KAPITEL 2

JOSIE WAR SIEBENUNDZWANZIG gewesen, als der Anruf kam, dass ihr Vater krank war. Nein, das stimmte nicht ganz. Jemand von der Krankenhausverwaltung hatte angerufen und ihr mitgeteilt, dass ihr Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte. Es besteht ein Unterschied, ob einem mitgeteilt wird, dass jemand krank ist oder dass er einen Herzinfarkt gehabt hat. Doch Josie war dieser Unterschied egal. Ihr Dad hatte Schmerzen. Er brauchte sie. Mitten in einem Prozess war sie davongelaufen und hätte sich beinahe die Karriere ruiniert. Es gab durchaus Möglichkeiten bei Gericht, mit persönlichen Notfällen umzugehen, ohne dafür sanktioniert zu werden. Josie hatte keine Zeit gehabt, sich um das korrekte Prozedere zu kümmern.

Sie hatte Los Angeles mit dem nächsten Flieger nach Hawaii verlassen. Es war zwei Uhr morgens. Fünf Stunden lang schaute Josie aus dem Fenster in eine sehr dunkle Nacht. Sie las nicht, sie aß nicht, sie sah sich den Film nicht an und schlief auch nicht. Vor allem grübelte Josie Baylor-Bates nicht darüber nach, was sie wohl an ihrem Zielort erwartete. Das hatte ihr Vater ihr beigebracht, der bei der Marine gewesen war. Die wesentlichen Fakten kannte sie. In Hawaii angekommen, würde Josie zu Hochform auflaufen und Informationen sammeln, sich ein Bild der Lage verschaffen, mit den Fachleuten reden und Entscheidungen treffen, um das Überleben ihres Vaters zu sichern. Tränen, Angst, Hoffnungen und Gebete – solche emotionalen Dinge hielt sie unter Verschluss. Die bedeuteten eine Schwäche, die Josie sich nur selten gestattete – bis sie dann schließlich ankam und es zu spät war, um ihm zu helfen. Damals hatte sie zum letzten Mal geweint, zum letzten Mal gebetet. Er hätte es ihr nicht verübelt, das wusste sie. Wenn ein guter Soldat stirbt, ist so etwas verzeihlich. Aber das alles war lange her, und sie ließ sich nicht von Tränen oder Ängsten überwältigen, als sie jetzt auf dem Parkplatz neben der Festung namens Parker Center hielt, dem Hauptquartier der Polizei von Los Angeles.

Da sie sich hier auskannte, ging sie auf direktem Weg hinein, ließ ihre Handtasche kontrollieren, nannte den Grund ihres Besuchs und wartete auf den Polizisten, der sie wegen Archer angerufen hatte. Sie musste nicht lange warten.

»Josie Bates?«

»Ja.«

Sie wirbelte herum. Josie überragte den Polizisten um fünf Zentimeter, aber dafür wog er locker siebzig Kilo mehr. Trotz seines Alters und seines Umfangs war er immer noch im Dienst. Es hätte Josie gewundert, wenn er noch mehr als ein Jahr bis zum Ruhestand gehabt hätte.

»Newell«, sagte er, und sie schüttelten sich die Hand. »Ich war hier, als sie Archer hergebracht haben. Ich konnte zwar nicht mit ihm reden, aber ich weiß, dass Sie beide zusammen an der Rayburn-Sache dran waren, deswegen dachte ich, ich rufe Sie mal an.«

Newell führte sie in eine Ecke. Er würde keine Geheimnisse ausplaudern, wollte seine Einmischung aber auch nicht an die große Glocke hängen.

»Wieso hat er nicht selbst angerufen?«, fragte Josie leise, aus Rücksicht auf seine Situation.

»Er wurde nicht von uns eingebuchtet, deswegen weiß ich nicht genau, was los ist. Es wäre einiges nötig, damit wir einen von uns in den Knast bringen«, versicherte ihr Newell. »Ermittler von der Staatsanwaltschaft haben ihn verhaftet und hierhergebracht.«

»Haben sie ihm nicht erlaubt, jemanden anzurufen?«

Newell zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Ich sitze ja nur am Eingang. Sie sind direkt an mir vorbeimarschiert. Es ging ganz schnell, aber ich hab Archer sofort wiedererkannt. Wir waren vor hundert Jahren mal zusammen in der Polizeiakademie. Wir waren zwar nie dicke Freunde, aber einen Kerl wie Archer vergisst man nicht so leicht.«

»Ermittler der Staatsanwaltschaft?«, bohrte Josie nach.

»Oh ja. Ich weiß nicht, ob sie ihm den Anruf verweigert haben. Sie kennen doch John Cooper? Das ist ein Staatsanwalt, der sich nicht gern in die Karten schauen lässt. Wenn er uns da rausgehalten hat, dann ist er auf Ruhm aus – oder auf etwas anderes …«

»Was denn zum Beispiel?«, bohrte Josie weiter.

Aber er nahm sie beim Arm und zog sie ein Stück beiseite, weil zwei Polizisten in der Eingangshalle stehen blieben. »Vielleicht wollten sie ihn wieder herrichten. Er war übel zusammengeschlagen worden. Entweder hat Archer sich gewehrt wie der Teufel, oder er steht bei denen auf der Abschussliste, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Josie nickte. Sie wusste genau, wovon er sprach. Aber sie begriff trotzdem nicht, wieso man Archer hierhergebracht und ihn davor so zugerichtet hatte – Archer, der nie eine rote Ampel überfuhr, der sich mit jeder Faser seines Seins an die Gesetze hielt. Newell legte ihr die Hand auf den Arm. Sie hatte geschwankt, ohne es zu merken. Ihr Vater hätte die Augen zusammengekniffen, gerade so weit, um ihr zu verstehen zu geben, dass das jetzt nicht der Moment war, um weich zu werden. Sie legte ihre Hand auf seine.

»Danke für den Anruf. Ich regle das jetzt«, sagte Josie.

»Keine Ursache. Ich hatte den Eindruck, dass er Hilfe braucht. Ich an seiner Stelle wäre jedenfalls dankbar, wenn sich jemand einschaltet.«

»Ich behalte es für mich«, versicherte ihm Josie.

»Die können mir nichts anhaben. In drei Monaten bin ich im Ruhestand.«

Josie lächelte. »Trotzdem sind Sie ein Risiko eingegangen«, sagte sie.

»Na ja, vor ein paar Jahren hat Archer einem Freund von mir einen Gefallen getan. Mein Kumpel hatte nie die Gelegenheit, sich zu revanchieren. Jetzt sind wir quitt.«

Dabei ließ Newell es bewenden. In der Annahme, dass sie ihm folgen würde, setzte er sich in Marsch, doch Josie hielt ihn mit einer weiteren Frage auf.

»Newell.« Wieder trat sie dicht zu ihm heran. »Wer ist denn das mutmaßliche Opfer?«

»Einen Namen habe ich nicht. Irgendein Jugendlicher. Das ist alles, was ich weiß.« Er hob die Schultern, was seinen massigen Körper aus dem Gleichgewicht brachte. »Nun, nachdem Sie jetzt hier sind, wollen Sie ihn doch bestimmt sehen.«

»Allerdings«, murmelte sie und folgte ihm den Gang hinunter bis zu einer verschlossenen Tür. Der Mann, der vor der Tür stand, wirkte alles andere als freundlich; es ließ sich leicht erraten, wer in dem Zimmer war.

»Ich bin Archers Anwältin«, verkündete Josie.

Der Mann schien wenig beeindruckt, bis sie nach der Klinke griff. »Wir sind noch nicht fertig«, sagte er leise und legte seine Hand auf ihre.

Josie sah ihn an, ihre blauen Augen waren kalt. »Doch, sind Sie. Und wenn der Papst Sie geschickt hätte, es wäre mir egal. Solange ich nicht mit meinem Mandanten gesprochen habe, haben Sie hier nichts verloren.« Josie zog ihre Hand unter seiner hervor und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.

»Er hat keine Anwältin angerufen.«

»Ich weiß ja nicht, was man Ihnen in der Staatsanwaltschaft beibringt, aber Sie hätten ihn fragen müssen, ob er einen Anwalt will, bevor Sie ihn verhört haben. Gehört eigentlich zu den Grundlagen. Damit Ihre Fälle nachher nicht wegen eines Formfehlers eingestellt werden.«

»Ich weiß ja nicht, durch welche juristische Fakultät Sie sich gemogelt haben, aber Sie sollten nicht so dumm sein, uns einfach etwas zu unterstellen. Wir haben es ihm angeboten. Er hat abgelehnt«, schoss der Mann zurück.

Josie trat einen Schritt zurück und blickte durch das kleine Fenster in der Tür zum Verhörzimmer. Selbst von hier aus konnte man erkennen, dass es keine einfache Festnahme gewesen war.

»Vermutlich war mein Mandant nicht in der Lage, die Frage zu verstehen. In Anbetracht seines Zustands hat er wahrscheinlich gar nichts verstanden. Und jetzt schlage ich vor, dass Sie mich reinlassen, sonst wird Ihr Chef sich ein paar sehr direkte und sehr öffentliche Fragen zur Ermittlungsabteilung der Staatsanwaltschaft gefallen lassen müssen.«

Einen Moment standen sie da, der schwere Mann und die außerordentlich große Frau mit dem überaus kurzen Haar. Es war kein angenehmer Moment. Als er vorbei war, hatte Josie sich durchgesetzt. Der Mann klopfte und öffnete die Tür. Sein Partner schlüpfte hinaus. Schlanker, aber kein bisschen weniger arrogant, musterte er Josie von oben bis unten, während sein Freund abfällig »Anwältin« verkündete.

Die beiden Männer verschwanden und glitten durch den testosterongeschwängerten Gang, bis die Eingeweide des Parker Center sie verschluckten. Josie sah ihnen hinterher, das Gesicht grimmig, die Augen verengt. Wegen dieser beiden musste sie sich keine Sorgen mehr machen. Die würden in der bürokratischen Suppe verschwinden, nur um später wieder herausgefischt und einer Jury serviert zu werden, wenn es um die genauen Einzelheiten dieses Tages ging. Diese Männer würden sich an alles erinnern; Archer an fast gar nichts. Josie würde das für ihn regeln müssen.

Sie drehte sich um. Die eine Hand legte sie auf die Türklinke, die andere flach an die Tür, während sie sich kurz Zeit nahm, um sich Archer genau anzusehen. Bevor sie mit ihm sprach, musste sie sich erden. Sie war jetzt seine Anwältin und sonst nichts. Nicht Geliebte. Nicht Freundin. Sie durfte nicht die Frau sein, die den Boden liebte – wenn auch nicht anbetete –, auf dem er ging. Josie nahm jedes Detail wahr. Den leeren Raum. Den dunklen Tisch. Die vier Stühle. Archer, der auf einem von ihnen saß, die Beine gespreizt. Einen Arm hatte er aufgestützt und die Stirn in die Hand gelegt. Die Schultern hingen herab, der andere Arm baumelte zwischen seinen Beinen. Er litt Schmerzen, war möglicherweise verletzt und wahrscheinlich verängstigt.

Josie erbebte innerlich, die Angst kroch ihr Arme, Beine und Nacken hinauf, bis sie die Zähne zusammenbiss, weil ihre Knie und ihre Hände unkontrolliert, kaum wahrnehmbar zitterten. Zwei flache Atemzüge durch die Nase, und der Schraubstock um ihre Lunge ließ nach. Ein weiterer tiefer Atemzug, dann war sie bereit. Sie stieß die Tür auf, schlüpfte hinein und lehnte sich an die Tür.

Archer rührte sich nicht und blickte auch nicht auf, als er sagte: »Ich will dich hier nicht haben, Jo.«