KAPITEL 10

BEVOR RUTH ALCOTT zum dritten Mal geheiratet hatte, war sie zurück aufs College gegangen. Sie hatte ihr Jurastudium rechtzeitig abgeschlossen, um ihre Scheidung selbst in die Wege zu leiten, von einem Ehemann, der es sich übergangslos in einem Alltag bequem gemacht hatte, den sie langweilig fand. Jetzt, mit vierundfünfzig Jahren und finanziell unabhängig, verdiente Ruth gerade genug Geld, um sich Hosen mit Gummizug, flache Schuhe und jährliche Auslandsreisen leisten zu können, auf denen sie sich mittelalterliche Kirchen ansah. Ihr Ehemann hatte alle drei ihrer Laster gehasst.

Ruth Alcott war stellvertretende Staatsanwältin und gab sich keinerlei Illusionen hin, es noch zu etwas zu bringen, was man gemeinhin unter Erfolg verstand. Sie würde niemals Staatsanwältin werden – dafür war sie nicht fotogen genug. Eine eigene Kanzlei schied ebenfalls aus – nicht geldgierig genug. Sie würde nie wieder heiraten – zu egoistisch. Aber sie war eine gute Hilfsstaatsanwältin, denn acht Stunden pro Tag und fünfzig Wochen im Jahr war Ruth Alcott ein fanatischer Tugendbold. Wenn die Cops ihr etwas lieferten, bei dem es auch nur die leiseste Chance auf einen Prozess gab, dann hielt sie es für ihre Pflicht, die Sache bis zum bitteren Ende durchzufechten. In Ruths Augen war dieses Ende normalerweise ein Schuldspruch. Heute war Archer der Schurke, und Ruth saß hoch oben auf dem weißen Ross der Gerechtigkeit. Es war so hoch, dass sie nichts von dem zu hören schien, was Josie Bates gerade sagte.

»Hören Sie, Ruth, Ihre Leute haben Archer wieder und wieder provoziert.« Josie stand auf und beugte sich über Ruths Schreibtisch. Am liebsten hätte sie den Tisch leer gefegt, um Ruth zum Zuhören zu zwingen. Stattdessen senkte sie die Stimme und legte mehr Schärfe in ihre Ausführungen. »Es war schon schlimm genug, dass Sie ihn von Ihren eigenen Ermittlern haben verhaften lassen, und jetzt sind schon vierundzwanzig Stunden ohne eine Anhörung vergangen. Die Sache stinkt zum Himmel, Ruth.«

»Ich kann mich gar nicht erinnern, im Jurastudium gelernt zu haben, dass die Staatsanwaltschaft die Klageschrift der Verteidigung in vierundzwanzig Stunden vorlegen muss«, sagte Ruth, unbeeindruckt von Josies Empörung. »Ihr Mandant wurde über seine Rechte belehrt.«

»Nachdem Ihre Leute ihm das Gesicht auf die Straße gedrückt haben«, entgegnete Josie.

»Man hat ihm mitgeteilt, dass er wegen Mordes an Timothy Wren verhaftet wurde, und er hat keinen Anwalt verlangt. Wir haben uns strikt an die Regeln gehalten.«

Ruth beendete ihre Rede, als hätte Josie überhaupt nichts gesagt. Josie hob die Hände und riskierte gleichzeitig einen Blick in Judes Richtung. Vollkommen ruhig saß er da und hörte zu. Eins musste man ihm lassen: Wenn es nötig war, konnte er offenbar gut mit anderen zusammenarbeiten.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast glauben, dass Sie einem alten Freund von John Cooper einen Gefallen tun.« Erneut ging Josie auf Ruth los. »Alle, auch sein Bruder, wissen, dass Johns erster Job als Teenager im Pacific Park war. Jedes Mal, wenn er sich beim Wahlkampf den Medien als Mann von nebenan präsentiert, tischt er diese Anekdote auf. Und es ist auch kein Geheimnis, dass Pacific Park sich für diese Gratiswerbung jedes Mal mit einem netten, saftigen Scheck revanchiert. Wenn da nicht eine Hand die andere wäscht, wo dann?«

»Reizend, Josie, aber das zieht nicht, Sie brauchen also gar nicht erst zu versuchen, diese Behörde in Misskredit zu bringen«, blaffte Ruth. »Erstens ist nicht John hier der Ankläger, sondern ich bin es. Und fürs Protokoll, ich habe nie in Pacific Park gearbeitet. In diese niedlichen kleinen Uniformen hätte ich nicht mal mehr mit sechzehn reingepasst.«

»Aber John hält sich nicht raus. Er war auf der Pressekonferenz«, stellte Josie heraus. »Er hat keinen Grund für die Verhaftung meines Mandanten genannt. Also, entweder Sie lassen die Klage fallen und entschuldigen sich, oder Sie rücken jetzt mit der Begründung heraus.«

Ruth, glücklich über ihre ruhmreiche Aufgabe und über das Opfer, an dem sie sie exerzieren konnte, war in ihrem Element. »Kein Problem, Josie. Sie kriegen eine, Sie und Ihr Kollege. Sie hören doch noch zu, nicht wahr, Mr Getts?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Jude und schenkte Ruth ein strahlendes Lächeln.

Es beeindruckte sie nicht, und sie zog ihre Hose ein wenig hoch, um das zu beweisen. »Wunderbar. Dann komme ich gleich zum Punkt«, sagte Ruth, amüsiert über seine augenscheinlichen Flirtversuche.

Josie setzte sich neben Jude und schlug die langen Beine übereinander. Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf die Armlehne, legte einen Finger an die Lippen und sah Ruth gespannt an. Auf einem Stapel von Nachschlagewerken stand auf dem Büfett ein billiger Fernseher mit eingebautem VHS-Rekorder. Eine Kaffeetasse von Starbucks und eine braune Papiertüte teilten sich den Platz mit zerfledderten, von Eselsohren geschmückten Akten, Andenken von Ruths Reisen und zwei Schachteln. Die eine war voll, die andere nicht.

Ruth entnahm der einen Schachtel eine Videokassette, als würde sie ein Kaninchen aus dem Hut zaubern. Sie legte die Kassette ein und drückte mit einer kleinen, schwungvollen Geste auf »Play«, dann trat sie zurück und ließ als Zugabe noch einmal den Gummibund schnalzen. Als hätten sie nur auf ihr Stichwort gewartet, setzten die Bilder ein.

Es war die Aufnahme einer Überwachungskamera, die einen größeren Ausschnitt von Pacific Park zeigte. In der Ferne war die Schlange der Autos auf dem San Diego Freeway zu sehen. Auf den Gipfeln der San-Bernardino-Berge lag Schnee, der strahlend weiß in der herbstlichen Sonne von Südkalifornien funkelte. Vorne sah man das Shock & Drop: eine riesige, grobschlächtige Konstruktion aus Stahlrohren und Seilzügen, Hebeln und Zahnrädern, grellem Lack, Ölschmiere und Rost. An der Außenseite des Gebildes befanden sich Plattformen mit jeweils drei Plätzen. Leuchtend bunt. Fröhliche, schrille Farben. Allein schon der Anblick dieses Anstrichs bereitete Herzklopfen. Es waren Farbtöne, bei denen die Kinder kreischten und quengelten.

Ich will rot. Nein, gelb. Blau. Blau! Schon gut. Such dir eine Farbe aus.

Die Plattformen waren schmal: breit genug, um Füße in allen Größen aufzunehmen, klein genug, um gefährlich zu wirken, wenn man darauf stand. Die Fahrgäste wurden mit über ihre Schultern laufenden Gurten an einer Rückwand gesichert, die aus Plexiglas zu bestehen schien. Auf der Brust des angeschnallten Fahrgastes lag wie eine Tapferkeitsmedaille eine riesige Metallscheibe – der Verschlussmechanismus. Die Mitfahrenden hielten sich an Handgriffen fest, die sie zu einer aufrechten Position zwangen.

So lustig. So sicher. Etwas zum Festhalten. Etwas zum Draufstellen. Und ein Gurt. Ganz ungefährlich.

Dann kamen Leute ins Bild. Drei halbwüchsige Jungen lachten und johlten einander zu. Quälend langsam glitten sie über den Bildschirm. Josie gingen allerlei Fragen durch den Kopf. Wer waren sie? Freunde? Bekannte? Fremde, die nur die Vorfreude auf die Fahrt miteinander teilten? Hatten sie irgendetwas mit Tims Todestag zu tun? Wie alt waren diese Jungen? Sechzehn? Siebzehn? Es spielte keine Rolle. Jener Augenblick war schon lange vorbei. Inzwischen waren sie älter geworden. Tim Wren nicht.

In weiter Ferne glitt ein Flugzeug ins Bild und wieder hinaus.

Die Zahnräder des Shock & Drop drehten sich.

Die Jungen waren so ausgelassen, und da fiel es Josie auf einmal auf.

Etwas stimmte nicht ganz. Etwas fehlte.

Der Ton.

Es gab keinen Ton. Sie sahen einen Stummfilm. Josie blinzelte unwillkürlich und drehte den Kopf. Jude hatte sie berührt. Warnend bohrte er ihr den Finger in den Arm, damit sie sich vor ihrer Widersacherin nichts anmerken ließ, nicht einmal Neugier. Josie rückte von ihm ab, kam seiner Warnung jedoch nach. Ihre Miene blieb neutral, während sie verfolgte, wie die Jungen auf der Plattform aus dem Bild verschwanden. Zurück blieb nur die zentrale Schiene des Shock & Drop – aber nicht lange.

Mit einem Mal flogen die drei Jungen durch das Bild. Ihre Münder waren aufgerissen, ihre Jacken flatterten, und in ihren Gesichtern lag jämmerliche Angst. In diesem Bruchteil einer Sekunde hatten sie eine Lektion über das Erwachsensein gelernt: Das Leben hing an einem seidenen Faden. Ohne die Plattform, den Gurt, die Handgriffe wäre alles dahin. Die Kamera folgte ihnen bis zu einem bestimmten Punkt und blieb dort stehen. Die Fahrt pausierte. Sie ging noch eine Minute weiter – vielleicht auch weniger. Josie würde erfragen müssen, wie lange der Abstand zwischen der Abwärtsbewegung und den nächsten Fahrgästen war, aber ihr blieb keine Zeit mehr, die Frage zu stellen, bevor die Hauptdarsteller der Show ins Bild kamen.

Archer blickte geradeaus und wirkte lächerlich groß. Sein fassartiger Brustkorb wurde von dem Sicherheitsgeschirr zurückgehalten, die Griffe sahen in seinen riesigen Händen winzig aus. Spaß hatte er nicht.

Lexi, noch lebendig. Sie war krank, aber trotzdem die Art Frau, zu der Josie sich hingezogen gefühlt hätte. Kein Getue. Sie genoss die Fahrt, ohne dabei kindisch zu sein. Sie wollte das Erlebnis mit jemandem teilen. Von Archer war sie zu weit entfernt, also teilte sie es mit ihrem Sohn.

Tim Wren war auf andere Weise als Archer massig. Er war schlaff. Er hatte zu viel Volumen in der Körpermitte. Babyspeck in Kombination mit Muskeln, die weich und ohne Spannkraft vom Mangel an Bewegung waren. Auf der Oberlippe hatte er einen flaumigen Jünglingsschnurrbart. Man sah ihm die Pubertät an. Selbst auf dem Video waren seine Kraft und Unberechenbarkeit, seine Behinderung deutlich sichtbar. Tim hätte als gut aussehender Junge gelten können, wäre naturgegeben sein Aussehen nicht so offensichtlich durch seine körperlichen und geistigen Mängel verändert worden.

Sein Kopf bewegte sich in einem langsamen Wellenmuster, seine Augen hielt er geschlossen, als sei er blind. Die Lippen waren schlaff und standen leicht offen, vielleicht bildeten sie gerade ein Wort, ohne einen Satz formulieren zu können. Er hielt sich locker an den Griffen fest und hatte einen Arm in einem seltsamen Winkel angehoben. Seine Finger zuckten, als könnte er sich nicht richtig festhalten. Tims Knie wippten in einem Rhythmus, der für ihn vielleicht etwas bedeutete. Vielleicht war es aber auch nur eine unwillkürliche Reaktion auf Impulse aus seinem angegriffenen Gehirn.

Es gab so vieles an ihm zu beobachten, so vieles zu analysieren, aber in einem war sich Josie ganz sicher: Tim Wren war ein Kind, und Lexi liebte ihn. Man merkte es daran, wie sie ihre Griffe losließ und ihm den Arm tätschelte, wie sie ihn lächelnd ansah, den Kopf schief legte, wie sie versuchte, Blickkontakt mit Tim herzustellen. Josie sah, wie Lexi mit den Lippen die Worte »ich liebe dich« formte, während die drei gemeinsam hochgezogen wurden.

Und dann waren sie fort, genau wie die Jungen vor ihnen. Die Aufwärtsbewegung war zu Ende. Die Stille in Ruth Alcotts Büro war ohrenbetäubend. Es war stickig, und Josie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ohne es richtig zu merken, tastete sie nach Judes Arm. Er bewegte sich gerade so weit, um ihr seine Gegenwart zu signalisieren, doch bevor es zu einer Berührung kam, sausten Archer, Lexi und Tim erneut durch das Bild.

Einen Moment lang waren sie zu dritt, dann nur noch zu zweit.

Josie sah es. Jude sah es. Ruth Alcott hatte es schon früher gesehen und war mit ihrer kleinen Überraschung zufrieden. Mit unglaublicher Präzision spulte sie das Band zurück und spielte es erneut ab. Diesmal in Zeitlupe. Diesmal mit Erklärung.

»Ihr Mandant hatte die Hand auf dem Verschlussmechanismus, und danach fiel der Junge herunter«, erläuterte Ruth im entsprechenden Moment und hielt das Bild an, um zu unterstreichen, was sie meinte. »Wollen Sie es noch einmal sehen?«

»Nein.«

Josie hatte genug gesehen. Für den Bruchteil einer Sekunde befand sich Archers Hand vor Tim Wren. Die Hände des Jungen flogen nach unten. Lexi hatte – mit dem Arm, der neben Tim lag – im Schock nach oben gefasst; die andere Hand hatte sie vor den Mund geschlagen. Während die Kamera mit quälender Langsamkeit der hinunterfahrenden Plattform folgte, schaute Archer mit ausdrucksloser Miene nach unten. Lexi hatte den Kopf weggedreht, die Augen fest zusammengekniffen, den Mund verzerrt, ihre untere Gesichtshälfte eine Grimasse unaussprechlichen Schmerzes. Die Kamera folgte ihnen nur bis zu einem bestimmten Punkt. Josie schloss die Augen. Ihr krampfte sich der Magen zusammen, und sie empfand tiefes Mitgefühl mit Lexi. Diese Frau hatte nur noch warten können, bis sie zu der Stelle kam, wo Tim zerschmettert am Boden lag.

Ruth schaltete den Film aus. Eine kurze Pause entstand, dann redete sie weiter.

»Ich habe Ihnen eine Kopie anfertigen lassen. Sie werden sich das Band bestimmt ein paarmal ansehen wollen, um eine passende Erklärung zu finden. Sie können die Aufnahme auch gerne überprüfen lassen, aber es ist nicht der Mühe wert. Wir haben uns bereits von ihrer Echtheit überzeugt.« Ruth hantierte mit der Hülle des Videos und hielt ihnen die Kassette dann hin. »So etwas lässt sich schlecht wegdiskutieren, meinen Sie nicht?«

Jude sagte nichts und wartete darauf, dass Josie das Wort ergriff. Als sie schwieg, schaute er zu ihr hinüber und erkannte, dass sie blass war und am ganzen Körper zitterte. Sie war zutiefst erschüttert.

Ruth, die nichts davon bemerkte, kam immer mehr in Fahrt und berauschte sich an der eigenen Stimme.

»Eric Stevens, der Angestellte des Fahrgeschäfts, arbeitet immer noch im Park. Man hätte eigentlich annehmen sollen, dass er nach einem derart traumatischen Erlebnis gekündigt hätte. Aber er ist der Meinung, keinen Fehler gemacht zu haben, und ist sich keiner Schuld bewusst. Außerdem hat er ein sehr interessantes Detail beigesteuert. Er sagt, Ihr Mandant habe darauf bestanden, Tim den Gurt selbst anzulegen. Laut Stevens hat niemand je zuvor so etwas verlangt. Wenn das Video nicht wäre, könnten Sie natürlich behaupten, Archer hätte beim Anlegen des Gurtes einen Fehler gemacht. Aber die Aufnahme legt nahe, dass er irgendetwas tat, damit der Verschluss leichter aufging. Meiner Meinung nach ist sie höchst verdächtig.«

Ruth öffnete die Hände und hob sie in gespieltem Erstaunen zum Himmel, überaus zufrieden mit sich selbst.

»Es könnte alle möglichen Gründe dafür geben, dass Archer die Hand nach dem Jungen ausgestreckt hat«, widersprach Josie. Ihre Stimme klang ein wenig brüchig, doch langsam gewann sie die Fassung wieder. »Vielleicht hat Archer ja gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und wollte helfen. Dieses Video beweist gar nichts. Und dass er mit dem Gurt geholfen hat, beweist ebenfalls nichts – nicht ohne ein Motiv.«

Ruth berichtigte sie lächelnd. »Erstens hat er mit dem Gurt nicht geholfen, sondern ihn allein angelegt. Zweitens bin ich nicht verpflichtet, ein Motiv zu liefern, wie Sie sehr gut wissen.«

»Aber vor einer Jury sollten Sie besser eins präsentieren, das wissen Sie.« Gelassen mischte Jude sich in das Gespräch ein, wobei er aufstand und sich Schulter an Schulter neben Josie stellte. »Dass Ms Bates’ Mandant nach dem Verschluss gegriffen hat, bedeutet nicht, dass er ihn geöffnet hat. Ohne Motiv werden Sie die Geschworenen kaum davon überzeugen können, dass er diesem geistig behinderten Jungen etwas antun wollte. Man wird es Ihnen nicht abnehmen.«

»Vor allem nicht bei jemand wie Archer«, griff Josie das Argument auf. »Für so etwas kann es gar kein Motiv gegeben haben. Tim Wren war ein dreizehnjähriger Junge, und Archer war lange Jahre Polizist. Er hat nie jemandem etwas zuleide getan, nicht einmal den Verbrechern. Überprüfen Sie doch seine Akte.«

»Das habe ich getan. Und ich weiß, dass er so seine Probleme hatte«, erwiderte Ruth hintergründig. »Wie wir alle, Josie. Sie sollten sich nur darüber im Klaren sein, dass ich genug habe, um in der Voruntersuchung ein ausreichendes Motiv zu präsentieren, und können sich darauf verlassen, dass es am Schluss genug sein wird, um Ihren Mann für längere Zeit hinter Gitter zu bringen.«

»Dann bin ich mal gespannt, mit wem Sie gesprochen haben.«

»Das glaube ich Ihnen gern, aber ich werde meine Zeugenliste nicht offenlegen.«

»Das ist doch absurd.« Ruths geheimnistuerisches Lächeln brachte Josie zur Weißglut. »Legen Sie sie offen, sonst sind wir schneller vor Gericht, als Sie bis drei zählen können. Der Richter wird Verständnis haben, dass ich ohne Ihre Zeugenliste nicht ermitteln kann. Mein Mandant hat ein Recht, zu erfahren, wer ihn beschuldigt.«

»Nicht, wenn ich mir Sorgen darüber mache, was nach einer Offenlegung passiert«, konterte Ruth. »Ihr Mann ist ausgebildeter Ermittler und nicht besonders zurückhaltend. Wenn ich Ihnen meine Zeugen nenne, öffne ich der Einschüchterung Tür und Tor.«

Josie verdrehte die Augen. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Glauben Sie, ich schicke Archer los, damit er ein paar Leuten die Beine bricht? Kommen Sie, das ist doch hier nicht die Mafia.«

»Ich gehe ungern ein Risiko ein«, beharrte Ruth.

»Na wunderbar. Wenn Sie sich gerne blamieren wollen, dann bringen wir die Sache vor einen Richter. Erzählen Sie dem doch, dass Sie Angst davor haben, ein pensionierter Polizist ohne Vorstrafen könnte randalieren.«

Ruth dachte darüber nach, einen Finger an die Lippen gelegt. Schließlich gab sie nach. Wenn es der Sache nützte, nahm sie gern ein Unentschieden hin. »Was halten Sie von dem folgenden Vorschlag? Ich nenne Ihnen die Namen. Keine Telefonnummern oder Adressen vor der Voruntersuchung«, schlug Ruth vor. »Entweder das oder gar nichts.«

Josie und Jude wechselten einen Blick. Beide dachten das Gleiche. Josies einzige Chance war, die Zeugen in der Voruntersuchung anzufechten. Anhand der Liste die Kontaktinformationen selbst herauszufinden war letzten Endes effektiver als ein Gerichtstermin, um die Offenlegung zu erzwingen.

»Ich will die Liste bis morgen früh haben.« Josie legte ihre Visitenkarte auf Ruth Alcotts Schreibtisch, machte auf dem Absatz kehrt und war schon fast an der Tür, als Ruth sie noch einmal zurückrief.

»Haben Sie nicht etwas vergessen?«

Josie blickte über die Schulter. In der Hand hielt Ruth Alcott Josies Kopie des Films, den sie lieber nicht gesehen hätte.

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Roger McEntyre fuhr Auto wie eine alte Frau. Er hielt sich gewissenhaft an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. An Kreuzungen kam er vor der Linie zum Stehen. Er setzte so früh den Blinker, dass Archer schon eine Weile vor dem Abbiegen genau wusste, wo er hinsteuerte, und die ganze Zeit über schien McEntyre keine Ahnung zu haben, dass Archer ihm folgte. Ein Hummer, den man in mehr als dreihundert Metern Entfernung im Rückspiegel sah, hätte eigentlich einen Blick wert sein müssen, doch dann fiel Archer ein, mit wem er es hier zu tun hatte – einem Wachmann, nicht einem ausgebildeten Cop. Wahrscheinlich wurde McEntyre unvorsichtig, sobald er seinen Arbeitsplatz verließ.

Doch Archer irrte sich.

Zehn Sekunden, nachdem er seinen Wagen in die Garage gefahren und die Tür geschlossen hatte, öffnete McEntyre die Beifahrertür des Hummer. Archer hatte ihn nicht kommen sehen, und es war ihm ein Rätsel, wie McEntyre zur Straße gelangt war, bevor Archer den Motor abgestellt hatte. Nur mit Mühe verbarg er seine Überraschung, als der andere neben ihm Platz nahm, als würde er es sich zu einem freundschaftlichen Schwätzchen bequem machen.

»Sie haben undercover gearbeitet.« Archer begriff, dass er einen Exsoldaten vor sich hatte.

»Spezialeinheit. Zwei Einsätze am Golf, unter anderem«, sagte McEntyre. »Wenn Sie nächstes Mal reden wollen, machen Sie einen Termin.«

»Als ob Sie sich mit mir getroffen hätten.«

»Ich hätte vorher Ihre Anwälte angerufen. Schließlich bin ich ein vorsichtiger Mann. Vielleicht sollten Sie sich das auch angewöhnen. Nehmen Sie nächstes Mal die Familienkutsche, dann merke ich es vielleicht nicht, wenn sie mir hinterherspionieren. Wenn Sie mir in diesem Ding folgen, komme ich sonst noch auf die Idee, ich müsste mich schützen.«

»Vor mir? Das ist doch lächerlich.« Archer schüttelte den Kopf, als wäre die Vorstellung viel zu weit hergeholt, um sie auch nur in Betracht zu ziehen. Doch die Masche zog nicht. McEntyre ließ sich nicht einwickeln und würde sich auch nicht von einem anderen Tonfall und einer weniger bedrohlichen Haltung überzeugen lassen. Archer hob das Kinn und schaute durch die Windschutzscheibe. Es wurde langsam warm im Wagen. Sie waren beide kräftige Männer. Archer war zwar größer und breitschultriger, aber McEntyre bestand aus puren Muskeln und war ein paar Jahre jünger. Was er da spürte, war die eigene Körperwärme, und McEntyres kühle Musterung brachte ihn noch mehr in Harnisch.

»Und was kann ich für Sie tun, nachdem Sie nun mal hier sind?«

»Ich will wissen, was hier los ist. Ich will wissen, was Sie wissen.«

Archer legte den Arm über die Rückenlehne und veränderte seine Sitzhaltung, um Roger McEntyre ins Gesicht sehen zu können. Es war, als würde er in den Spiegel schauen. McEntyres Miene verriet nichts, genauso wenig wie Archers Ausdruck etwas preisgab.

»Ich weiß, dass ihr Freund Colin Wren in ein Wespennest gestochen hat, als er sich mit uns angelegt hat, und dass Sie dabei gestochen wurden«, sagte Roger. »Mehr darf ich Ihnen nicht verraten.«

»Das ist Blödsinn, und das wissen Sie genau. Egal, was der Staatsanwalt hat, er hat es von Ihnen, weil Sie an dieser Scheiße von Anfang an beteiligt waren«, schnaubte Archer, überrascht, dass McEntyre Spielchen spielen wollte.

»Sie vergessen, dass ich erst nach dem Tod des Jungen hinzukam. Ich habe Ihrer Frau beigestanden, ich habe für den Abtransport der Leiche gesorgt und den Kontakt mit unseren Anwälten hergestellt. Aber zuvor? Da war ich nicht dabei. Andere Leute vielleicht, aber nicht ich.«

»Sie haben Ihre Leute instruiert, und ich verwette jeden Cent, dass Sie als Einziger mit dem Staatsanwalt Kontakt hatten. Wie Sie selbst sagen, sind Sie ein vorsichtiger Mann. Sie müssen doch eine Vorstellung haben, mit wem die geredet haben und warum die glauben, ich könnte den Jungen ermordet haben.«

»Und ich darf Ihnen diese Informationen nicht geben, selbst wenn ich es wollte. Der Staatsanwalt wird mit Ihrem Anwalt reden, aber ich will meine Stellung bei der Firma nicht gefährden.« Roger ließ Archer nicht aus den Augen. Er schien kein Vergnügen aus der Frustration des anderen zu ziehen, aber auch kein Mitleid zu empfinden. »Wenn Sie noch Cop wären, würden Sie sich genauso verhalten. Fahren Sie nach Hause. Wren hat Geld und ist bereit, für Sie welches abzudrücken. Lassen Sie die Anwälte die Sache regeln. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Roger legte eine Hand auf den Türgriff. Mit einem leisen Klicken ging die Wagentür auf. Die frische Luft konnte nichts gegen die Hitze im Inneren des Hummer ausrichten. Archer streckte die Hand nach McEntyre aus. Der reagierte mit einer raschen Armbewegung und entspannte sich erst, als Archer sich wieder zurückzog.

»Ich habe nichts für Sie, guter Mann«, sagte Roger ruhig. »Abgesehen von einem Ratschlag. Tun Sie gar nichts. Verhalten Sie sich ruhig. Alles wird gut.«

»Ich brauche nicht viel. Geben Sie mir nur einen Fingerzeig.« Archer versuchte zu verhandeln, aber seine Stimme klang flehend, und er sah, dass McEntyre den Respekt vor ihm verlor. Und wenn schon. Notfalls würde Archer betteln. »Wir sind vom selben Schlag. Egal, was Sie getan haben, es gehörte zu Ihrem Job. Ich verlange nicht von Ihnen, die Hosen runterzulassen. Weisen Sie mir nur die grobe Richtung, damit ich herausfinden kann, womit ich es zu tun habe. Das hier bleibt unter uns.«

Roger dachte darüber nach. Er betrachtete Archer. Es war ein offenes Gespräch gewesen, aber das reichte ihm nicht. Er stieg aus, doch dann, als hätte er seine Meinung geändert, drehte er sich noch einmal um. »Sagen Sie einfach die Wahrheit. Mehr können Sie nicht tun. Verstehen Sie? Sagen Sie die Wahrheit und warten Sie ab.«

Mit diesen Worten schlug Roger McEntyre die Wagentür zu, machte kehrt und ging in das Haus, das er allein bewohnte. Er schaltete das Licht im Wohnzimmer ein, nahm den Telefonhörer ab und trat ans Fenster, während er die Auskunft wählte und nach der Nummer der Kanzlei von Josie Baylor-Bates fragte. Der Hummer stand immer noch da. Er konnte Archer hinter den getönten Scheiben zwar nicht erkennen, aber er wusste, dass der Mann in dem Wagen verwundet war und Angst hatte. Er würde ihm keine Schwierigkeiten machen. Als die Angestellte der Auskunft sich wieder meldete, prägte Roger sich die Nummer ein und wählte, ohne hinzusehen. Ein Anrufbeantworter ging ran. Bates’ Stimme klang nicht sonderlich angriffslustig, aber sie strahlte Intelligenz und Selbstvertrauen aus.

»Hier spricht Roger McEntyre, Chef des Sicherheitsdienstes von Pacific Park. Ihr Mandant war gerade hier und wollte zu mir. Falls er Fragen hat, sollte das lieber über Sie laufen. Diesmal ist es nicht weiter tragisch. Aber wenn es noch mal passiert, vielleicht schon.«

Roger legte auf und blieb stehen. Irgendetwas hatte sich da draußen verändert. McEntyres Sinne waren geschärft, seine Antennen in höchster Bereitschaft. Er spürte, dass Archer das Haus beobachtete. Er konnte fühlen, wie Archer innerlich vor Handlungsbedürfnis vibrierte. Er hatte sich erholt und bekam langsam wieder Oberwasser. Selbst aus dieser Entfernung war Roger klar, was sich dort abspielte, denn er selbst hätte sich genauso verhalten. Aber es war nicht er, der da draußen im Dunkeln saß, und er war auch nicht derjenige, der sich vorsehen musste, also vergaß Roger McEntyre Archer. Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge zu.

Er hatte getan, was er konnte.