KAPITEL 9

JUDE GETTS HATTE ein schönes Büro: Ledersofas, so weich und glatt wie ein Babypopo, üppige Grünpflanzen und ein Teppich, der so schwer war wie der Akzent einer Südstaatenhure. Ganz kurz vermisste Josie das, was sie vor ein paar Jahren mit der exklusiven Rechtsanwaltskanzlei aufgegeben hatte, als ihr klar geworden war, dass nicht alle, die sich eine Verteidigung leisten konnten, auch eine verdienten. Aber der Moment währte nur kurz. Der Preis für eine Kanzlei wie diese war einfach zu hoch: absurd hohe Stundensätze, keine Zeit, um seine Lieben anzurufen, Mandanten, die einen anwiderten, einem das Herz brachen oder Gewissensbisse verusachten, Kollegen, die einem alles abverlangten, ein Liebesleben, das in Vergessenheit geriet über einem Prozess, der jede Beziehung überdauerte. Derart gefragt zu sein und so viel Geld zu machen forderte seinen Preis. Nur die wenigsten waren aus dem Holz geschnitzt, um groß herauszukommen, aber ganz offensichtlich gehörte Jude Getts zu diesen Auserwählten.

Josie spürte seine Energie bereits, bevor sie über die Schwelle trat.

»Da sind Sie ja. Der Staatsanwalt hat gerade seinen Spaß«, begrüßte Jude sie, als käme sie genau richtig zur Cocktailstunde. Er deutete auf einen Mandantensessel.

»Wer ist das dort neben ihm?«, fragte Josie, während sie sich setzte.

»Das ist Sharon Flaggerty, die Sprecherin von Pacific Park

»Stellen Sie den Ton an.«

Josie machte eine Geste zu dem Plasmabildschirm an der Wand. Jude drückte irgendwo auf dem Schreibtisch einen Knopf, und der Ton ging an. Der Fernseher war ein wunderbares Stück Technik, und das wie gestochen scharfe Bild machte der hübschen blonden Sharon Flaggerty alle Ehre. Ihre Äußerungen passten dazu. Sie war eine wortgewandte, professionelle junge Frau, die die Kunst der Manipulation offenbar zur Meisterschaft gebracht hatte und sie gerade dem Reporter der Daily Breeze angedeihen ließ.

»Selbstverständlich war es schwierig für Pacific Park, Mr Getts’ Klage wegen Fahrlässigkeit und Verletzung der Sorgfaltspflicht stillschweigend zu ertragen. Wir sind ein Familienunternehmen, und unsere Klientel besteht ebenfalls aus Familien. Es belastet uns sehr, dass manche Leute uns eine Vertuschung unterstellen. Wie Sie inzwischen wissen, durften wir keine für einen Zivilprozess relevanten Informationen preisgeben, während wir in einer Strafsache mit dem Staatsanwalt zusammenarbeiteten. Aber wir von Pacific Park wollten unbedingt erreichen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, selbst wenn unser eigener Ruf darunter leiden würde.«

»Werden Sie rechtliche Schritte gegen den Richter einleiten, der Sie wegen Zurückhaltung von Beweismitteln gemaßregelt hat?«, rief jemand.

»Nein, natürlich nicht.« Sharon Flaggerty gab sich auf anmutige Weise entsetzt. »Der Richter hat schließlich nur seine Pflicht getan. Inzwischen ist Richter Benson klar, dass die Ermittlungen in Gefahr gewesen wären, wenn wir auf Mr Getts’ Aufforderung reagiert hätten. Entsprechend hat er den Zivilprozess ausgesetzt, bis die Sache vor dem Strafgericht entschieden ist.«

»Verdammt!«

Judes Faust traf die Lehne seines Bürostuhls, doch ein Blick auf ihn verriet Josie, dass er über die Entscheidung des Gerichts nicht wirklich verärgert war – die Strategie des Parkes bedeutete vielmehr einen Nervenkitzel für ihn.

»Schsch«, mahnte Josie, als der nächste Reporter die entscheidende Frage stellte.

»Wenn Sie wussten, dass es Mord war, wieso haben Sie die Beweise dann nicht schon vor zwei Jahren ausgehändigt?«

»Wir haben die Umstände von Tims Unfall erst erneut überprüft, als Mr Getts die Zivilklage eingereicht hat«, sagte Sharon Flaggerty mit aufrichtigem Bedauern. »Angesichts der Beweislage mussten wir unsere erste Einschätzung, es habe sich um einen Unfall gehandelt, revidieren. Auch nach dieser Überprüfung war noch nicht geklärt, ob ein Verbrechen vorliegt. Deswegen haben wir uns so stark auf Mr Cooper, den Bezirksstaatsanwalt, verlassen. Er hat weiter ermittelt und ist zu der Entscheidung gekommen, die Angelegenheit als Strafsache zu verfolgen.«

Eine allgemeine Unruhe entstand, als alle die gleichen Fragen stellten. Was hatte den Ausschlag gegeben? Wie war der Staatsanwalt zu der Überzeugung gekommen, einen Schuldspruch erreichen zu können? Konnte sie zu den Beweisen gegen den Verdächtigen Genaueres sagen? Nein, sagte Ms Flaggerty, aber John Cooper könne das tun. In anmutiger Haltung verließ sie das Podium, und Cooper trat ans Mikrofon. Durch seine wunderbare Stimme, seinen makellosen Vortrag und seine perfekte Wortwahl wirkte John Cooper intelligenter, als er war. Er redete so lange, ohne wirklich etwas zu sagen, dass einige der Reporter wegzudösen begannen. Jude Getts schien den Staatsanwalt ebenfalls bestens zu kennen. Er stellte den Ton leiser, ehe John Cooper sein erstes Satzgefüge zu Ende gebracht hatte.

»Okay.« Josie drehte sich zu Jude um. »Wovon redet sie? Welche Beweise?«

»Ich habe keine Ahnung. Pacific Park hat monatelang mit allen Mitteln gegen uns gekämpft, und jetzt geben sie die pflichtbewussten Bürger und Heiligen. Unglaublich.« Er drehte sich auf dem Stuhl zu ihr herum und schaltete zugleich den Fernseher aus. Nach einer kurzen Pause warf er die Fernbedienung auf den Schreibtisch. »Egal. Ich setze meinen PR-Mann darauf an. Archer hat eine lange, solide Laufbahn als Detective hinter sich. Wie könnte man einen Mann hassen, der sich so aufopfernd um seine kranke Frau gekümmert hat? Dieses Detail wird die öffentliche Wahrnehmung nachhaltig beeinflussen. Alle potenziellen Geschworenen werden ein positives Bild von Archer haben. Wenn die Jury feststeht, frisst sie uns aus der Hand.«

»Und ich bin der Meinung, dass wir nichts dergleichen tun werden«, informierte ihn Josie. Sie hatte mehr als Nebelkerzen erwartet. »Ich schlachte weder meine Mandanten noch ihre Opfer aus. Das ist nicht mein Stil.«

»Jetzt schon, Josie. Jetzt schon.«

Jude lehnte den Kopf an die Stuhllehne. Ein kleiner Deckenstrahler war so auf Jude ausgerichtet, dass er einen Lichthof um ihn erzeugte. Die Assoziation reizte Josie zum Lachen.

St. Jude.

Witzig.

Der Heilige der hoffnungslosen Fälle.

Dummes Zeug.

Archer war genauso wenig ein hoffnungsloser Fall, wie dieses Model mit Juraabschluss ein Erlöser war.

»Dann haben Sie also noch ein bisschen Feuer im Arsch, was, Josie? Das ist gut.« Er machte eine neckische Geste mit den Fingern, und Josie hätte sie ihm am liebsten abgerissen. Stattdessen hörte sie zu und schluckte die Medizin, um das Bonbon zu bekommen, das er versprochen hatte. »Aber meine Rechercheabteilung ist ebenso gut wie mein PR-Mann. Dieses Mädchen, das sie vor Kurzem verteidigt haben – wie hieß sie noch gleich?«

»Hannah Sheraton?«

»Ja, natürlich. Hannah Sheraton«, murmelte Jude und löste die Hände, die er gefaltet hatte. »War das im Grunde nicht ein Fiasko? Eigentlich hatten Sie den Fall verloren. Nur durch die Dummheit der Mutter konnten Sie Ihr Gesicht wahren und eine Unschuldige vor einer lebenslangen Haftstrafe retten. Sie sind nicht mehr in Form, Mädchen, und ich glaube nicht, dass Sie Ihre Fähigkeiten gerade bei dieser Angelegenheit aufpolieren möchten. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel.«

»Erstens«, sagte Josie kühl, »bin ich nicht Ihr Mädchen. Zweitens habe ich den Fall nicht verloren, sondern aufgehört, weil Hannah mich darum bat. Als ich die Wahrheit herausfand, habe ich die Sache selbst in die Hand genommen.«

»Ja, stimmt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Ihre Ressourcen beschränkt waren und Sie deshalb die Wahrheit nicht früher erkannt haben. Diesmal brauchen Sie mehr als nur ein bisschen Glück. Sie brauchen mich.«

Mit der einen Hand schob er eine Mappe in ihre Richtung.

»Nach den wenigen Unterlagen, die wir Pacific Park abgetrotzt haben, bevor man dort mit den Spielchen anfing, sieht es für Ihren Mandanten nicht gut aus. Mit dem Shock-&-Drop-Fahrgeschäft war alles in Ordnung, technische Mängel sind als Ursache für Tims Tod also eher fraglich, wenn nichts vertuscht wurde.«

In aller Ruhe ließ Jude diese kleine Bombe platzen. Josie betrachtete die Mappe und befürchtete dabei, ausgebootet zu sein, bevor sie überhaupt zum Schlachtfeld kam.

Jude stupste die Mappe ein letztes Mal an und ließ Josie nicht aus den Augen, als er sie öffnete und ihr mit betont sinnlichen Bewegungen verschiedene Unterlagen hinüberreichte. Er neckte sie, und zwar so effektiv, dass Josie nicht widerstehen konnte. Sie betrachtete die Dokumente eines nach dem anderen, bekam ein Gefühl für das Ganze und ignorierte fürs Erste die Details. Vor ihr lagen technische Zeichnungen, Diagramme und Berichte. Jude lieferte den Kommentar dazu.

»Alle drei waren ordnungsgemäß angeschnallt. Archer stand rechts, Lexi links, Tim in der Mitte.«

Jude schob eine weitere Schemazeichnung zu ihr hin.

»Der Schließmechanismus des Gurtes befand sich über Tims Brust.«

Wieder schob er ihr ein Blatt hin.

»Die Plattform fuhr langsam nach oben. Oben pausierte sie anderthalb Sekunden lang, bevor die Fahrgäste mit einer Geschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern nach unten sausten. In einer Höhe von etwa vier Stockwerken kommt eine Stelle, wo die Fahrt langsamer wird. Tim Wren fiel hinunter, bevor sie dort ankamen. Was auch geschah, es war perfektes Timing. Die Geschwindigkeit katapultierte ihn zu Boden. Wäre es auch nur zwei Sekunden später passiert, hätte er vielleicht eine Überlebenschance gehabt.«

Josie betrachtete ein Blatt nach dem anderen und verweilte bei jedem einzelnen, während Jude eines nach dem andern wegnahm und ersetzte. Anfassen wollte sie sie nicht. Ihr kamen bereits Zweifel. Vielleicht hatte Jude ja recht. Hannahs Freispruch war ein glücklicher Zufall gewesen, der nur dadurch zustande gekommen war, dass Hannahs Mutter einen Fehler beging, und nicht durch Josies brillante Verteidigung. Vielleicht war Josie ja wirklich eingerostet, und Archers Verteidigung würde darunter leiden. Durfte sie dieses Risiko eingehen? Könnte sie noch in den Spiegel schauen, wenn sie aus Hybris Jude Getts’ Rat in den Wind schlug?

Unsinn. Sie war durchaus in der Lage, Archer zu verteidigen, und es wurde Zeit, dass Jude Getts das begriff.

»Das Fahrgeschäft könnte kurz vor der Kurve von irgendetwas getroffen worden sein«, sagte sie. »Vielleicht befand sich etwas auf den Schienen: Vogelkot, irgendetwas in der Luft, wodurch der Stahl angegriffen wurde oder das den Mechanismus in Mitleidenschaft zog.«

»Sie sind auf Zack. Das freut mich«, sagte Jude aalglatt. »Aber nach dem Wartungsbericht war alles in Ordnung …«

Jude unterbrach sich, um eine umwerfende Frau zu beäugen, die das Büro betrat, als würde es ihr gehören. Ihr Haar reichte ihr bis zum Kinn und war so dunkel wie ihre Augen. Das Kostüm schmiegte sich um ihren Körper wie eine zweite Haut. Josie nickte ihr grüßend zu, als sie Kaffee hinstellte und Jude einen Bericht reichte, den sie unter den Arm geklemmt hatte. Als die Frau ging, folgte Josie ihr mit dem Blick, und Jude erriet ihre Gedanken.

»Einer unserer Neuzugänge. Jahrgangsbeste in Yale. Irgendwann wird sie eine Menge Geld für diese Kanzlei verdienen, und ich darf sagen, dass ich es war, der mehr als ihre offenkundigen Reize bei ihr wahrgenommen hat.« Lächelnd sah Jude von den Unterlagen zu Josie hoch. »Und nur damit Sie es wissen, ich würde ihr auch einen Kaffee bringen, wenn sie einen bräuchte.«

»Wie demokratisch«, murmelte Josie. Verärgert darüber, so durchschaubar zu sein, nahm sie ihre Kaffeetasse zwischen die Hände. »Diese Dokumente könnten gefälscht sein. Ich werde sie von Fachleuten untersuchen lassen.«

»Genau das hat Amelia getan.« Er hielt ein weiteres Blatt Papier in die Höhe. »Das ist der letzte Bericht, und seine Echtheit steht außer Zweifel. Die technische Prüfung wurde unmittelbar nach dem Unfall durchgeführt.«

Er steckte das Blatt in die Mappe und fasste die übrigen zu einem Stapel zusammen.

»Falls Sie nichts dagegen haben, lasse ich Sie noch einmal überprüfen.« Josie stellte die Kaffeetasse wieder hin. »Aber ich will mir nicht selbst vorgreifen. Zunächst möchte ich mir die Akten aus dem ersten Zivilprozess ansehen. Wer hat Lexi vertreten?«

»Nun, da kommen Sie zu einem interessanten Punkt.« Jude sah aus wie ein Junge, der gerade zwanzig Dollar gefunden hat, und zwar auf einer langen, einsamen Straße, wo keine Chance bestand, den rechtmäßigen Besitzer zu finden. »Es gab mit Lexi keinen Vergleich wegen Tims Tod. Wenn man sie entschädigt hätte, wäre es nahezu unmöglich, einen Vergleich für Colin auszuhandeln. Irgendwann hätte ich es bestimmt geschafft, keine Frage. Aber ein Zivilprozess, zwei Jahre, nachdem schon ein Elternteil entschädigt wurde, das wäre ein harter Kampf geworden.«

Josie blickte Jude ausdruckslos an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Sie sah weder das üppige Grün auf der Terrasse hinter ihm noch sein Lächeln oder das Glitzern in seinen Augen. Ihr Gesichtsfeld hatte sich auf einen Farbtupfer auf seinem Hemd verengt, einen Aufdruck aus dünnen dunkelblauen, beigen und grauen Linien, die sich vor einem weißen Hintergrund kreuzten. Verzweifelt bemühte sie sich, die spärlichen Informationen so zusammenzusetzen, dass sie sich ebenso sauber ineinanderfügten wie das Karomuster dieses Hemdes. Keine technischen Mängel. Keine Zivilklage nach dem Unfall. Keinerlei Motiv bei Archer, ein Verbrechen zu begehen. Keinerlei Beweise, dass überhaupt ein Verbrechen geschehen war.

»Ich verstehe das nicht«, überlegte sie laut. »Selbst ohne technische Mängel hätte man das Unternehmen wegen menschlichen Versagens verklagen können. Wenn Lexi es richtig angestellt hätte, hätte Pacific Park sogar nach einem verlorenen Prozess gezahlt, um sie von öffentlichen Äußerungen abzubringen. Diese Leute hätten es sich viel kosten lassen, schlechte Publicity zu vermeiden.«

»Vielleicht fragen Sie mal Ihren Mandanten, wieso seine Frau nicht geklagt hat?«, regte Getts an. »Aber im Moment ist das alles ein ziemliches Rätsel. Wenn wir zusammenarbeiten, werden wir es früher oder später auflösen. Das wissen Sie, glaube ich.«

Josie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Glauben Sie etwa, Sie bekommen das Geld von Pacific Park schneller in Ihren Gierschlund, wenn Sie mich gönnerhaft behandeln?«

»Glauben Sie etwa, ich ändere meine Meinung, wenn Sie mich beleidigen?«, spottete Jude zurück. »Hören Sie, ich möchte hier etwas klarstellen. Ich schäme mich nicht für das, was ich tue. Ob Sie es glauben oder nicht, es geht hier nicht nur um Geld. Ich helfe Leuten, die meine Hilfe brauchen, und Colin Wren braucht sie.«

»Soll das ein Witz sein? Ein Mann, der seinen Sohn zehn von dreizehn Jahren ignoriert hat? Das ist die Art Mandant, dem Sie helfen möchten?«, fragte Josie.

»Sie haben nur Archers Aussage, dass Colin ein Widerling war«, erinnerte Jude sie.

»Die reicht mir«, versicherte ihm Josie.

»Und ich habe Colins Wort, dass er keiner war«, erwiderte Jude. »Und das reicht mir.«

»Nur zu. Irgendjemanden werden Sie schon davon überzeugen, dass Colin Wren von Tims Tod profitieren sollte.«

Jude schüttelte den Kopf und fuhr mit der Hand über die Stuhllehne. Jetzt war es vorbei mit dem Geplänkel.

»Sie sind offenbar eine gute Anwältin, Josie, aber sich so vollständig auf die Sicht Ihres Mandanten zu verlassen ist nicht besonders klug. Sie kennen Colin Wren nicht, Sie kennen mich nicht, und keiner von uns weiß, was hier wirklich passiert ist. Wenn Sie alles für bare Münze nehmen, was Ihr Mandant sagt, dann hat er einen Dummkopf zur Anwältin. Setzen Sie sich für seine Sicht der Dinge ein, aber lassen Sie sich nicht davon vereinnahmen, bevor Sie wissen, dass es die richtige ist.«

»Danke für den Ratschlag.« Gekränkt über die Zurechtweisung, deutete Josie auf die Mappe. »Ist die für mich?«

»Kopien von allem, was wir haben. Extra für Sie.« Lächelnd überreichte er ihr die Mappe.

»Danke.« Josie nahm sie an sich. »Ich übernehme das, Sie können sich also wieder dem zuwenden, was sonst so bei Ihnen ansteht.«

»Wohl kaum, Josie. Die nächsten paar Monate werden wir an der Hüfte verwachsen sein, Sie können sich also genauso gut entspannen.« Jude machte ein verschmitztes Gesicht. Seine Unbekümmertheit gefiel ihr gar nicht.

»Vergessen Sie es, Jude. Ich mag Ihre Arbeitsweise nicht.«

»Die hat bis jetzt ganz gut funktioniert, glaube ich.« Er tat gekränkt, dann wurde sein Gesichtsausdruck entschlossen, und er verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte genug von dem Rededuell. »Ohne mich säße Ihr Mandant immer noch im Gefängnis. Ohne mich hätten Sie jetzt keinen Vorsprung. Ohne mich wären Sie immer noch im Hintertreffen. Und ohne Colin würde Archer als ehemaliger Polizist im Gefängnis sitzen. Kein sehr angenehmer Ort für ihn.«

»Na schön, Ihre Spielchen und Ihre Sekretärinnen und Colin Wrens finanzielle Mittel sind ja ganz beeindruckend«, räumte Josie ein. »Aber ich habe meine Schwierigkeiten mit Ihnen. Das hier ist nicht lustig, und in Anbetracht der Tatsachen, dass ein Kind gestorben ist und der Mord einem Unschuldigen zur Last gelegt wird, ist Geld zweitrangig.«

»Glauben Sie mir, ich weiß, dass das kein Witz ist«, beharrte Jude, und Josie wurde klar, dass sich hinter Jude Getts’ Fassade ein stählerner Kern befand. »Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen, bei Herausforderungen zu Hochform aufzulaufen. Wenn ich lächle, dann, weil ich auf Touren komme. Weil ich ohne ein bisschen Leichtsinn verzweifeln würde über all das Unrecht, gegen das ich nichts tun kann. Aber vor allem, weil ich meinen Beruf liebe.« Er beugte sich vor, nahm einen Stift und zog ihn durch seine Finger. »Und weil ich darauf brenne, es mit Ihnen zu machen.«

»Worin natürlich keinerlei Doppelsinn liegt«, schoss Josie ungerührt zurück.

Jude lachte auf und warf den Stift beiseite. »Sie sind nicht mein Typ. Tolle Beine, aber ich brauche ein bisschen mehr Haare, um meine Finger darin zu vergraben. Und zwar blond, nicht brünett.«

»Na schön. Ich bin nicht Ihr Typ. Sie sind auch nicht meiner, weder in beruflicher noch in persönlicher Hinsicht. Dann lassen Sie mich mit meiner Arbeit weitermachen, allein bin ich nämlich besser.«

»Und ich möchte nicht, dass hier Missverständnisse aufkommen«, warnte Jude sie. »Wir wollen beide das Gleiche, nur aus unterschiedlichen Motiven. Es wäre unvernünftig, unsere schlauen Köpfe in dieser Sache nicht zu vereinen.«

Josie wollte gerade den Mund öffnen, um zu widersprechen, als ihr Handy klingelte. Sie wandte sich halb ab, um einen Anschein von Privatsphäre zu haben, und nahm den Anruf an, der ihrem Gespräch mit Jude Getts ein Ende setzte.

»Das war das Büro von Ruth Alcott. Sie ist die stellvertretende Staatsanwältin, die mit diesem Fall befasst ist, und sie hat jetzt Zeit für mich.« Josie hob die Mappe, die sie in der Hand hielt. »Also, danke für die Informationen. Ab hier komme ich alleine klar. Ich brauche keine weitere Hilfe von Ihnen.«

Jude krempelte die Hemdsärmel hinunter, nahm seinen Mantel und kam um den massiven Schreibtisch herum, während sie sprach. Er klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter und sagte im Vorbeigehen: »Machen Sie sich nicht lächerlich. Natürlich brauchen Sie die.«

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Die Leute am Strand machten nicht nur wegen Archers Aussehen einen großen Bogen um ihn, sondern auch wegen der Art, wie er sich fortbewegte. Er hielt die Arme seitlich angewinkelt und streckte das Kinn vor. Sein kräftiger Körper wurde vorwärtsgetrieben wie ein Geschoss auf der Suche nach dem Ziel. Archer ging, als könnte ihn nichts zum Stehenbleiben bewegen. Er wirkte gefährlich, und die Leute, an denen er vorbeikam, beobachteten ihn mit einiger Neugier und zugleich Erleichterung darüber, dass er sie nicht bemerkte.

Er verlangsamte sein Tempo nicht, als er sein Haus betrat und auf dem Weg nach oben immer zwei Stufen gleichzeitig nahm. Er ignorierte seine schmerzenden Rippen und das Pulsieren in seinem Kopf und brachte die drei Treppen in kaum sechzig Sekunden hinter sich.

Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Er stieß die Tür auf und ging auf geradem Weg zur Terrasse. Dann wieder in die Wohnung. Und wieder zurück. Dreimal wiederholte er das. Einmal blieb er neben dem Stativ stehen. Er erwog kurz, die Kamera einzuschalten, seine Wut durch das Objektiv brechen zu lassen, ruhiger zu werden, indem er das Meer abbildete, den Himmel, die Vögel, die Strandbesucher.

Scheiße.

Sein Geist zerfetzte die Idee wie eine überfällige Rechnung, die er nicht bezahlen konnte. Was nützte es schon, sich besser zu fühlen? Archer stampfte in die Wohnung und wieder auf die Terrasse und wieder in die Wohnung. Durch das Objektiv würde er nichts sehen, was er auch sonst gesehen hatte. Es war ein grauer Tag, ein verlorener Tag. Nichts sprach für diesen Tag, wie auch nichts mehr für ihn sprach. Dafür hatten der Staatsanwalt und diese Frau vom Pacific Park gesorgt.

Die Berichte in der Zeitung waren schon schlimm genug gewesen, aber seinen Namen in einem Atemzug mit Mord zu hören war ungeheuerlich. Gegen diese Pressekonferenz war er wehrlos. Archer hatte seine Zukunft in den Gesichtern der beiden Männer gelesen, die bei Burt Kaffee getrunken hatten. Sie hielten ihren Blick strikt nach Nordwesten gerichtet wie die Nadel in einem kaputten Kompass, aber unwillkürlich hatten sie doch immer wieder zu ihm hinübergelugt, um ihn verstohlen zu mustern. Auch Burts Blick hatte zweifelnd gewirkt. Burt, der nie zu jemandem ein böses Wort sagte, war auf einmal zurückhaltend und machte sich Gedanken, ob es wohl dem Umsatz schadete, wenn Archer dort hinten saß und so verdammt furchterregend aussah. Also war Archer gegangen. Er zahlte seine Rechnung und zog von dannen, und als er an Billy Zuni vorbei war, überlegte er, ob es feige gewesen war, nicht stehen zu bleiben, als der seinen Namen rief. Doch Archer konnte nicht stehen bleiben, denn ein Junge, der gesund und munter war, war das Allerletzte, was er sehen wollte.

Jetzt stand er wieder auf der Veranda, bebend vor Wut und Angst. Er brüllte auf und umklammerte die Balustrade der Terrasse, als würde er sonst aus der Welt fallen. Der raue Putz bohrte sich in seine Haut und drückte ein Muster hinein, bevor er wieder durch das Haus marschierte, auf der Suche nach etwas, das ihn von seinem Elend erlöste. Schnaps. Tabletten. Nicht sein Stil. Die Dienstpistole. An die hatte er bis jetzt nicht einmal gedacht.

Er hielt inne.

Dann ging er ins Schlafzimmer. Er würde sie suchen. Er würde sie anfassen. Benutzen würde er sie nicht, aber er brauchte die Gewissheit, dass sie da war. Noch fünf Schritte. Hart und schwer stampfte er über den Fußboden. Er kam nicht weit, denn beim Anblick von Lexis Foto blieb er unvermittelt stehen, dem kleinen Foto, das im Wohnzimmer ganz oben im Bücherregal platziert war. Ohne nachzudenken, als Reaktion auf die schiere Gegenwart des Bildes, brüllte er ein weiteres Mal auf, griff danach und schleuderte es gegen die Wand. Archer wusste nicht, wie lange er dort verharrt hatte, die Hände in die Hüften gestemmt und schwer atmend, aber lange konnte es nicht gewesen sein. Immer noch glaubte er zu hören, wie das Glas zersplitterte, und er nahm nur Lexis Gesicht wahr, das in dem kaputten alten Rahmen knitterte.

Ohne das schützende Glas, ohne Rahmen, der sie aufrecht hielt, ohne das glänzende Metall, das sie verschönerte, blickte Lexi ihn an, als hätte er sie hier verprügelt. Ihm war zumute, als hätte er sie niedergeschlagen und zerknickt auf dem Fußboden liegen gelassen.

Er fiel auf die Knie, griff nach dem Foto und ignorierte die blutende kleine Schnittwunde in seiner bloßen Hand, mit der er die Scherben zur Wand fegte. Dann ließ er sich auf die Fersen zurücksinken und nahm das Foto in beide Hände. Lexi lächelte immer noch, doch ihr wissender Blick durchschaute ihn und akzeptierte stoisch, was aus ihm geworden war. Wo eine Glasscherbe das Foto bis zu dem weißen Karton darunter durchschnitten hatte, zog sich ein Riss über ihre Wange. Das zerknitterte Foto ließ sie älter aussehen.

Langsam stand Archer auf, das Bild immer noch in den Händen. Ohne den Rahmen und die Glasscherben zu seinen Füßen zu beachten, versuchte er verzweifelt, die Falten zu glätten und das Papier glatt zu streichen, damit man den Schnitt nicht mehr sah. Es war zwecklos. Je mehr Mühe er sich gab, desto stärker stieg etwas in ihm auf. Wie ein Schrei fühlte es sich an. Wie etwas Lebendiges, etwas Gewaltiges, das immer größer wurde und sich nach Verdammnis anfühlte. Archer wollte sich von diesem schrecklichen Gefühl befreien, dieser Ahnung, dass sein Leben ihn eingeholt hatte. Vielleicht würde er dem entkommen, wenn er Lexi nicht mehr ansah.

Archer drehte ihr Gesicht von sich weg und wischte das Foto an seiner Hüfte ab, bevor er es zwischen zwei Bücher im Regal steckte.

Besser?

Noch nicht ganz.

Vorsichtig schob Archer das Foto weiter zwischen die Bücher, bis man den Rand nicht mehr sah. Er hatte ein kleines Loch geschaffen und Lexi ein weiteres Mal begraben, und dieses Mal war es leichter gewesen. In einer Minute oder einer Stunde oder einem Jahr würde Archer nicht einmal mehr wissen, wo sich das Foto befand.

Besser?

Nein, es war zu früh. Er wusste ja, dass Lexi dort war, durch seine Hand beschädigt, von seiner Furcht verbannt, eingekeilt zwischen zwei Büchern. Sie war in der Finsternis. Allein. Archer legte eine Hand auf die Bücher und ließ den Kopf dagegen sinken. Seine Lippen bewegten sich. Er hörte die Worte in seinem Kopf und verabscheute sich dafür, dass er sie aussprach, dass er sie dachte, sie in diesem Moment tatsächlich so meinte.

»Verflucht seist du, Lexi. Verflucht sei dieser Junge.«