14.

Hamburg-Hausbruch, Sonntag, den 21. März, 15.30 Uhr

Als Fabel und Werner eintrafen, hatte die örtliche Schutzpolizei Vera Schiller bereits mitgeteilt, dass man eine Leiche gefunden habe, die allem Anschein nach die ihres Mannes sei. Bei der Durchsuchung der Taschen habe man eine Brieftasche und einen Personalausweis mit dem Namen Markus Schiller gefunden.

Holger Brauner und sein Spurensicherungsteam hatten die beiden abgestellten Fahrzeuge untersucht und bestätigt, dass das männliche Opfer im Innern des Mercedes ermordet worden war. Auf dem Beifahrersitz war ein »Schatten« zu sehen, wo das Mädchen gesessen und das Arterienblut des Mannes von den Lederpolstern abgehalten hatte. An den Leisten der Motorhaube befanden sich Blutspuren, und Brauner hatte aus ihnen gefolgert, dass das Mädchen aus dem Auto gerissen und ihre Kehle durchgeschnitten worden war, während der Täter sie auf die Motorhaube presste. »Wie auf einem Schlachtblock«, sagte Brauner. Das Spurensicherungsteam hatte die Aktentasche vom Rücksitz genommen. Sie enthielt nur ein Bündel Tankstellenrechnungen, eine Quittung für ein Bußgeld wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und ein paar Broschüren über kommerzielle Backgeräte und Backprodukte.

Das Haus der Schillers stand auf einem riesigen Gelände am Rand des Staatsforstes. Man näherte sich dem Haus durch eine Gruppe dicht gepflanzter Bäume, die sich dunkel an den Seiten der Auffahrt drängten, bevor sie von ausladenden Rasenflächen abgelöst wurden. Fabel hatte das Gefühl, wieder eine Lichtung im Wald erreicht zu haben. Das Haus war eine stattliche, im neunzehnten Jahrhundert gebaute Villa mit einer cremefarbenen Fassade und großen Fenstern.

»Mit Brötchen ist offensichtlich Geld zu verdienen«, murmelte Werner, als Fabel auf der makellosen Kiesauffahrt einparkte.

Vera Schiller öffnete selbst die Tür und führte die Männer durch eine mit Marmorfußboden und Säulen versehene Halle in einen geräumigen Salon. Sie bot den Polizisten an, auf einem antiquarischen Sofa Platz zu nehmen. Fabel bevorzugte zeitgenössische Möbel, aber er sah, dass es sich um ein wertvolles Stück handelte. Und es war nicht das einzige in Vera Schillers Salon. Sie setzte sich ihnen gegenüber auf einen Sessel, schlug die Beine übereinander und ließ die Hände – mit den Handflächen nach unten – auf ihrem Schoß ruhen. Sie war eine attraktive dunkelhaarige Frau von Ende dreißig, und alles an ihr – ihr Gesicht, ihre Haltung, ihr höfliches, schwaches Lächeln bei der Begrüßung – brachte eine krampfhafte Gelassenheit zum Ausdruck.

»Zuallererst möchte ich sagen, Frau Schiller, dass ich weiß, wie bedrückend dies alles für Sie sein muss«, begann Fabel. »Natürlich müssen Sie die Leiche erst einmal identifizieren, aber es gibt kaum einen Zweifel daran, dass es sich um Ihren Mann handelt. Ich darf Ihnen versichern, dass wir Ihren Verlust zutiefst bedauern.« Er rückte unbeholfen hin und her, denn das Sofa, das an die zweihundert Jahre alt sein musste, war ausgesprochen unbequem.

»Tatsächlich?« Vera Schillers Stimme enthielt keine Feindseligkeit. »Sie kannten Markus nicht. Und Sie kennen mich nicht.«

»Trotzdem tut es mir sehr Leid, Frau Schiller«, entgegnete Fabel. »Wirklich.«

Vera Schiller nickte brüsk. Fabel wusste nicht, ob sie hastig einen Damm um sich errichtet hatte, um ihren Kummer zurückzuhalten, oder ob sie schlicht gefühlskalt war. Er zog eine durchsichtige Spurensicherungstüte aus der Tasche. Durch den Kunststoff war Markus Schillers Foto auf seinem Personalausweis zu erkennen. Er reichte ihr den Beutel.

»Ist das Ihr Mann, Frau Schiller?«

Sie warf einen raschen Blick auf den Beutel und starrte Fabel dann an. »Ja, das ist Markus.«

»Haben Sie eine Ahnung, weshalb Herr Schiller so spät am Abend im Naturpark gewesen sein könnte?«, fragte Werner.

Sie lachte bitter. »Das liegt doch wohl auf der Hand. Wie ich hörte, haben Sie auch eine Frau gefunden?«

»Ja«, meinte Werner. »Eine Frau namens Hanna Grünn, soweit wir dies bisher ermitteln können. Sagt Ihnen der Name etwas?«

Zum ersten Mal zeigten Vera Schillers Augen so etwas wie Schmerz. Dann gewann sie ihre Selbstbeherrschung zurück, und sowohl ihr falsches Lachen als auch ihre Antwort waren von Sarkasmus getränkt.

»Treue war für meinen Mann ein so abstrakter und schwer verständlicher Begriff wie Kernphysik. Sie befand sich einfach jenseits seines Verständnishorizontes. Es gab zahllose andere Frauen, und ich kenne auch diesen Namen. Wissen Sie, Herr Hauptkommissar, was ich so geschmacklos an alledem finde, ist nicht die Tatsache, dass Markus eine Affäre mit einer anderen Frau hatte… daran bin ich nun wirklich gewöhnt…, sondern dass er nicht die Höflichkeit oder die Fantasie oder den Geschmack besaß, sich wenigstens außerhalb der Belegschaft umzusehen.«

Fabel tauschte einen raschen Blick mit Werner aus. »Dieses Mädchen hat für Sie gearbeitet?«

»Ja. Hanna Grünn arbeitet seit ungefähr sechs Monaten für uns. Am Fließband, unter Herrn Biedermeyer. Er kann Ihnen mehr über sie mitteilen als ich. Aber ich weiß noch, wie sie bei uns anfing. Sehr hübsch, auf eine provinzielle Art. Ich wusste sofort, dass sie Markus’ Kragenweite war. Aber ich hätte nicht gedacht, dass er eine der Arbeiterinnen ficken würde.«

Fabel erwiderte ihren Blick. Die Obszönität ließ sich nicht mit Vera Schillers demonstrativer Würde und Gelassenheit vereinbaren. Genau deshalb hatte sie das Wort natürlich benutzt.

»Sie verstehen bestimmt, dass ich Sie fragen muss, wo Sie gestern Abend waren, Frau Schiller?«

Wiederum ein bitteres Lachen. »Die wütende betrogene Ehefrau, die Rache nimmt? Nein, Herr Fabel, es gab für mich keinen Anlass, Gewalt anzuwenden. Ich wusste nichts von Markus und Fräulein Grünn, und es wäre mir ohnehin gleichgültig gewesen. Markus war klar, dass er gewisse Grenzen nicht überschreiten durfte. Mir gehört nämlich die Backstube Albertus. Es war das Geschäft meines Vaters. Markus ist…« Sie stockte, runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf, als wäre sie verärgert über ihre Unfähigkeit, sich der neuen Realität anzupassen. »…Markus war nur ein Angestellter. Auch dieses Haus gehört mir. Ich hatte keine Veranlassung, Markus zu ermorden, weil ich ihn mit einem einzigen Schlag um sein Einkommen und um sein Heim hätte bringen können. Für jemanden mit Markus’ kostspieligen Ansprüchen war das die größte Bedrohung.«

»Und wo waren Sie gestern Abend?«, hakte Werner nach.

»Ich war auf einer Veranstaltung in Hamburg, einem Ereignis der Catering-Branche, bis etwa ein Uhr morgens. Ich kann Ihnen das detailliert belegen.«

Fabel ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen. Hier war echtes Geld vorhanden. Eine Menge davon. Wenn man genug Geld und die richtigen Beziehungen hatte, konnte man in Hamburg alles kaufen. Auch einen Mörder. Er erhob sich aus der teuren Unbequemlichkeit des Sofas.

»Vielen Dank, dass Sie uns Ihre Zeit geschenkt haben, Frau Schiller. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern Ihren Betrieb aufsuchen und mit einigen Ihrer Angestellten sprechen. Wahrscheinlich werden Sie die Backstube für ein paar Tage schließen, aber…«

Vera Schiller unterbrach ihn: »Wir werden morgen wie üblich öffnen. Ich werde in meinem Büro sein.«

»Sie wollen morgen arbeiten?« Werner konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

Frau Schiller stand auf. »Sie können mich dort über die Formalitäten der Identifizierung in Kenntnis setzen.«

Als Fabel und Werner von der Auffahrt auf die Hauptstraße abbogen, schienen sich die Bäume hinter ihnen zu schließen. Fabel versuchte, sich vorzustellen, wie Frau Schiller nun in einem ihrer reich ausgestatteten Zimmer saß und wie die Dämme brachen, sodass die Flut ihres Kummers und ihrer Tränen freie Bahn hatte. Aber es wollte ihm nicht gelingen.