KAPITEL 6

HERMOSA WAR IN Grau getaucht, als sei es über Nacht krank geworden. Ein farbloser, diesiger Dunst verdeckte die frühe Morgensonne; Nebel lag auf dem Wasser und trieb in Fetzen über den Strand, bevor er am Horizont versickerte und sich auflöste. Der Sand war kalt, die Brandung träge, und das alles drückte Josie nieder, während sie lief. Schließlich verlangsamte sie ihr Tempo zu Gehgeschwindigkeit, unfähig, die Energie für die letzte Meile aufzubringen. Sie legte die Hände an die Hüften und ließ den Kopf hängen. Sie musste tief Luft holen, um ihre Lungen zu weiten. Der Tag fühlte sich an, als sei jemand gestorben, und die Traurigkeit lastete schwer. Schließlich blieb Josie stehen und sah zu den Häusern hinüber, die den Strand säumten, halb in Erwartung, Trauerbänder darum zu sehen. Es war Archers Haus, auf das ihr Blick fiel, das alte Haus, das dem Betrachter unweigerlich ins Auge stach. Das Gebäude sah aus, als würde es sich absenken, doch Josie wusste, dass es nur eine optische Täuschung durch das schwache Licht war, das auf seinem Weg durch die diesige Luft gebrochen wurde.

In der Hoffnung, es könnte ihre Melancholie wegspülen, schaute Josie aufs Meer, aber die See belebte sie kaum mehr als die Stadt. Niemand befand sich im Wasser. Die Surfer saßen nicht auf ihren Brettern, die Kinder planschten nicht in den Wellen, die ans Ufer gespült wurden, kein Mädchen hob den Rock bis zu den Knien und lachte über die Kälte, während es ins Meer watete.

Josie blickte zum Pier hinüber. Zwei Leute gingen darauf entlang, hundert Meter voneinander entfernt, beide die Schultern in den Jacken hochgezogen. Das Leben als minimalistische Kunst.

Josie schaute zurück zum Fahrradweg, doch ihre Gedanken schweiften ab. Sie hatte ihre gewohnte Tagesroutine aufgeben müssen, und das brachte sie völlig durcheinander. Seit Hannah da war, hatten sich selbst ihre grundlegendsten Tagesabläufe geändert: der Zeitpunkt zum Laufen, der Zeitpunkt zum Duschen, der Zeitpunkt, an dem sie sich an den Schreibtisch setzte. Sie und Hannah hatten schon beinahe zu einem Rhythmus gefunden. Dann hatte die Schule angefangen, und wieder war alles anders geworden. Josie musste Hannah zur Schule fahren, was bedeutete, dass sie eine halbe Stunde später zum Laufen kam, und wie ein Kartenhaus fiel der Rest des Tages in sich zusammen. Sie würde sich anpassen, doch bis jetzt hatte sie sich an die veränderten Abläufe nicht gewöhnen können. Genauso wenig wie an die Schwere in ihrem Inneren, den Vorboten einer gewaltigen Umwälzung, den sie dort am Horizont, in dem düsteren Licht gleich hinter dem Dunst, auszumachen glaubte. Weil sie hier weder Trost noch Inspiration noch Antworten auf ihre Fragen fand, kehrte Josie dem Strand den Rücken zu, nahm ihr Tempo wieder auf und lief nach Hause, weg von dem aufziehenden Sturm.

Als Josie jetzt auf die Uhr schaute, lag sie nur fünfundvierzig Minuten hinter ihrem Plan, nach dem man früher die Uhr hätte stellen können. Sie war angezogen, die Termine für den heutigen Tag waren abgesagt, und bis zu dem Treffen mit Archer hatte sie noch eine Viertelstunde Zeit. Dennoch stand sie neben sich. Ihre Nacht war unruhig gewesen, der Morgen schweigsam, denn sowohl Hannah als auch sie behielten ihre Gedanken für sich. Der Lauf hatte die Verspannungen in Körper und Seele nicht gelöst. Auch der Spaziergang zu Burt brachte ihr leises Unbehagen nicht zum Verschwinden. Aus der Unruhe wurde Furcht, als sie die Tür öffnete und sah, wie Burt hinter der Bar über die Morgenzeitung gebeugt stand.

»Hey.« Burt hob die Hand und begrüßte Josie ohne sein übliches Lächeln.

Josie lächelte ihrerseits halbherzig, während sie sich durch die bunt zusammengewürfelten Tische schlängelte und nur stehen blieb, um eine Serviette aufzuheben, die beim Aufräumen am Vorabend liegen geblieben war. Sie stellte ihre große Tasche auf den Tresen, ließ sich auf einen Hocker gleiten und stützte das Kinn in die Hand.

»Ist Kaffee da?«

Burt schüttelte die Zeitung aus und legte sie auf die Bar, dann drehte er sich um, um ihr eine Tasse zu holen.

»Archer steckt mächtig in der Klemme. Er hat’s auf die erste Seite geschafft.« Burt hob leicht die Zeitung hoch.

Josie neigte den Kopf und zog den Kaffee zu sich heran. »Ich hab’s gesehen.«

»Steht wahrscheinlich nichts drin, was du nicht schon weißt. Es heißt, du hättest seine Kaution gezahlt.« Burt schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge gegen den abgebrochenen Zahn. »Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht – dass du wieder so einen großen Fall übernimmst oder dass Archer solchen Ärger hat. Mann, das Leben ist so verdammt seltsam.«

Josie nahm den Kaffeebecher zwischen die Hände. Der Kaffee war schwarz; sie trank ihn lieber mit Milch. Burt hatte es vergessen. Heute würde schwarzer Kaffee es tun müssen.

»Es ist schon für mich seltsam genug, aber wie du dich nach all diesen Jahren fühlen musst, Burt, kann ich mir kaum vorstellen«, meinte sie.

»Wie lange seid ihr jetzt schon zusammen?« Burt sah zu Josie herüber, während er sich aufrichtete und die Zeitung zusammenfaltete.

»Ein Jahr. Als die Sache mit Hannah losging, wollten wir gerade unseren Jahrestag feiern. Und jetzt das hier …«

Josie fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar, sah Burt an und überlegte, ob man ihr die Veränderung wohl anmerkte. Der Schock von gestern hatte sich wie ein Granatsplitter hinter ihren tiefblauen Augen festgesetzt. Entweder bemerkte Burt es nicht, oder er akzeptierte wie immer ganz einfach, dass schlimme Erlebnisse einen verändern. Wenn man nach einem Schicksalsschlag noch am Leben war, prima. So sah Burt das.

»Hm, lass mich mal nachdenken«, überlegte er. »Eigentlich kenne ich Archer erst ungefähr zwei Jahre, glaube ich.«

Josie hob die Augenbrauen. Noch mehr Überraschungen.

»Ich dachte, ihr zwei kennt euch schon ewig.«

»Für Hermosa Beach schon.« Burt lachte leise. Der abgebrochene Schneidezahn verlieh ihm etwas Jungenhaftes, trotz der sonnengegerbten Haut und der tiefen Furchen in seinem Gesicht. Er faltete die Zeitung in der Mitte und dann noch ein weiteres Mal, während er fortfuhr: »Archer und Lexi sind gleich nach der Sache mit dem Jungen hierhergezogen. Ich wusste das nur nicht, und ich wusste auch nichts von dem Jungen. Wahrscheinlich dachte ich, sie seien wie wir alle irgendwie in Hermosa hängen geblieben und hätten beschlossen, hierzubleiben.«

»Wie wir alle«, murmelte Josie.

Sie fuhr mit einem Finger am Rand ihrer Tasse entlang, enttäuscht von Archer wie auch von sich selbst. Eigentlich hatte er sie gar nicht belogen; sie hatte nur ein falsches Bild von ihm gehabt. Archers Wissen über Josie entsprach dem, was sie ihn wissen ließ; sie wusste über ihn das, was er ihr von sich erzählte. Sie hatten ihre Unabhängigkeit ausgekostet, aber jetzt wurde ihr klar, dass das ein Fehler gewesen war. Diese Erkenntnis stürzte sie in Verwirrung. Es war doch normal, dass man glaubte, alles über den geliebten Partner zu wissen – intuitiv, instinktiv und in allen intimen Einzelheiten –, mit dem man eine Bindung eingegangen war. Oder?

»Archer ist also vor zwei Jahren hier aufgetaucht. Hat er dir erzählt, wieso sie umgezogen sind? Wo sie vorher waren?« Josie stellte die Frage, als sei sie nur leicht überrascht und nur unwesentlich verletzt. Aber Burt konnte sie nicht täuschen. Ohne Witze zu reißen, kratzte er sich am Kinn und überlegte.

»Irgendwo im Valley.« Burt schüttelte den Kopf. »Verdammt, kannst du dir Archer im Valley vorstellen? Wenn ich mehr als fünf Minuten dort sein müsste, würde ich mich umbringen.«

»Burt«, mahnte Josie.

»Doch, wirklich«, beharrte er. »Wie auch immer, Lexi lernte ich als Erste kennen. Sie gehörte zu diesen Leuten, mit denen man sich gleich gut versteht. Eines Tages kam sie hier reinspaziert, und als sie wieder ging, waren wir Freunde. Verstehst du, was ich meine?« Burts Frage war rhetorisch. Er bemerkte nicht den Neid, der in Josies Augen aufflackerte, als er sich anerkennend über die andere Frau in Archers Leben äußerte, weil er zu sehr damit beschäftigt war, in sich hineinzulachen. »Sie war ein Hitzkopf, diese Frau. Hatte immer ihre Meinung und äußerte sie geradeheraus, als sei daran nicht zu rütteln. Und sie war einfach witzig. Echt amüsant. Nicht wie …«

»Ich?«, fragte Josie.

»Was soll’s, Josie.« Burt hob die Schultern. »Ihr seid eben verschieden. Du bist zwar ernster, aber genauso direkt wie Lexi. Sie war immer direkt. Das musste man ihr lassen …«

Burts Stimme wurde leiser, als er in der Küche verschwand. Josie hörte ihn etwas brüllen, ohne es richtig zu verstehen. Er kehrte mit einem Tablett voller Gläser zurück und stellte es klirrend auf die Bar.

»… und sie erzählte mir, dass sie vor Archer mit einem richtigen Arschloch verheiratet war. Übrigens erwähnte sie den Jungen nicht oder wie krank sie war. Sie war einer dieser Menschen, die andauernd reden, aber einem nur das erzählen, was sie wollen. Also, ich wusste, dass sie schon mal verheiratet war, aber das war’s auch schon.« Burt verlor das Interesse an den Gläsern und betrachtete den Spirituosenvorrat hinter der Bar. Er tauchte ab, kam mit einer Flasche Tequila wieder hoch, wischte sie an einem Hemdzipfel ab und fragte: »Wusstest du, dass sie Rettungssanitäterin war?«

»Nein.«

Josie hatte beide Hände um ihren Becher gelegt. Vorgebeugt saß sie da und hing an seinen Lippen. Burt hatte es immer locker angehen lassen, erst in der Highschool, bevor er Profivolleyballspieler geworden war, und dann bei der Eröffnung seines Restaurants, nachdem er sich bei dem Motorradunfall jeden Knochen im Leib gebrochen hatte und seine Sportlerlaufbahn beendet gewesen war. Sein abgebrochener Schneidezahn, ein Souvenir aus dieser schweren Zeit, erinnerte jeden daran, dass man manchmal einfach Pech hat. Josie und Archer hatten zur Zeit eindeutig Pech.

»Ja, und die gute Lexi war davon überzeugt, dass sie höllisch gut in ihrem Job war«, lachte er erneut und betrachtete den Bourbon, während er sprach. »Sie lernte Archer kennen, als man sie zu einem Fall von häuslicher Gewalt geholt hatte. Er wollte den Gerichtsmediziner rufen, weil er sah, wie erschöpft Lexi war. Außerdem war die Frau tot. Aber Lexi wollte nichts unversucht lassen. Sie glaubte an Wunder, diese Lexi.«

»Oder sie hielt sich für einen himmlischen Sendboten«, meinte Josie, nur um die Bemerkung gleich darauf zu bereuen. Sie relativierte sie mit einem Achselzucken und einer Erklärung. »Ich meine, ich habe schon Sanitäter erlebt, die so sind. Als wäre es zu schaffen, wenn sie sich nur mehr anstrengen.«

»Ich glaube, Lexi warf einfach nur nicht gern die Flinte ins Korn. Das war so mein Eindruck von ihr.«

Burt beendete seine Inventur, musterte jedoch ein letztes Mal die Flaschen, die ohnehin schon hinter der Bar aufgereiht standen.

»Dann war es für Archer also Liebe auf den ersten Blick?«, fragte Josie. Es war ihr zuwider, dass sie wie ein Schulmädchen klang, das herausfinden wollte, ob ihr Freund immer noch der Exfreundin hinterhertrauerte.

»So in der Art. Sie sagte zu ihm, er solle der Toten Respekt erweisen. Anscheinend nahm er die Schuhspitze zur Hilfe, um das Tuch über die Tote zu ziehen, als Lexi schließlich aufgab. Es imponierte Archer wohl, dass sie sich nicht von seiner Arroganz einschüchtern ließ, nur weil er Detective war.«

»Archer?«, schnaubte Josie belustigt, doch dann revidierte sie ihren Gedanken.

Wahrscheinlich war Archer, früher, als er noch das Kommando gehabt hatte, tatsächlich arrogant gewesen. Bei ihrem Kennenlernen hatte er jedenfalls eine gewisse Arroganz besessen, die einen Teil seiner Anziehung ausgemacht hatte. Josie war gegenüber seinem Werben nicht immun gewesen, weil es aufrichtig gewesen war. Als er dieses Foto von ihr am Strand geschossen hatte, das, auf dem sie verärgert war, weil sie einen einfachen Wurf vermasselt und damit den Punkt verschenkt hatte. Das Foto war der Türöffner gewesen. Er war zu dem semiprofessionellen Turnier gekommen und hatte sich ihr vorgestellt, obwohl Josie ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie kein Interesse habe. Dabei war Josie durchaus interessiert gewesen, denn Archer war anders. Er flirtete nicht wie die meisten Männer, die erst redeten und dann nachdachten. Er präsentierte sich ihr: stark, zuverlässig, solide. Josie schätzte das an ihm. Lexi war es vermutlich genauso ergangen. Unwillkürlich musste Josie lächeln, doch Burt bemerkte ihre Zerstreutheit gar nicht. Er redete immer noch.

»So hat Lexi es jedenfalls erzählt. Ihr zufolge hat sie es ihm nicht leicht gemacht, aber irgendwie imponierte es ihr, dass ein Kerl einfach hartnäckig blieb, obwohl sie so gemein zu ihm war. Sie stand total auf Treue und Beharrlichkeit, sagte sie.«

»Das kann ich gut verstehen«, erwiderte Josie. »Ich habe ihren Ex kennengelernt. Nicht gerade ein Typ, der in erster Linie an andere denkt.«

»Echt?« Burt warf das lange Haar zurück, in dessen ewiges sonnengebleichtes Blond sich allmählich graue Strähnen mischten. »Mann. Die Vergangenheit ist schon komisch. Kommt immer hoch, wenn man es am wenigsten erwartet, was?«

»Stimmt.« Josie schob den Kaffee zur Seite. Irgendwie war er kalt geworden, obwohl es ihr vorkam, als hätte Burt ihn gerade erst eingeschenkt.

»Hast du Hunger? Ich kann den Herd anwerfen. Ich hab Eier und Toast da. Keinen Speck. Würde dir guttun.«

»Nein, aber danke. Nett von dir.«

»Ich sollte wahrscheinlich mal darüber nachdenken, Frühstück auf die Speisekarte zu setzen, was?«, murmelte Burt, dann beantwortete er sich die Frage selbst. »Nee, lieber nicht. Gibt schon zu viel Konkurrenz hier.«

»Mit Mittag- und Abendessen bist du ganz gut ausgelastet, glaube ich.« Josie veränderte ihre Sitzposition. Sie war noch nicht bereit, das Thema Archer und Lexi fallen zu lassen. »Und wieso ist Archer nie zusammen mit Lexi hergekommen?«

»Darüber habe ich eigentlich nie nachgedacht; ich habe ihn nie gefragt.« Kurz herrschte Schweigen, dann sagte Burt: »Vielleicht wollte sie ja nicht, dass er mitkam. Vielleicht wollte sie einfach mal Zeit für sich allein. Wir haben immer ein bisschen geredet, dann hat Lexi ihren Kaffee genommen, sich an die Wand gesetzt und zum Strand rübergeschaut. Seitdem ich das von ihrem Jungen weiß, nehme ich an, sie wollte ein bisschen Zeit für sich, um an ihn zu denken.«

Josie schaute zum Fenster und malte sich aus, was Burt gesehen hatte. Lexi: zierlich und durchtrainiert, mit ihrem langen hellen Haar und diesem ausdrucksvollen Gesicht. Josie stellte sich vor, wie Lexi über das Ende des Lebens nachdachte und über die Frage, wieso Gott ihr so viel Unglück und Trauer geschickt hatte. Tim war tot, und Lexi würde als Nächste an die Reihe kommen. Ob es wohl genauso wehtat, zu sterben und den geliebten Menschen zurücklassen zu müssen, wie wenn dieser Mensch einfach verschwand wie Josies Mutter? Vermutlich. Es war egal, auf welche Weise man einen geliebten Menschen verlor, es zählte nur, dass er fort war.

Josie konzentrierte sich wieder auf Burt. »Glaubst du, dass Archer nicht mitkommen wollte?«

»Nee.« Burt schüttelte den Kopf. »Ich meine, es war ja nicht so, dass ich ihn nie gesehen hätte. Ich wusste, dass sie zusammen waren. Manchmal schob er sein Fahrrad neben ihr her, dann fuhr er los, kam wieder zurück, und sie liefen weiter nebeneinander her. Aber an den meisten Vormittagen war sie allein unterwegs. Es war immer nur Lexi, die hier reinkam.«

»Wie habt ihr euch dann kennengelernt, du und Archer?«, forschte Josie.

»Ein paar Wochen nach Lexis Tod kam er rein und sagte mir, dass sie gestorben ist. Archer hat mir erzählt, dass Lexi sich wegen mir in Hermosa zu Hause gefühlt hat. Das war nett von ihm. Dafür habe ich ihn gleich gemocht.«

»Er kann schon nett sein.« Josie atmete tief ein und stützte das Kinn in die Hand. »Und was hat Archer noch gesagt?«

»Du meinst, über sich und Lexi?«

Josie nickte.

»Nichts. Ich hab mir gedacht, dass er mir irgendwann schon seine Lebensgeschichte erzählen würde.«

»Und, hat er?«

»Nein. Er verschwand einfach von der Bildfläche. Ich dachte, er hätte die Stadt verlassen. Damals wusste ich noch nichts von Mexiko. Du weißt schon, diese Ausflüge, um zu fotografieren?« Die Ausflüge nach Mexiko. Ja, über die wusste Josie Bescheid. Oder? »Ich glaube, da ist er hingefahren. Ich dachte, er sei weggezogen. Dann tauchte er wieder auf. Aber das war ja klar. Ich meine, wieso hätte er wegbleiben sollen, nachdem Lexi ihm diese erstklassige Immobilie hinterlassen hatte?«

»Sein Haus? Das war ihres?« Josies Kaffee kam nie bis zu ihren Lippen. Langsam stellte sie die Tasse wieder hin.

»Oh Mann, tut mir leid, Josie, ich dachte, das hättest du gewusst.«

Josie schüttelte den Kopf. »Ich dachte, er hätte es gekauft, bevor der Markt verrückt spielte.«

»Nein, Lexi hat es nach der Scheidung bekommen«, sagte Burt.

»Und das hat Archer dir erzählt, aber das von dem Unfall mit dem Jungen nicht? Da war er ja ganz schön gesprächig«, meinte Josie grübelnd. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn.

»Lexi hat zu mir gesagt, Archer würde nach ihrem Tod bestens für die Strandmiezen gerüstet sein. Es war irgendwie süß, weißt du. Als wollte sie für ihn vorsorgen.« Burt ließ Wasser ins Spülbecken ein und fügte einen Spritzer Spülmittel hinzu. »Sie wäre bestimmt froh darüber, dass du jetzt für ihn da bist. Sie würde sich freuen, dass er das Haus nicht verkauft hat.«

Burt verschwand erneut, weil irgendetwas in der Küche seine Aufmerksamkeit erforderte. Josie hörte, wie er etwas auf Spanisch zu jemandem sagte. Ein Lieferant kam an die Hintertür; danach wohl jemand, der ein Almosen wollte. Als Burt mit einem weiteren Tablett Gläser zurückkehrte, lag auf seinem Gesicht ein Lächeln, und er äußerte etwas, bei dem Josie das Blut gefror.

»Weißt du, vielleicht sind wir ja auf dem Holzweg. Vielleicht war Archer ja wegen der Sache mit dem Jungen so reserviert. Wäre das nicht ein Ding, wenn er es tatsächlich getan hätte und danach untergetaucht wäre? He, Josie, wie hieß noch mal der Typ, der seine ganze Familie umgebracht hat? Er war Buchhalter oder so und legte sie alle hin, und dann verschwand er und heiratete nachher ein weiteres Mal? Wie hieß der noch mal, Josie?«

Burt füllte das darauf folgende Schweigen mit seinem Geplauder, spann Verschwörungstheorien und erfreute sich an der eigenen Fantasie, während Josie wie versteinert dasaß. Was Burt sich da zusammenfabulierte, war nichts als dummes Gerede. Dennoch, sie hatte es nicht sofort für unmöglich gehalten, dass Archer genauso gehandelt hatte. Selbst jetzt fiel Josie auf die Schnelle nichts ein, was Burt zum Schweigen gebracht hätte, und so machte er weiter.

»John Wayne Gacy? Nee, das war der Typ, der sich als Clown verkleidet hat … Der hat Jungs umgebracht … glaube ich jedenfalls. Aber der andere Kerl … Wie hieß der noch mal?«

»Hör auf, Burt. Das ist doch lächerlich. Du glaubst doch nicht wirklich, dass Archer zu so etwas imstande wäre?«

Burt sah auf. Er hatte sich gerade hinter den Tresen gekniet, die Unterarme auf das andere Bein gestützt, und öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, mischte sich jemand anders in das Gespräch ein.

»War diese Frage wirklich nötig, Jo?«

Langsam drehte Josie den Kopf. Hinter ihr stand Archer, der mehr Raum beanspruchte als je zuvor in ihrer Erinnerung. Er nahm die Sonnenbrille ab, die er trotz des trüben Wetters trug. Burt stand auf, und es klirrte, als er zu den Flaschen hinter der Bar zurückwich, schockiert von Archers übel zugerichtetem Gesicht. Aber Josie achtete weder auf die blauen Flecke noch auf die Schnittwunden. Sie sah Archer in die Augen. Ehemals ruhig und gleichmütig, waren sie jetzt so hart und trostlos und abweisend wie die Tundra.