52.

Polizeipräsidium Hamburg, Donnerstag, den 22. April, 21.30 Uhr

Fabel stand an der Schautafel und stützte sich auf den davor stehenden Tisch. Er betrachtete alle Informationen auf der Tafel, sah jedoch nicht das, was er dort sehen wollte, was er sehen musste. Außer ihm befand sich nur noch Werner im Büro. Er saß mit herabhängenden Schultern auf der Tischkante, und der Bluterguss an seinem Kopf trat durch die Blässe seines Gesichts noch stärker hervor. »Ich glaube, du solltest Feierabend machen«, sagte Fabel. »Der erste Tag nach der Rückkehr, du weißt schon.«

»Mir geht’s bestens«, beteuerte Werner ohne große Überzeugungskraft.

»Bis morgen dann.« Fabel sah zu, wie Werner hinausging, und drehte sich wieder zur Schautafel um. Der Mörder hatte erwähnt, dass Jacob Grimm die Märchen von Dorothea Viehmann gehört und dass er, der Mörder, eine ähnliche Erfahrung gemacht habe. Um wen handelte es sich dabei? Wer hatte ihm die Märchen erzählt? Er musterte die Fotos von Weiss, Olsen und Fendrich, die er an die Tafel geheftet hatte. Alte Frauen. Mütter. Weiss hatte eine italienische Mutter, die großen Einfluss auf ihn ausübte. Fabel wusste nichts über Olsens Eltern, aber Fendrich hatte bis zum Tod seiner Mutter offensichtlich eine enge Beziehung zu ihr gehabt. Und sie war kurz vor den Morden gestorben. Weiss und Olsen erschienen Fabel inzwischen nicht mehr verdächtig, also blieb nur noch Fendrich. Aber sobald man ihn unter die Lupe nahm, wirkte die Sache nicht mehr einleuchtend. Fabel betrachtete die Bilder der drei Männer erneut. Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können, und keiner schien der Richtige zu sein. In diesem Moment bemerkte Fabel, dass Anna Wolff neben ihm stand. »Hallo, Anna. Bist du mit Olsen fertig?« fragte er.

Anna schüttelte ungeduldig den Kopf. Sie hielt das Foto des letzten Opfers hoch, des augenlosen Bernd Ungerer. »Es gibt eine Verbindung«, sagte sie mit beherrschter Aufregung. »Olsen kennt Ungerer.«

Olsen saß noch an dem Tisch im Vernehmungszimmer, doch seine gesamte Körpersprache hatte sich geändert. Er sah eifrig, fast aggressiv aus. Sein Anwalt wirkte jedoch weniger munter. Schließlich waren sie mit der hartnäckigen kleinen Anna Wolff fast vier Stunden lang eingesperrt gewesen. »Herr Kriminalhauptkommissar, mein Mandant riskiert, sich noch weiter zu belasten, wenn er Ihnen bei Ihrer Ermittlung hilft.«

Fabel nickte ungeduldig. »Lassen Sie uns bitte hören, was Herr Olsen über seine Beziehung zu Herrn Ungerer zu sagen hat.«

»Ich hatte keine Beziehung zu Ungerer«, widersprach Olsen. »Er ist mir nur zwei- oder dreimal über den Weg gelaufen. Er war Vertreter. Ein schmieriger Drecksack.«

»Wo sind Sie ihm begegnet?«

»In der Backstube Albertus. Er hat teure italienische Backgeräte verkauft. Ganz modernes Zeug. Er ist monatelang hinter Markus Schiller hergelaufen, weil er ihn überreden wollte, sich neue Backöfen zuzulegen. Schiller und er sind gut miteinander ausgekommen… zwei Schleimscheißer, die zueinander passten. Ungerer ging dauernd mit Schiller auf Spesen zum Essen, aber er war auf dem Holzweg. Alle Entscheidungen wurden von Schillers Frau getroffen. Sie hatte das Geld und, wie ich gehört habe, auch den Mumm.«

»Wo und wann haben Sie ihn gesehen?«, fragte Anna.

»Ein paar Mal, als ich Hanna von der Bäckerei abgeholt habe.«

»Sie scheinen allerlei Informationen über ihn zu haben, wenn man bedenkt, dass Sie ihm nur flüchtig begegnet sind.«

»Hanna hat mir viel über ihn erzählt. Er hat sie dauernd angeglotzt. Jedes Mal, wenn er vorbeikam. Er war verheiratet, aber er galt als Frauenjäger. Ein Widerling – so hat Hanna ihn immer genannt.«

»Sie haben nie persönlich mit ihm geredet?«

»Nein. Ich hätte mich gern… unter vier Augen mit ihm unterhalten, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber Hanna hat mich aufgefordert, es bleiben zu lassen. Außerdem hatte sie sich schon bei ihrem Chef über Ungerer beschwert.«

»Und Hanna hatte nichts mit ihm zu tun, weder bei der Arbeit noch privat?«

»Nein. Sie meinte, dass es ihr kalt über den Rücken lief, weil er sie immer mit den Augen aufgefressen hat. Übrigens kann ich keinen Unterschied zwischen Ungerer und Markus Schiller erkennen. Beides Schleimscheißer. Aber Hanna muss das wohl anders gesehen haben.«

Fabel, der bisher Anna die Gesprächsführung überlassen hatte, beugte sich vor. »Herr Olsen, Sie sind das Bindeglied zwischen drei von fünf Mordopfern…« Er sortierte die Fotos auf dem Tisch und schob die Bilder von Paula Ehlers, Martha Schmidt und Laura von Klosterstadt zu Olsen hinüber. »Sagen Ihnen diese Gesichter etwas?« Er nannte die Namen und die Örtlichkeiten.

»Das Model kenne ich. Ich meine, ich weiß, dass sie berühmt ist und so weiter. Aber persönlich kenne ich keine von ihnen.«

Fabel beobachtete Olsen. Der Mann sagte entweder die Wahrheit, oder er war ein geschickter Lügner. Aber an Geschick fehlte es ihm. Fabel dankte Olsen und seinem Anwalt und ließ den Mechaniker in seine Untersuchungshaftzelle zurückbringen. Anna und Fabel blieben im Vernehmungszimmer. Sie hatten endlich eine Verbindung – eine Spur, der sie folgen konnten. Aber es war frustrierend, dass sie keinen weiteren Anhaltspunkt finden konnten, der sie näher an den Gesuchten heranführte.

Fabel rief seine Mutter an. Er fragte nach ihrem Befinden und bat sie dann, mit Susanne sprechen zu dürfen. Als sich Susanne meldete, teilt er ihr mit, dass er eine Kopie des Briefes zum Institut für Rechtsmedizin geschickt habe, und ging schon mal die Einzelheiten mit ihr am Telefon durch. Er verwies auf die Erwähnung von Dorothea Viehmann und die Unterzeichnung als »Märchenbruder« und wiederholte, was er von Weiss über beides erfahren hatte.

»Eine Möglichkeit scheint sich anzubieten«, sagte Susanne. »Vielleicht ist oder war eine Mutter oder eine andere ältere Frau der dominierende Faktor im Leben des Mörders. Aber genauso gut könnte sich aus der Unterschrift ›Märchenbruder‹ folgern lassen, dass ein Bruder eine große Rolle in seinem Leben spielte und dass er diese Beziehung nun auf Weiss überträgt. Ich werde mir den Brief sehr genau ansehen, wenn ich am Mittwoch zurückkomme, obwohl ich nicht glaube, dass ich viel herauskriegen werde.« Sie hielt inne. »Ist bei dir alles in Ordnung? Du klingst müde.«

»Die nächtliche Fahrt und der Schlafmangel machen sich allmählich bemerkbar«, bestätigte er. »Gefällt es dir bei uns?«

»Deine Mutter ist wunderbar. Und Gabi und ich lernen einander gut kennen. Aber ich vermisse dich.«

Fabel lächelte. Es war schön, vermisst zu werden. »Ich dich auch, Susanne. Dann bis bald.«

Er legte den Hörer auf und wandte sich zu Anna um, die grinste, als wollte sie sagen: »Ach, wie süß.« Er ignorierte ihren Blick.

»Anna…« Sein Ton war nachdenklich, als wäre die Frage noch nicht ausformuliert. »Du weißt doch, dass Fendrichs Mutter tot ist?«

»Ja.«

»Woher denn?«

»Na ja… weil er es mir erzählt hat. Ich habe nicht weiter nachgeforscht… Warum sollte er gelogen haben?« Sie überlegte, und dann leuchtete etwas hinter der Müdigkeit in ihren Augen auf. »Ich überprüfe die Sache, Chef.«