KAPITEL 32

»HÖREN SIE DOCH auf. Sie hatten Ihre Chance bei Tim. Archer zu schaden wird Ihnen auch nicht damit helfen, dass Sie diese Chance verspielt haben«, beschwor ihn Josie.

»Treiben Sie es nicht zu weit, Ms Bates«, warnte Colin sie. »Ich will einzig und allein wissen, wer am Tod meines Sohnes schuld ist. Sie haben die Wahl. Entweder Sie besorgen mir eine DNA-Probe dieses Mannes, oder ich bitte die Staatsanwältin, dass sie es tut.«

»Damit Sie Archer fertigmachen können, wie es Ihnen beliebt?«

»Damit ich Gewissheit habe«, erwiderte Colin. Es klang wie ein unterdrückter Schrei. »Und sobald ich Gewissheit habe, werde ich alles tun, damit Ihr Mandant verurteilt wird, falls er es verdient. Und danach werde ich vor das Zivilgericht gehen und ihn bis auf den letzten Cent verklagen. Ich werde dafür sorgen, dass er nie wieder aus dem Gefängnis herauskommt, und wenn doch, wird er ohne einen Penny dasitzen. Ich werde ihn dazu bringen, dass er sich wünscht, so tot zu sein wie Tim.«

»Sie stellen uns vor die Wahl zwischen Pest und Cholera, Mr Wren. Ganz egal, wie das Ergebnis ausfällt, in Ihren Augen ist er jetzt schon schuldig.« Josie sah zu Jude hinüber. »Wie war das noch gleich mit Ihrem Mandanten, Jude? Erzählen Sie mir doch noch mal, wie sensibel er ist. Erzählen Sie mir von dem Leid, um das es hier angeblich geht, von den Vatergefühlen und der Bindung und dem ganzen Quatsch. Ich glaube, Mr Wren, dass Sie Archer hassen, weil er Ihre Frau hatte und Ihren Sohn nicht wollte und weil Sie dieses Kind auch nicht wollten. Ich glaube, dass Sie alles tun würden, um Ihre innere Not zu lindern, Mr Wren.«

Josie ging rückwärts von ihm weg, erst einen Schritt, dann zwei. Langsam näherte sie sich der Tür.

»Sie kassieren so oder so, nicht wahr? Aber ich werde nicht zulassen, dass Sie das auf Archers Kosten tun, weil er nämlich nichts verbrochen hat. Verstehen Sie mich? Er hat es nicht getan.«

Josie stürmte hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Die beiden Männer blickten ihr nach, bis sie in ihrem Wrangler davonbrauste.

Jude holte tief Luft. Er wollte gerade etwas zu Colin sagen – auch wenn er noch nicht genau wusste, was –, war dann aber nicht dazu imstande. Die Tränen in Colins Augen ließen ihm die Worte im Hals stecken bleiben.

Jude legte seinem Mandanten die Hand auf die Schulter und führte ihn nach draußen. Als er schließlich in seinem Wagen saß, fühlte Jude Getts sich eigenartig leer. Vielleicht waren Herausforderungen einfach nicht mehr so spannend wie früher. Vielleicht spielte es gar keine Rolle, dass Colin die Klage gegen Pacific Park zurückziehen wollte und Jude damit seine Rechnung in den Wind schreiben konnte. Vielleicht ging es bei dieser ganzen Sache gar nicht um den Sieg, sondern um die Wahrheit, und dieser Gedanke verursachte Jude Getts höllische Bauchschmerzen.

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Archer stellte sein Tablett auf das Förderband. Das Essen hier war ungenießbar. Für einen von Burts Burgern würde er einen Mord begehen und sonst was dafür geben, mit einem Bier zu Hause auf seiner Terrasse zu sitzen. Stattdessen befand er sich im Hauptbau des Männergefängnisses und musste auf der Hut sein. Keine Privilegien mehr. Archer hatte einen Prozess vor sich, und es ging darum, zu überleben, bis die Sache überstanden war. Um das zu schaffen, musste er ein paar Entscheidungen treffen. Vielleicht brauchte er einen neuen Anwalt. Einen, der …

»Ar-cher.«

Wie ein dünner Rauchfaden stieg sein Name auf und drang in sein Ohr. Keiner hatte es gehört, keiner außer ihm und dem Mann, der sich zu ihm vorbeugte, während sie durch den Hof schlurften. Archer drehte den Kopf und bekam eine vage Vorstellung davon, wer sein Spielgefährte war.

Mittelgroß, kräftig gebaut, kahl rasierter Kopf, Latino. Nur die eine Hand war sichtbar. Archer drehte den Kopf in die andere Richtung. Um die andere Hand des Mannes ins Blickfeld zu bekommen, müsste er sich umdrehen, und das wäre keine gute Idee. Es würde ihn aus dem Tritt bringen. Die Beine fest auf dem Boden zu haben bedeutete, dass er ausweichen, sich wegdrücken, beiseitespringen konnte, falls der Mann in der nicht sichtbaren Hand eine Waffe hielt. Also fügte Archer sich und atmete dabei die Ausdünstungen von hundert, nein tausend Männern ein, von allen, die seit dem Bau des Gefängnisses je in diesem Hof marschiert waren. Mit geschärften Sinnen achtete er auf Bewegungen oder Geräusche, die Schwierigkeiten erfahrungsgemäß vorangingen.

»Archer, stimmt’s? Detective? Westliches L.A., Mann. Stimmt’s? Stimmt’s? Ich glaub, ich kenn dich, Mann.« Verdammt, es war ein hässliches Geräusch. Ein Flüstern, das eigentlich gar keines war.

»Wer will das wissen?« Archer bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. Keine Furcht, jedenfalls keine, die der Mann hinter ihm wahrnehmen konnte.

»Nicht so wichtig. Ist nur ’ne Frage. Heißt, du hast ein Kind kaltgemacht. Nicht gut, Mann. Meine Jungs können das gar nicht leiden. Besonders, wenn’s ein Cop ist. Angeblich seid ihr doch Freund und Helfer. Stimmt’s nicht, Ar-cher?«

Der Mann ging so dicht hinter ihm, dass Archer seinen Atem im Nacken spürte. Er wappnete sich. Er ließ die Arme locker herabhängen. Machte sich bereit. Hob bewusst seine Füße und setzte sie wieder ab.

Wie hatte es nur so weit kommen können?

Er krümmte die Finger zur Faust.

Er hatte alles richtig gemacht. Fast alles.

Rechter Fuß hoch, dann wieder runter.

Gleichgewicht halten. Gleichgewicht halten.

Archer dachte die Worte, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergingen. Er drehte ganz leicht den Kopf und zählte die Männer in der Schlange. Vor ihm waren es elf, hinter ihm Gott weiß wie viele, und kein einziger, der ihm im Notfall helfen würde. Aber falls er es bis zur Tür und dem Wachmann schaffte. Falls ihm das gelang …

»Also, Ar-cher …«

Der Mann war jetzt so dicht hinter ihm, dass sein Becken gegen Archers Hinterteil drückte. Noch spürte er keine Hand auf sich, noch bohrte sich nichts durch seine Haut und zerfetzte ihm die Gedärme. Archer drehte erneut kurz den Kopf zur Seite, fing sich jedoch augenblicklich wieder. Keine raschen Bewegungen, nichts, womit er Aufmerksamkeit erregte, bis er näher bei der Tür, dem Wachmann und potenziellen Helfern war.

»Oh, ’tschuldigung, Mann. Tut mir leid, dass ich persönlich geworden bin«, kicherte sein Freund, und dann kam er.

Der Schlag. Er spürte einen heftigen Schmerz in der Nierengegend. Der Schmerz war unerträglich.

Archer verkrampfte sich. Er war kurz davor, zusammenzubrechen und sich der Furcht zu ergeben, die ihn im Griff hatte, als ihm klar wurde, dass es nur ein Witz sein sollte. Sein Freund kicherte.

»’tschuldigung, Mann. Muss besser aufpassen. Darf nicht so nah rangehen.«

Archer hob den Kopf. Noch sieben Männer vor ihm, dann war er dort. Dann war er in Sicherheit. Er würde Josie herbestellen, und die würde Schutzhaft für ihn erwirken. Josie würde …

Noch mal. Ein Schlag.

Herrgott, er hatte solche Angst.

Starke Finger, lange Fingernägel.

Hielt der Mann etwas in der Hand? Etwas mit einem Schaft?

Archer versuchte auszuweichen, doch als sich der Mann vor ihm umdrehte, lag in seinem Blick eine so ausgesprochene seelenlose Abneigung, dass Archer es aufgab.

Gott, hilf mir.

»Nicht so schlimm, Mann.« Wieder dieses raue Wispern. »Nur ein kleiner Stupser. Ich sag dir nur, was Sache ist, Mann. Nur ein …«

Gott, rette mich.

»He, du da.«

Der barsche Ausruf eines Wachmanns. Archer drehte den Kopf in seine Richtung, und mit ihm alle anderen Männer in der Cafeteria. Archer wurde schwindelig vor Erleichterung. Der Wachmann sah zu ihm herüber.

Danke, Gott.

Fürs Erste war es vorbei. Der Mann holte ihn aus der Reihe heraus, schickte ihn zu einer anderen Tür, fort aus dem Hof, fort von dem Kerl, der ihn erkannt hatte, der mit ihm spielte, der auf ihn wartete. Für die nächste Stunde war er in Sicherheit, und vielleicht würde er gar nicht mehr Zeit brauchen, denn der Wachmann hatte eine Nachricht für ihn.

»Deine Anwältin will dich sprechen.«

Manchmal lief es doch noch gut für ihn.

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Archer machte den Mund auf. Eine Frau in weißem Kittel nahm einen Abstrich von der Innenseite seiner Wange. Josie sah ihn an, die Augen so dunkelblau wie das Meer an einem stürmischen Tag und das Gesicht so hart wie kantige Klippen. Archer wandte von beidem den Blick ab. Er war wütend auf Josie, weil sie auf dieser Demütigung bestand, auf einem Nachweis wegen einer Tat, von der er schwor, sie nicht begangen zu haben. Also schloss Archer die Augen und ließ die Kriminaltechnikerin ihre Arbeit machen. Die Frau tat es desinteressiert, packte die Abstriche ein und durfte den Verhörraum verlassen. Josie wartete, bis die Tür zufiel.

»Ich habe Colin und Jude deutlich zu verstehen gegeben, dass ich den Test nicht will.«

»Wieso hast du ihn dann machen lassen?« Immer noch schaute Archer sie nicht an.

»Weil ich sichergehen will, dass du derjenige warst, nach dem er gegriffen hat, Archer. Ich will sicher sein, dass du der letzte Mensch warst, den Tim Wren berührt hat.« Josie sah Archer an. Sie hielt Ausschau nach dem leichten Zucken, das seine Schuld verraten hätte, nach dem Zittern, das auf eine Lüge gefolgt wäre.

»Vermutlich war ich es.«

»Hattest du denn Kratzer?«

»Weiß ich nicht mehr. Selbst wenn es meine DNA ist, wäre das kein Beweis dafür, dass Tim mich daran hindern wollte, seinen Gurt zu öffnen. Es beweist nicht, dass er mich während der Fahrt gekratzt hat. Du lieferst der Staatsanwaltschaft damit nur die Gelegenheit, es als Beweis hinzustellen. Geht es dir etwa darum?« Archer sah zu ihr hinüber.

»Ich bezahle für den Test. Ohne meine Erlaubnis dürfen die Ergebnisse nicht weitergegeben werden. Bevor irgendwas mit Lexis DNA weitergegeben wird, musst du deine Zustimmung geben. Nichts von alldem wird vor Gericht verwendet werden«, sagte Josie, doch Archer beruhigte das genauso wenig wie Jude.

»Irgendein Weg findet sich doch immer. Man kann ganz kleine, unbedeutende Dinge aufblasen, bis sie groß und bedeutsam wirken. Ruth Alcott ist eine Meisterin darin. Ich dachte, du wärst besser als sie.« Archer wandte den Kopf ab, sah jedoch gleich wieder die schweigende Josie an. Hier war er, der letzte Stein zu der Mauer, die sie trennte. Josie konnte ihm nichts anbieten, was ihn beruhigen würde. Archer stand auf. »Wir sind hier fertig, nehme ich an?«

»Nein, noch nicht«, sagte Josie und machte ihm ein Zeichen, sich wieder hinzusetzen. »Ich habe noch ein paar Fragen. Hast du Tim am Tag des Unfalls ein Medikament gegeben?«

»Nein«, antwortete Archer schlicht.

»Hat Lexi das getan?«

»Nein, und ich war an jenem Tag durchgehend mit den beiden zusammen.« Archer straffte die Schultern. »Das ist die Wahrheit, Jo.«

»Wer ist mit Tim zur Toilette gegangen?« Seine Beteuerung beeindruckte Josie nicht.

»Ich. Zweimal.«

»Tim hatte Phenobarbital im Blut«, informierte ihn Josie. »Irgendjemand muss es ihm verabreicht haben.«

Archer kniff die dunklen Augen zusammen und betrachtete Josie genauer. Sie wirkte ausgedörrt, als hätte etwas sämtliche Feuchtigkeit, die ihre Haut sonst schimmern und ihr Haar glänzen ließ, aus ihr herausgesaugt. Ihre blauen Augen wirkten gequält, mit dunklen Schatten, und lagen tief in einem Gesicht, das wie gemeißelt aussah. Ihre Hände zitterten, ohne dass es ihr bewusst war. Als sie es leid war, auf seine Antwort zu warten, gab Josie sie selbst. Sie klang völlig erschöpft.

»Irgendjemand muss es ihm verabreicht haben«, wiederholte sie und stand auf, um zu gehen.

Sie klopfte zweimal kräftig gegen die Tür, bis diese geöffnet wurde. Sie blickte noch einmal zu Archer hinüber und wartete auf den Satz, der alles wiedergutmachen würde.

»Ich habe dir bereits alles erzählt, was du wissen musst, Jo.«

»Was ist mit dem, was ich noch wissen sollte?«, fragte sie, leise Resignation in der Stimme.

»Das auch. Glaub doch, was du willst.«

Es waren Archers letzte Worte. Als Josie den Raum verließ, versuchte er nicht einmal, sie aufzuhalten.

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»Was meinst du? Kannst du mit dem Preis noch weiter runtergehen?« Roger McEntyre wusste, dass er nach dem Unmöglichen fragte.

»Tut mir leid, Roger, billiger geht es nicht. Mit zwanzig Riesen bekomme ich den Rotator wieder so hin, dass er wie neu ist. Wenn ich bei dem Ding noch mehr spare, kriegt ihr Probleme. Ihr wollt doch nicht noch mehr Probleme bekommen, oder?«

Roger blickte aus dem Fenster des kleinen Büros und hätte beinahe gelacht. Blackstone Engineering kümmerte sich schon über zehn Jahre um die Attraktionen im Pacific Park, und die Leute dort wussten genau, was ein weiteres Problem für den Park bedeutete. Außerdem wussten sie, in welchem Zustand der Rotator war, und hatten gerade die Hiobsbotschaft der anstehenden Reparaturkosten überbracht. Falls Colin offiziell seine Klage gegen Pacific Park zurückzog, würde Roger sich natürlich über nichts von alldem Sorgen machen müssen. Eigentlich hätte das Mitteilungsschreiben inzwischen eintreffen müssen, aber bis jetzt war nichts gekommen. Doch das wunderte ihn nicht. So einfach würde Jude Getts eine Zivilklage wegen fahrlässiger Tötung nicht einfach aufgeben. Solange sie in der Sache Timothy Wren also nicht offiziell aus dem Schneider waren, musste Roger selbst bei Blackstone Engineering das Geld zusammenhalten.

Sie hatten nie um den heißen Brei herumgeredet, was den Kompromiss zwischen Sicherheit und Kosten anging. Doch jetzt, da Greater United Parks Pacific Park mit Argusaugen beobachtete, würde eine teure Reparatur bei einer größeren Attraktion als weiteres Alarmzeichen gewertet werden. Isaac rechnete damit, dass die Reparatur des Rotators zwischen acht und zehn Riesen kosten würde. Bei zwanzig würde den Alten der Schlag treffen.

»Roger?« Mike Blackstone wartete noch immer. »Roger? Ich muss wissen, ob wir loslegen sollen. Wir sind bis Ende des Jahres schon fast ausgebucht, und ich kann dir nicht ewig einen Termin freihalten.«

Roger atmete tief durch und legte die Hand über die Augen. Er saß in der Klemme wie nie zuvor. Es war, als hätte er eine ganze Armee gegen sich: Colin Wren, Josie Bates, Jude Getts, der Dicke mit dem Ingenieurfreund. Selbst der tote Junge schien in letzter Zeit wieder lebendig zu sein. Aber er hatte schon früher gegen Armeen gekämpft und würde tun, was er immer getan hatte.

»Kein Problem. Legen wir den Termin fest, damit ihr anfangen könnt.« Roger griff in die Innentasche seiner Jacke und holte sein Scheckbuch und einen Kugelschreiber hervor. »Sorgt nur dafür, dass es für die Prüfbehörde gut aussieht, okay? Die kommen Ende des Monats wieder her.«

»Wird erledigt, mein Freund.« Mike sah zu, wie Roger einen Scheck ausfüllte, nahm ihn entgegen und runzelte die Stirn. »Ein persönlicher Scheck über zehn Riesen?«

»Der ist gedeckt.«

»Darum geht es nicht. Es ist nur ungewöhnlich. Willst du mir vielleicht irgendwas sagen, Roger?«, fragte Mike.

»Nur, dass das eine Sache zwischen dir und mir ist. Du stellst Isaac einen Kostenvoranschlag über zehn, löst meinen Scheck über die anderen zehn ein, und die Sache ist geritzt. Geht das?«

»Klar, wenn du es so haben willst.«

Mike legte den Scheck in seine Schublade. Sie vereinbarten einen Termin für die Instandsetzung. Nachdem Roger sich verabschiedet hatte, hatte er noch einen weiteren Termin – er traf sich auf einen Drink mit einem Vizedirektor von Greater United Parks, der gerne ein bisschen zu tief ins Glas schaute. Ein paar geschickt gewählte Worte, und dieser Vizedirektor würde nach ihrem Treffen überzeugt sein, dass Archer bereits wegen Mordes an Tim Wren verurteilt war, dass Colin Wren die Zivilklage demnächst fallen lassen würde und dass Pacific Park das Geschäft des Jahrhunderts war.