog eine wohlgeformte Augenbraue hoch. »Wenn dein Mandant jemand anders wäre, würdest du es begreifen. In deinen Augen ist Archer der Fels von Gibraltar, weil er immer für dich da ist, aber so, wie es auf mich wirkt, hat Lexi ihm starken Druck gemacht. Diese Beziehung war furchtbar kompliziert, Josie. Es klingt, als hätte Lexi ihm ständig wegen Tim in den Ohren gelegen. Sie mag vielleicht von ihrer Krebserkrankung geschwächt gewesen sein, aber nach dem, was ich gehört habe, besaß diese Frau eine unglaubliche Zielstrebigkeit. Archer sorgt sich also schrecklich um seine Frau, muss ihr beim Sterben zusehen, hat selbst Angst, versucht trotzdem, für sie stark zu sein, und sie macht ihm auf Schritt und Tritt Schuldgefühle. Komm schon, Josie. Versetz dich mal in seine Lage. Du bist derart verletzt, weil er dir nicht sein Herz ausgeschüttet hat, dass du gar nicht siehst, wie Lexi ihn manipuliert hat. Meiner Meinung nach könnte man die Verteidigung auf psychischem Missbrauch aufbauen.«
»Nicht schlecht, aber wir reden hier über einen Mann. Es ist riskant. Kein Mensch glaubt daran, dass Männer missbraucht werden können.«
Josie hob den Ball auf, um wieder zu dribbeln, sah, wie Faye einen Finger hob, und legte den Ball in ihren Schoß zurück. »Zu glauben, dass ich das übernehmen könnte, war ganz schön arrogant von mir, was? Ich hätte nie gedacht, dass Archer überhaupt eine Verteidigung brauchen würde, weil ich dachte, ich könnte die Sache abwenden. Und zwar allein.«
Josie beugte sich über den Ball und legte die Arme darum, als sei er ein Kind. An ihren zusammengezogenen Augenbrauen und den geschürzten Lippen erkannte Faye, dass Josie am Ende war und alles in Zweifel zog – vor allem sich selbst.
»Dann zieh eben noch jemanden hinzu«, schlug Faye freundlich vor. »Einen zweiten Verteidiger, ganz gleich, wen, aber schaff ein bisschen Abstand, wenn du glaubst, dem nicht gewachsen zu sein. Das bist du Archer schuldig.«
Josie wandte den Kopf ab und starrte ins Leere. Sie überlegte. Sie seufzte. Sie dachte laut nach.
»Ich würde nicht damit klarkommen, wenn ein anderer es vermasselt. Und wenn er gewinnen würde, würde Archer mich nachher mit anderen Augen sehen. Ich würde mich mit anderen Augen sehen.« Kopfschüttelnd biss Josie sich auf die Unterlippe. Sie drehte den Kopf und sah Faye erneut an. »Irgendetwas übersehe ich. Das weiß ich.«
»Dann erzähl mir eine andere Geschichte«, schlug Faye vor. »Eine, bei der Archer im Zweifelsfall unschuldig ist.«
»Na schön.« Josie sammelte sich kurz. Dann richtete sie sich auf und begann langsam: »In Greenwood war ich dabei, als ein dünner, kleiner Mann es beinahe schaffte, einen Typen abzuwehren, der wie ein Baseballspieler aussah.« Josie hielt inne; sie formulierte stichpunktartig, damit beide ihren Gedanken folgen konnten. »Und was ist das eine, das alle über Tim sagen? Dass er stark war. Lexi schaffte es nicht, ihn zu kontrollieren. Er war so kräftig und unberechenbar, dass Archer ihn bändigen musste.«
»War Tim an seinem Todestag besonders wild?«, fragte Faye.
Josie schüttelte den Kopf. »Er machte zwar so viel Unsinn, dass er Eric Stevens in der Schlange auffiel. Aber derselbe Zeuge hat ausgesagt, dass Tim ruhig war, als Archer ihn schließlich auf der Plattform anschnallte.«
»Dann musst du in Betracht ziehen, ob Tim seine Anfälle periodisch hatte. Falls du beweisen kannst, dass seine Stimmungsschwankungen und Ausbrüche nicht vorherzusehen waren, könntest du darauf abstellen, dass er Unfug gemacht und irgendwie seinen Gurt gelöst hat.«
»Das ist aber nicht das, was auf dem Video zu sehen ist.« Josie hätte den Vorschlag schon fast verworfen, doch dann überdachte sie ihn noch einmal. »Sie waren mindestens dreißig Sekunden lang nicht im Bild. Wir wissen, dass es in den fünfundvierzig Minuten, nachdem er Eric Stevens auffiel, eine starke Veränderung in seinen Verhalten gab. Aber Eric Stevens kann ihn nicht jede einzelne Minute beobachtet haben. Vielleicht hat Tims Stimmung in diesem Zeitraum ja fünfundvierzig Mal gewechselt. Könnte irgendein unbeherrschbarer Drang in den dreißig Sekunden, in denen er nicht im Bild war, eine Änderung bei Tim bewirkt haben?«
»Vielleicht hatte er ja eine Art Schub, einen Anfall aus heiterem Himmel. In diesem Fall könnte Archer hinübergegriffen haben, um ihn irgendwie zum Aufhören zu bewegen oder unter Kontrolle zu bekommen. Auf ein Verhalten, das so plötzlich auftritt, wäre das eine ganz instinktive Reaktion.«
Josies Lächeln wurde breiter, als sie auf einmal das Licht am Ende des Tunnels sah. Es war hell, zeigte die Bühne in ganz neuem Licht und ließ Archer als Helden anstatt als Schurken erscheinen.
»Lass uns eine andere Bezeichnung nehmen, Josie«, schlug Faye vor. »Wie wäre es mit ›Krampf‹? Falls Tim einen Krampf hatte, könnte er den Verschluss durch sein Körpergewicht gesprengt haben. Ich habe mal eine Frau kennengelernt – eine Lehrerin –, die die Familie eines kleinen Mädchens verklagen wollte, das Epilepsie hatte. Die Lehrerin wollte ihr bei einem Anfall zu Hilfe kommen, und das Mädchen traf sie ungünstig im Gesicht und brach ihr den Kiefer. Die Lehrerin wollte etwas Gutes tun, hatte aber am Ende ein halbes Jahr lang Drähte im Mund. Aber dieses Risiko hatte sie bei ihrer Hilfeleistung in Kauf genommen. Falls Archer den Krampf mitbekommen hat, könnte er im Reflex, also versehentlich, den Verschluss geöffnet haben, weil er den Eindruck hatte, dass dieser mehr schadet als nützt. Nur dass seine Hilfeleistung schlimmere Folgen hatte als einen gebrochenen Kiefer.«
»Wow, Faye, das ist gut.« Josie nahm den Ball in die Hand und legte ihn dann neben den Stuhl. »Das ist wirklich gut. Aber mit dem Reflex werden wir nicht durchkommen. Auch ein Reflex würde einen normalen Menschen nicht dazu bringen, während der Fahrt den Verschluss zu öffnen. Das würden mir die Geschworenen nicht abnehmen.«
»Ich denke ja nur laut«, sagte Faye. »Aber Archer könnte von dem Krampf erschrocken sein, zu Tim hinübergefasst und den Verschluss gelöst haben, während er versuchte, Tim unter Kontrolle zu bringen.«
»Absolut. Ja«, stimmte Josie zu. »Barbara Vendy sagte, die Patientenakte sei an Lexi geschickt worden. Ich werde sie suchen und von einem Sachverständigen auswerten lassen. Das hätte ich schon vor der Voruntersuchung machen sollen. Ich muss los.«
Josie schlug Fayes Einladung zum Abendessen aus und nahm die Abkürzung nach Hause. Das Licht auf der Veranda war nicht eingeschaltet. Das Haus war dunkel, und Josie war enttäuscht, sich nicht einmal bei den einfachsten Dingen auf Hannah verlassen zu können. Allerdings musste man Hannah zugutehalten, dass die Dämmerung gerade erst vorbei und es noch nicht richtig Nacht war. Josie warf den Volleyball in die Ecke und kramte nach ihren Schlüsseln. Noch ehe sie das Bund gefunden hatte, ging die Tür auf, und ihre Zurechtweisung erstarb ihr auf den Lippen. Totenbleich umklammerte Hannah den Türrahmen. An ihrem Mundwinkel klebte Blut, das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, und um ihren Hals lag ein Seil.
»Oh mein Gott«, flüsterte Josie und konnte sich nicht rühren. »Was ist passiert?«
»Was?«, fragte Hannah zurück.
»Du blutest.«
Hannah schob die Hüfte vor und legte den Schalter hinter der Tür um. Die Verandalampe ging an, Josie blinzelte, und ihr Herz fing wieder an zu schlagen. Hannah war nicht bleich, sie war nur weiß geschminkt. Das Blut tröpfelte nicht nur aus ihrem Mundwinkel, es sprudelte hervor und war so dick wie Ketchup.
»Halloween.« Ein wenig Herablassung schwang in Hannahs Feststellung mit.
Max, der Hund, kam aus dem Haus getrottet und begrüßte Josie mit einem Wedeln. Auf dem Tisch hinter Hannah stand eine Schüssel mit Süßigkeiten. Sie war nichts weiter als eine Jugendliche, die Kindern, die nach Süßem fragen, Saures geben will.
»Halloween. Habe ich vergessen«, gab Josie zu.
»Ich nicht«, entgegnete Hannah.
»Okay, stell die Schüssel mit den Süßigkeiten auf die Veranda. Wir haben zu tun.«