Hamburg-Bergedorf, Dienstag, den 30. März, 14.40 Uhr
Fabel verschätzte sich bei den Hausnummern und parkte zu weit unten in der Ernst-Mantius-Straße. Während er die kurze Strecke zurücklegte, kam er an drei imposanten Villen vorbei, von denen jede auf ihre eigene subtile Weise Reichtum ausstrahlte. Bergedorf lag von Blankenese aus auf der anderen Seite der Stadt, doch auch hier wurde Fabel unübersehbar daran erinnert, dass Hamburg die wohlhabendste Stadt Deutschlands war und welche Grenzen ihm sein eigenes Gehalt setzte.
Bergedorf gehört zwar zu Hamburg, aber es hat seine eigene Identität und ist als »Stadt in der Stadt« bekannt. Fabel befand sich im Bergedorfer Villenviertel, wo jedes der Häuser, an denen er vorbeischlenderte, mehrere Millionen Euro wert war. Schließlich erreichte er die gewünschte Hausnummer. Wie die Nachbargebäude war auch diese Villa dreistöckig. Die Wände waren in einem diskreten Blaugrau gehalten, von dem sich der weiße Stuck klar und frisch abhob. Eines der Zimmer im Erdgeschoss ragte hinaus in den Garten, und seine Decke bildete den Boden für einen Balkon vor dem Raum darüber. Blaue und weiße Markisen schützten die Fenster erwartungsfroh vor einer Sonne, die ihre Gegenwart noch kaum spüren ließ.
Fabel klingelte, und ein mächtiger Mann mit pechschwarzen Augen öffnete die Tür. Sein dichtes dunkles Haar war stark von Weiß durchsetzt und aus einer breiten Stirn zurückgekämmt, die sich über wulstigen Brauen erhob. Der breite, schwere Kiefer sprang unter dem fleischigen Mund ein wenig zu weit hervor. Hätte in den Augen nicht das Feuer einer dunklen Intelligenz gebrannt, wäre er einem Neandertaler nicht unähnlich gewesen.
»Kriminalhauptkommissar Fabel?« Der Mann in der Tür lächelte.
Fabel erwiderte sein Lächeln. »Vielen Dank, dass Sie mich empfangen, Herr Weiss.«
Gerhard Weiss trat zurück, machte die Tür weiter auf und bedeutete Fabel einzutreten. Fabel hatte Weiss’ Foto auf dem Umschlag von Die Märchenstraße gesehen. Das Bild gab den Autor recht genau wieder, aber es hatte keinen Hinweis auf seine Größe geboten. Er war mindestens so hoch gewachsen wie Olsen. Fabel schätzte ihn auf zwei Meter fünf. Er war froh, sich dem Schatten des Autors entziehen zu können, als dieser ihn durch die Eingangshalle in sein Arbeitszimmer führte. Dort bot er Fabel einen Stuhl an und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Das Arbeitszimmer war riesig. Fabel vermutete, dass es das Hauptzimmer im Erdgeschoss war und die Basis für den Balkon in der ersten Etage bildete.
Die prächtigen Möbel waren aus dunklem Holz in verschiedenen Tönen angefertigt worden. Der enorme Schreibtisch sah aus, als hätte man das Mahagoniholz eines halben Regenwaldes für ihn verwendet, und drei Wände waren mit vom Boden bis zur Decke reichenden, gut bestückten Bücherregalen gesäumt. Nur der Fußboden bestand aus hellerem Holz, wahrscheinlich aus roter Eiche, wie Fabel vermutete. Die Deckenleuchten waren eingeschaltet, ebenso wie Weiss’ Schreibtischlampe, sodass Lichtkreise auf die verschiedenen Holzoberflächen fielen. Diese zusätzliche Beleuchtung war sogar jetzt am Nachmittag notwendig, denn das dunkle, polierte Holz im Arbeitszimmer schien das Tageslicht aufzusaugen, das durch die auf den Garten und die Straße dahinter hinausblickenden Terrassentüren strömte. Weiss’ Schreibtischplatte war säuberlich aufgeräumt. Auf der einen Seite lag eine frühe Ausgabe der Grimm’schen Märchen, und in der Mitte stand Weiss’ Laptop. Aber der Schreibtisch wurde von einer ungewöhnlichen Skulptur beherrscht. Auch sie war aus Holz, doch aus einem tiefschwarzen Ebenholz.
Weiss bemerkte Fabels Blick. »Erstaunlich, nicht wahr?«
»Ja… ja, das stimmt.« Fabel musterte die Schnitzarbeit. Es war ein stilisierter Wolf mit einem gedehnten, leicht verdrehten Körper. Der schwere Schädel schnappte mit fletschenden Zähnen nach hinten. Es sah aus, als habe der Wolf etwas hinter sich gehört, sich plötzlich umgewandt und sei in dem Moment zwischen Überraschung und Angriff verewigt worden. Es war ein prächtig ausgeführtes Stück, und Fabel konnte sich nicht entscheiden, ob er es für wunderschön oder abscheulich halten sollte.
»Ein sehr begabter, sehr bemerkenswerter Mann hat das Stück für mich angefertigt«, erklärte Weiss. »Ein einmalig talentierter Künstler und ein Lykanthrop.«
Fabel lachte. »Ein Werwolf? So etwas gibt es nicht.«
»O doch, Herr Kriminalhauptkommissar. Lykanthropie existiert… nicht als übernatürliche Verwandlung eines Menschen in ein Tier, sondern als anerkannter psychiatrischer Zustand. Es gibt Menschen, die glauben, dass sie zu Wölfen werden können.« Weiss reckte seinen gewaltigen Schädel und betrachtete die Holz-Skulptur. »Der Schnitzer war ein enger Freund von mir. Er war völlig normal, außer bei Vollmond. Dann hatte er einen Anfall… eine Attacke, bei der er sich verbog und um sich schlug, an seiner Kleidung riss und dann einschlief. Das war alles. Andere, darunter auch ich, können es bezeugen. Nur ein Anfall, ausgelöst durch die leichte Druckveränderung der Gehirnflüssigkeit, die ein Vollmond verursacht. Aber was wir sahen, war nicht das, was er erlebte. Also bat ich ihn, den Moment einzufangen.« Weiss’ Augen warfen ein dunkles Licht auf die Skulptur. »Und das hier ist das Ergebnis.«
»Aha.« Fabel musterte das Kunstwerk erneut. Er hatte eine Entscheidung getroffen: Es war abscheulich. »Was ist aus ihm geworden? Wurde er geheilt?«
»Leider nicht. Er verbrachte mehr und mehr Zeit in Anstalten. Schließlich konnte er es nicht mehr ertragen und hängte sich auf.«
Weiss’ ausladende Schultern bewegten sich so unmerklich, dass man nicht von einem Achselzucken sprechen konnte. »Sie haben einen interessanten Namen, Herr Kriminalhauptkommissar. Fabel. Das passt sehr gut zu meiner Arbeit, denn schließlich könnte man sagen, dass ich Fabeln produziere.«
»Er ist offenbar dänischer Herkunft. In Hamburg scheint er verbreiteter zu sein als in jeder anderen deutschen Stadt, aber ich komme ursprünglich aus Friesland.«
»Äußerst interessant. Was kann ich für Sie tun, Herr Fabel?« Weiss betonte den Namen, als spiele er noch damit.
Fabel erklärte, welche Mordfälle er aufzuklären versuchte. Die Morde hätten ein gemeinsames, sich auf die Grimm’schen Märchen beziehendes Thema und seien vielleicht durch Weiss’ Roman Die Märchenstraße inspiriert worden. Als er geendet hatte, herrschte ein kurzes Schweigen, und in jenem Moment glaubte Fabel einen Anflug von Befriedigung in Weiss’ Miene wahrzunehmen. »Außerdem ist klar, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben«, schloss Fabel.
»Oder mit Serienmördern«, schlug Weiss vor. »Sind Sie noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass es sich um zwei Personen handeln könnte? Wenn diese Morde durch ein grimmsches Thema miteinander verbunden sind, dann sollte man daran denken, dass es schließlich zwei Brüder Grimm gab.«
»Diese Möglichkeit schließen wir natürlich nicht aus.« In Wirklichkeit hatte Fabel noch nicht daran gedacht, dass er es mit einem Team zu tun haben könnte. Allerdings war es durchaus vorstellbar, dass zwei Mörder zusammenarbeiteten, wie er aus einer seiner jüngeren Ermittlungen nur zu gut wusste. So ließe sich auch der Umstand erklären, dass Olsen ein Motiv für die Morde im Naturpark, nicht jedoch für die anderen hatte.
Fabel wechselte das Thema. »Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche, na ja, seltsamen Briefe erhalten, Herr Weiss? Es ist möglich, dass der Mörder – oder die Mörder – versucht hat, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.«
Weiss lachte. »Seltsame Briefe?« Er stand auf, wobei sich seine Gestalt bedrohlich im Zimmer abzeichnete, und ging hinüber zu einem hölzernen Stehpult an der einzigen Wand, die frei von Bücherregalen war. Die Fläche oberhalb des Pultes war mit gerahmten, altmodischen Illustrationen bedeckt. Weiss nahm einen dicken Ordner vom Stehpult und knallte ihn auf den Schreibtisch, bevor er sich wieder hinsetzte. »Das sind nur die letzten drei oder vier Monate. Wenn Sie darin etwas fänden, das nicht ›seltsam‹ ist, würde es mich sehr überraschen.« Er machte eine »Bedienen Sie sich«-Geste.
Fabel klappte den Ordner auf. Er enthielt zahlreiche Briefe, einige mit Fotos, andere mit Zeitungsausschnitten, die, wie die Absender meinten, nützlich für Weiss sein könnten. Die meisten bezogen sich augenscheinlich auf Weiss’ »Wahlwelten-Chronik«: Menschen mit einem traurigen, inhaltslosen Leben suchten Trost in einer alternativen, literarischen Existenz, indem sie sich von Weiss in eine seiner Geschichten einbeziehen ließen. Es gab einen sexuell sehr deutlichen Brief von einer Frau, die Weiss aufforderte, der »große, böse Wolf« für sie zu sein. Beigelegt war ein Foto der Absenderin, die nur ein rotes Käppchen und einen roten Umhang trug. Es handelte sich um eine übergewichtige Frau von etwa fünfzig Jahren, deren Körper den Kampf gegen die Schwerkraft offenbar schon vor einiger Zeit aufgegeben hatte.
»Das ist sehr wenig im Vergleich zu dem, was elektronisch an meine persönliche Website und an die meines Verlages geschickt wird«, erklärte Weiss.
»Beantworten Sie diese Briefe?«
»Jetzt nicht mehr, nein. Früher habe ich es getan – oder jedenfalls dann, wenn sie halbwegs vernünftig oder anständig waren. Aber nun habe ich einfach nicht mehr die Zeit dazu. Deshalb fing ich an, Gebühren zu verlangen, wenn Personen als Gestalten in meine Wahlwelten-Romane aufgenommen werden wollten.«
Fabel lachte leise. »Was müsste ich bezahlen, um eine Rolle in einem Ihrer Romane zu bekommen?«
»Herr Fabel, eine der Hauptlehren der Märchen lautet, dass man sich sehr genau überlegen muss, was man sich wünscht. Ich könnte Sie in eines meiner Werke einbauen, einfach weil ich Sie interessant finde und Ihren Namen für ungewöhnlich halte. Im Unterschied zu den Leuten, die für eine Mitwirkung bezahlen, sind Sie mir begegnet. Ich habe eine Vorstellung von Ihnen. Und sobald Sie in einer meiner Geschichten auftauchen, habe ich die totale Kontrolle über Sie. Nur ich entscheide Ihr Schicksal. Ob Sie leben oder sterben.« Weiss hielt inne, und seine schwarzen Augen unter den schweren Brauenwülsten funkelten. Die Werwolf-Skulptur blieb erstarrt in ihrem Zähnefletschen. Draußen auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. »Aber normalerweise verlange ich fünftausend Euro für eine halbseitige Erwähnung.« Weiss lächelte.
Fabel schüttelte den Kopf. »Der Preis des Ruhmes.« Er tippte auf den Ordner auf dem Schreibtisch: »Darf ich das mitnehmen?«
Weiss hob die Schultern. »Wenn Sie glauben, dass es Ihnen hilft.«
»Vielen Dank. Übrigens lese ich gerade Die Märchenstraße.«
»Gefällt sie Ihnen?«
»Ich finde sie interessant, wenn ich mich so ausdrücken darf«, erwiderte Fabel. »Im Moment konzentriere ich mich zu sehr auf eine mögliche Verbindung zu den Morden, um die literarischen Vorzüge des Buches einschätzen zu können. Und eine Verbindung kommt mir sehr wahrscheinlich vor.«
Weiss lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Hände, legte die beiden Zeigefinger aneinander und pochte sich damit ans Kinn. Es war eine übertriebene Geste der Nachdenklichkeit. »Es würde mich sehr bekümmern, wenn Sie Recht hätten, Herr Kriminalhauptkommissar. Aber das Hauptthema all meiner Arbeiten lautet: Die Kunst imitiert das Leben, und das Leben imitiert die Kunst. Ich kann niemanden durch meine Texte dazu bringen, einen Mord zu begehen. Solche Leute sind bereits Mörder oder potenzielle Mörder. Sie mögen eine Methode oder einen Tatort imitieren… oder vielleicht sogar ein Thema. Aber sie würden ohnehin morden, ob sie meine Bücher lesen oder nicht. Letzten Endes inspiriere nicht ich sie, sondern sie liefern mir eine Inspiration, wie sie es schon immer für Schriftsteller getan haben.« Weiss senkte seine Finger sanft auf den Ledereinband der Märchensammlung auf seinem Schreibtisch.
»Wie für die Brüder Grimm?«
Weiss lächelte, und wiederum flackerte etwas dunkel in seinen Augen. »Die Brüder Grimm waren Forscher. Sie haben nach absolutem Wissen gestrebt… über die Ursprünge unserer Sprache und unserer Kultur. Wie alle Männer der Wissenschaft ihrer Zeit, als sich die Wissenschaft zur neuen Religion Westeuropas entwickelte, beabsichtigten sie, unsere Vergangenheit unter ein Mikroskop zu legen und sie zu sezieren. Aber es gibt keine absolute Wahrheit und keine definitive Vergangenheit. Sie ist ein Tempus, kein Ort. Was die Brüder Grimm entdeckten, war die gleiche Welt, in der sie selbst lebten – die gleiche Welt, in der wir heute zu Hause sind. Sie fanden heraus, dass es nur der Bezugsrahmen war, der sich geändert hatte.«
»Wie meinen Sie das?«
Weiss erhob sich erneut aus seinem Ledersessel und winkte Fabel heran, der ihm hinüber zu der mit Bildern bedeckten Wand folgte. Es waren Illustrationen aus Büchern des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts.
»Märchen lösen nicht nur literarische Interpretationen aus«, erklärte Weiss. »Einige der besten Künstler haben ihr Talent zur Verfügung gestellt, um die Geschichten zu illustrieren. Das ist meine Sammlung: Gustave Doré, Hermann Vogel, Edmund Dulac, Arthur Rackham, Fernande Biegler, George Cruickshank, Eugen Neureuther – jeder mit einer anderen Interpretation.« Weiss machte Fabel auf ein Bild aufmerksam: Eine Frau betrat einen Raum mit einem Steinfußboden und ließ dabei entsetzt einen Schlüssel fallen. Ein aus einem Baumstumpf bestehender Hackblock und ein Beil befanden sich im Vordergrund der Illustration; beide waren, wie der sie umgebende Fußboden, mit Blut besudelt. Die Leichen mehrerer Frauen, sämtlich in Nachthemden, hingen wie an Fleischerhaken an den Wänden.
»Ich nehme an«, sagte Weiss, »dass Ihnen solche Szenen, vielleicht nicht ganz so extrem, durchaus vertraut sind, Herr Fabel. Es ist ein Tatort. Diese arme Frau hier…« Er tippte an das Glas, das die Illustration schützte. »…ist offensichtlich auf den Unterschlupf eines Serienmörders gestoßen.«
Fabel wurde von dem Bild angezogen. Es war im Stil des neunzehnten Jahrhunderts gefertigt und weckte zu viele Erinnerungen bei ihm. »Woher stammt diese Abbildung?«
»Sie ist das Werk von Hermann Vogel. Späte Achtzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Illustration zu Charles Perraults La Barbe bleue – Blaubart. Eine französische Geschichte über einen grausamen Adligen, der Frauen für ihre Neugier bestraft, indem er sie in einer geheimen Kammer seiner Burg tötet und verstümmelt. Es ist eine Erzählung, eine Fabel, und trotzdem eine universelle Wahrheit. Als Perrault seine Version niederschrieb, war die Erinnerung an reale Gräueltaten, die Adlige begangen hatten, immer noch sehr wach in der französischen Psyche. Zum Beispiel vergewaltigte und ermordete Gilles de Rais, Marschall von Frankreich und Waffengefährte der Johanna von Orleans, Hunderte von Knaben, um seine perverse, unkontrollierte Lust zu befriedigen. Oder nehmen wir Cunmar den Verfluchten, der die Bretagne im sechsten Jahrhundert regierte. Cunmar – oder auch Conomor, wenn Sie wollen – liefert vielleicht die engste historische Parallele zu Blaubart. Er enthauptete alle seine Frauen und schlug schließlich auch der schönen, frommen und hochschwangeren Triphine den Kopf ab. Diese Geschichte existiert übrigens in ganz Europa – bei den Brüdern Grimm als ›Fitchers Vogel‹, die Italiener nennen sie ›Silbernase‹, und der englische Blaubart heißt ›Mr. Fox‹. In allen führt weibliche Neugier zur Entdeckung einer geheimen, blutigen Kammer. Eines Mordgemachs.«
Weiss machte eine Pause, als betrachte er die Illustrationen erneut. »Hermann Vogel war Deutscher. Er illustrierte eine französische Sage, aber er konnte nicht anders, als etwas aus seinem eigenen kulturellen Hintergrund einzufügen. Der Hackblock und das Beil sind aus dem Märchen ›Fitchers Vogel‹ der Brüder Grimm entlehnt. Wie gesagt, die Geschichte wird überall in Europa erzählt, und die Details sind mehr oder weniger die gleichen. Es muss reale Ereignisse, möglicherweise die Taten von Cunmar dem Verfluchten, gegeben haben, die den Ausgangspunkt bildeten. Aber worauf ich hinauswill: Diese warnenden Geschichten für Kinder, diese uralten Fabeln und Sagen… sie alle beweisen, dass der Serienvergewaltiger oder -mörder oder -kinderentführer kein heutiges Phänomen ist. Der große, böse Wolf hat nichts mit Wölfen zu tun.« Weiss lachte. »Komischerweise war der Fluch, der Cunmar seinen Beinamen einbrachte, offenbar der, dass er seiner Sünden wegen in einen Werwolf verwandelt wurde. Irgendwann überschneidet sich alles Geschichtliche mit Mythen und Sagen.«
Weiss nahm einen Roman aus dem vor ihm stehenden Regal. Im Gegensatz zu den anderen war das Buch neu: eine gebundene Ausgabe in einer glänzenden Schutzhülle. Fabel konnte den Namen des Autors nicht erkennen, aber er war kein Deutscher, sondern Engländer oder Amerikaner. Weiss ließ das Buch auf den Ordner mit den Briefen fallen. »Heute erfinden wir diese Märchen ständig neu. Die gleichen Geschichten mit neuen Gestalten. Dies ist ein Bestseller über die Jagd nach einem Serienmörder, der seine Opfer rituell zerstückelt. So sehen unsere heutigen Märchen aus. Statt Elfen und Zwergen und hungrigen Wölfen, die in der Dunkelheit des Waldes in der Wildnis lauern, haben wir Kannibalen und Sezierer und Entführer, die in der Dunkelheit unserer Städte lauern. Es liegt in unserem Wesen, unser Böses als etwas Außergewöhnliches oder Anderes zu maskieren, und deshalb ist in Büchern und Filmen von Außerirdischen, Haien, Vampiren, Geistern oder Hexen die Rede. In Wirklichkeit gibt es nur ein Tier, das gefährlicher und raubgieriger ist als jedes andere in der Geschichte der Natur. Uns selbst. Der Mensch ist nicht nur das schlimmste Raubtier des Planeten, er ist auch das einzige Geschöpf, das aus reiner Lust tötet, zur sexuellen Befriedigung oder zur Durchsetzung der abstrakten Ideen eines religiösen, politischen oder sozialen Dogmas, das von organisierten Gruppen vertreten wird. Es gibt nichts Tödlicheres oder Bedrohlicheres als den einfachen Mann oder die einfache Frau auf der Straße. Aber das wissen Sie durch Ihre Arbeit selbst nur zu gut. Alles Übrige, all die Horrorgeschichten und Märchen und der Glaube an eine noch größere Boshaftigkeit – das ist ein Schleier vor dem Spiegel, in den wir jeden Tag blicken müssen.«
Weiss setzte sich wieder und bedeutete Fabel, seinem Beispiel zu folgen. »Am meisten fürchten wir unseren Nachbarn, unsere Eltern, die Frau oder den Mann neben uns in der U-Bahn… uns selbst. Und am schwersten fällt es uns, der ungeheuren Banalität dieser Tatsache ins Auge zu sehen.« Weiss drehte die schwere Schnitzarbeit auf seinem Schreibtisch ein wenig, sodass die gefletschten Zähne auf Fabel wiesen. »Das verbirgt sich in uns, Herr Kriminalhauptkommissar. Wir sind die großen, bösen Wölfe.«
Fabel starrte die Skulptur an und wurde wiederum von ihrer schrecklichen Schönheit angezogen. Er wusste, dass Weiss Recht hatte, denn er sah die Beweise tatsächlich in seiner eigenen Arbeit. Er kannte die brutale Kreativität, zu der der menschliche Geist fähig ist, um andere zu quälen. Oder zu töten.
»Sie meinen also, dass der Serienmörder keine heutige Erscheinung ist… dass wir früher bloß keinen Namen für ihn hatten?«
»Genau. Wir alle werden arrogant geboren, Herr Fabel. Jeder von uns glaubt, die Welt neu erfinden zu können, nachdem er in sie hineingeboren worden ist. Aber die traurige Wahrheit lautet, dass wir lediglich Variationen eines Themas sind… oder wenigstens einer gemeinsamen Erfahrung. Das Gute und das Böse auf der Welt wurden bereits vom allerersten Menschen mitgebracht. Es entwickelte sich mit uns. Darum haben wir uralte Volkssagen und Mythen. Die Brüder Grimm schufen sie nicht, sondern zeichneten sie nur auf. Keine ihrer Geschichten war ihre eigene Erfindung, sondern sie sammelten nur alte Volksmärchen im Rahmen ihrer philologischen Forschung. Die Existenz dieser Erzählungen und die in ihnen allen enthaltene Warnung, sich ›nie weit von zu Hause zu entfernen‹ und ›sich vor Fremden zu hüten‹, sind ein Beweis dafür, dass der Serienmörder kein Nebeneffekt des modernen Lebens ist, sondern uns während unserer gesamten Geschichte begleitet hat. Und die Märchen müssen durch reale Ereignisse inspiriert worden sein, also durch wirkliche Entführungen und Morde. Genauso verbirgt sich die Wahrheit der Lykanthropie, des Mythos vom Werwolf, im Unvermögen früherer Generationen, Psychopathien zu erkennen, zu definieren und zu begreifen. Jeder, Herr Fabel, akzeptiert, dass wir häufig Tatsachen in Dichtung verwandeln. Und ich behaupte, dass wir umgekehrt auch Dichtung zu Tatsachen werden lassen.«
Fabel musterte Weiss bei dessen Vortrag. Er versuchte herauszufinden, was das dunkle Feuer, die Leidenschaft in den Augen des Schriftstellers anfachte. »Also wenn Sie Jacob Grimm als Kindermörder beschreiben, glauben Sie dann auch, dass sich Ihre dichterische Schöpfung in eine Art Wahrheit verwandelt?«
»Was ist die Wahrheit?« Weiss’ Lächeln hatte etwas Herablassendes, als fehle Fabel der Intellekt, ihm die Frage zu beantworten.
»Die Wahrheit«, erwiderte Fabel, »ist eine absolute, unumstößliche Tatsache. Ich habe es jeden Tag mit der Wahrheit, der absoluten Wahrheit, zu tun. Mir ist klar, was Sie sagen wollen… dass die Wahrheit manchmal abstrakt oder subjektiv ist. Jacob Grimm war kein Mörder. Die Person, die ich suche, ist ein Mörder. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Die Wahrheit. Und ich muss herausfinden, ob Ihr Buch ihn in irgendeiner Weise inspiriert hat.«
Weiss machte eine ergebene Geste mit den Händen. Mit großen, kräftigen Händen. »Stellen Sie Ihre Fragen, Herr Kriminalhauptkommissar.«
Das Gespräch dauerte weitere zwanzig Minuten. Weiss’ Kenntnis von Mythen und Märchen war umfassend, und Fabel machte sich Notizen, während der Autor sprach. Aber irgendetwas an Weiss gefiel ihm nicht. Der Mann hatte etwas Bedrohliches an sich, nicht nur wegen seiner Größe – er vermittelte nicht das gleiche Gefühl aufgestauter Gewalt wie Olsen –, sondern vor allem wegen seiner pechschwarzen Augen. Sie enthielten etwas geradezu Unmenschliches.
Schließlich erklärte Fabel: »Aber das sind letzten Endes nur Märchen. Sie können doch nicht wirklich glauben, dass sie alle auf reale Ereignisse zurückgehen?«
»Wirklich nicht?«, entgegnete Weiss. »Nehmen Sie die russische Geschichte von der Hexe Baba Jaga, in deren Hütte alle Möbel aus Knochen bestehen. Sie haben bestimmt von Ed Gien gehört, dem amerikanischen Serienmörder, der als Vorbild für das Buch und den Film ›Psycho‹ und auch für ›Das Schweigen der Lämmer‹ diente. Als die Polizei sein Farmhaus durchsuchte, fand sie Stühle und Hocker aus Menschenknochen und einen fast vollständigen Bodysuit aus der Haut toter Frauen. Wie gesagt, niemand ist einzigartig. Es muss schon vorher zahllose Ed Giens gegeben haben. Höchstwahrscheinlich lieferte eine frühe russische Vorlage den Stoff für das Märchen von Baba Jaga. Und vergessen Sie nicht, Herr Fabel, dass viele dieser Volksmärchen bereinigt worden sind. Nehmen Sie Ihr ›Dornröschen‹-Opfer. In dem ursprünglichen Märchen wurde sie nicht durch einen keuschen Kuss geweckt, sondern es handelte sich um eine Geschichte von Vergewaltigung, Inzest und Kannibalismus.«
Als Fabel, den Ordner mit den an Weiss geschriebenen Briefen unter dem Arm, wieder auf der Ernst-Mantius-Straße stand, empfand er das Bedürfnis, tief durchzuatmen, als müsse er seinen Körper von innen säubern. Er wusste nicht, warum, aber er hatte das Gefühl, aus einer Höhle entkommen zu sein. In Weiss’ Arbeitszimmer mit dem glänzenden dunklen Holz hatte er sich beengt gefühlt. Hier draußen war die Sonne durchgebrochen und tauchte die altehrwürdigen Villen in ein warmes Licht. Fabel betrachtete jede einzelne, während er zu seinem Auto zurückkehrte. Wie viele verborgene Zimmer, wie viele dunkle Geheimnisse verbargen sich hinter den eleganten Fassaden?
Er ließ sein Handy aufschnappen. »Maria? Fabel. Ich möchte, dass du mir detaillierte Information über Gerhard Weiss besorgst. Alles, was du finden kannst.«