Polizeipräsidium Hamburg, Mittwoch, den 17. März, 16.30 Uhr
Die frische, helle Morgenkälte war einer ungemütlichen Diesigkeit mit natriumfarbenem Himmel gewichen, der sich träge von der Nordsee vorgeschoben hatte. Ein schwaches Nieseln besprenkelte Fabels Bürofenster, und die Aussicht auf den Winterhuder Stadtpark schien ihr Leben und ihre Farbe verloren zu haben.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches saßen zwei Personen: Maria und ein stämmiger, schroff wirkender Mann von Mitte fünfzig, auf dessen Kopf schwarz-graue Borsten schimmerten. Kriminaloberkommissar Werner Meyer arbeitete seit vielen Jahren mit Fabel zusammen, länger als jeder andere im Team. Der rangniedrigere, doch ältere Werner war nicht nur Fabels Kollege, sondern auch sein Freund und häufig sein Ratgeber.
Werner hatte den gleichen Dienstgrad wie Maria Klee, und die beiden bildeten Fabels unmittelbare Zuarbeiter im Team. Doch Werner war die Nummer eins, denn er besaß mehr praktische Erfahrung als Maria, die sich während eines Jurastudiums und dann später an der Polizeifachhochschule und an der Landespolizeischule hervorgetan hatte. Ungeachtet seines groben Äußeren und seines massigen Körpers zeichnete sich Werner durch methodische Gründlichkeit und Aufmerksamkeit für Details aus. Er befolgte stets die Vorschriften und hielt seinen Chef oft im Zaum, wenn dieser sich zu weit auf einem seiner »intuitiven« Pfade vorwagte. Er sah sich als Fabels Partner, und es hatte einige Zeit – und etliche dramatische Ereignisse – erfordert, bevor er sich an die Arbeit mit Maria gewöhnte.
Inzwischen waren die beiden jedoch ein erfolgreiches Gespann. Fabel hatte sie wegen ihrer Unterschiede zusammengebracht: weil sie verschiedenen Polizeigenerationen angehörten und weil sie Erfahrung mit Fachkenntnis, Theorie mit Praxis kombinierten. Doch was sie wirklich zu einem schlagkräftigen Team machte, war ihre Gemeinsamkeit: ein kompromissloser Einsatz für ihre Aufgaben als Mitglieder der Mordkommission.
Es handelte sich um das übliche Planungstreffen. Bei Mordfällen gibt es zwei Ermittlungsmöglichkeiten: die energische Jagd, wenn man eine Leiche kurz nach dem Tod gefunden hat oder wenn klare Beweise den Weg vorgeben; oder die Verfolgung einer kalten Spur, wenn sich der Mörder bereits zeitlich und geografisch von der Tat entfernt hat und der Polizei nur bruchstückhafte Hinweise hinterlässt, die sie mühselig zusammenfügen muss. Die Ermordung des Mädchens am Strand war ein Fall der zweiten Art: ohne erkennbare Spuren und Motive. Sie würden umfangreiche Nachforschungen anstellen müssen, bevor die Sache Formen annahm. Das Treffen am Nachmittag war deshalb typisch für derartige Vorbesprechungen. Sie sichteten die dürftigen Fakten und verabredeten weitere Sitzungen, um die kommenden Berichte der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin unter die Lupe zu nehmen.
Die Leiche war der Ausgangspunkt: kein Mensch mehr, sondern eine Ansammlung materieller Einzelheiten, die Aufschluss geben über Zeit, Art und Ort des Todes. Mögliche DNS-Daten und andere Spuren des Täters auf der Leiche würden den ersten Schritt für die Identifizierung des Mörders einleiten. Im Mittelpunkt der Besprechung standen die verschiedenen Ermittlungsaufgaben. Zunächst mussten sich fast alle mit der Feststellung der Identität des toten Mädchens beschäftigen. Fabel wollte ihre Identität unbedingt herausfinden, aber zugleich war dies auch der Moment, den er am meisten fürchtete, denn dadurch wurde die Leiche zu einer Person und die Fallnummer zu einem Namen.
Nach dem Treffen forderte Fabel Maria auf, noch in seinem Zimmer zu bleiben. Werner nickte seinem Vorgesetzten wissend zu, wodurch er die Peinlichkeit der Situation unterstrich. Maria Klee – sie trug eine teure schwarze Bluse und eine graue Hose, ihre Beine waren übereinander geschlagen und ihre langen Finger um ihr Knie verschränkt – saß ausdruckslos und etwas förmlich da und wartete darauf, dass Fabel das Wort ergriff. Wie immer drückte ihre Haltung Verschlossenheit und Beherrschung aus, und ihre blau-grauen Augen unter den fragend gewölbten Brauen blieben distanziert. Alles an ihr deutete auf Zuversicht, Selbstkontrolle und Autorität hin. Aber im Moment gab es etwas Unbehagliches zwischen Fabel und ihr.
Sie hatte ihre Arbeit einen Monat zuvor wieder aufgenommen, und dies war der erste große Fall seit ihrer Rückkehr. Deshalb wollte Fabel, dass das Ungesagte ausgesprochen wurde. Die Umstände hatten Fabel und Maria zu einer einzigartigen Intimität gezwungen, einer engeren Intimität, als hätten sie miteinander geschlafen. Neun Monate zuvor hatten sie mehrere Minuten gemeinsam unter einem Sternenhimmel auf einem einsamen Feld im Alten Land verbracht. Der Atem der beiden hatte sich miteinander vermischt, und die selbstbewusste Maria Klee war durch die sehr reale Furcht, sterben zu müssen, in ein kleines Mädchen verwandelt worden. Fabel hatte ihr den Kopf gehalten, die Augen nicht von den ihren abgewandt und unablässig beruhigend auf sie eingesprochen, damit sie nicht in einen Schlaf abglitt, aus dem sie nicht mehr erwachen würde. Er hatte ihr nicht gestattet, den Blick von seinem loszureißen und nach unten zu richten, wo der hässliche Schaft eines Messers mit breiter Schneide aus ihrem Brustkorb ragte.
Es war die schlimmste Nacht in Fabels Karriere gewesen. Sie hatten den gefährlichsten Psychopathen gestellt, dem er je begegnet war – ein Ungeheuer, das eine Reihe teuflischer ritueller Morde begangen hatte. Die Jagd hatte zum Tod zweier Polizisten geführt: eines intelligenten jungen Beamten namens Paul Lindemann aus Fabels Team und eines uniformierten Schutzpolizisten vom örtlichen Kommissariat. Zuletzt war der flüchtende Psychopath auf Maria gestoßen. Statt sie zu töten, hatte er ihr eine lebensgefährliche Verletzung zugefügt, weil er Fabel dadurch zwang, sich zwischen der Rettung seiner Mitarbeiterin und der Fortsetzung der Verfolgung zu entscheiden. In Wirklichkeit hatte Fabel natürlich keine Wahl gehabt.
Seither trugen Fabel und Maria unterschiedliche Narben. Fabel hatte nie zuvor im Dienst einen Beamten verloren, doch an jenem Abend waren zwei Kollegen ermordet worden – und fast wären es drei gewesen. Maria hatte eine gewaltige Menge Blut eingebüßt und war dem Tod auf dem Operationstisch sehr nahe gewesen. Es folgten zwei kritische Wochen auf der Intensivstation, in denen Maria in dem unsicheren Niemandsland zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit, zwischen Leben und Tod schwebte. Fabel wusste, dass Maria die beiden letzten Monate ihrer Erholung vorwiegend in einem Fitnessstudio verbracht hatte, um nicht nur ihre physische Kraft, sondern auch die eiserne Entschlossenheit zurückzugewinnen, die sie als erfolgreiche Polizistin ausgezeichnet hatte.
Nun saß sie hier vor Fabel: dieselbe vertraute Maria mit ihrem harten, unerschütterlichen Blick und den ums Knie verschränkten Fingern. Doch während Fabel ihre selbstsichere Körpersprache registrierte, hatte er noch immer die Nacht vor Augen, in der er ihre kühl gewordene Hand hielt und ihrem schwachen Atem lauschte. Gleichzeitig hatte sie ihn mit einer Kleinmädchenstimme angefleht, sie nicht sterben zu lassen. Das war etwas, das sie beide verarbeiten mussten.
»Du weißt, warum ich mit dir sprechen möchte, Maria?«
»Nein, Chef. Hat es mit diesem Fall zu tun?« Aber ihre ernsten blau-grauen Augen wurden unsicher, und sie tat so, als entferne sie einen unsichtbaren Fleck von ihrer makellosen Hose.
»Ich glaube, du weißt Bescheid, Maria. Ich muss sicher sein, dass du einem anstrengenden Fall gewachsen bist.« Maria wollte protestieren, doch Fabel brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Hör zu, Maria, ich will ehrlich sein. Ich könnte ganz einfach den Mund halten und dich in allen kommenden Ermittlungen mit nebensächlichen Aufgaben betrauen, bis ich sicher bin, dass du bereit bist. Aber so gehe ich nicht vor. Das weißt du doch.« Fabel stützte seine Ellbogen auf den Schreibtisch. »Ich schätze dich zu sehr als Beamtin, um dich so respektlos zu behandeln. Andererseits schätze ich dich auch zu sehr, um deine Gesundheit – und deine Effektivität in unserem Team – dadurch zu gefährden, dass ich dich zu früh mit zentralen Aufgaben in einer Ermittlung betraue.«
»Ich bin bereit.« Stählerner Frost knisterte in Marias Stimme. »Ich habe alles bewältigt, was ich bewältigen muss. Und ich wäre nicht an meine Arbeit zurückgekehrt, wenn ich befürchtet hätte, die Effektivität des Teams aufs Spiel zu setzen.«
»Verdammt noch mal, Maria, ich fordere dich nicht heraus. Ich stelle deine Fähigkeiten nicht in Frage.« Fabel fixierte ihre Augen. »An jenem Abend hätte ich dich fast verloren, Maria. Ich habe Paul verloren, und dich um ein Haar auch. Ich habe dich und das Team im Stich gelassen. Nun ist es meine Pflicht, mich davon zu überzeugen, dass du einsatzfähig bist.«
Marias eisige Miene schmolz ein wenig. »Es war nicht deine Schuld, Chef. Zuerst dachte ich, es sei meine gewesen. Weil ich nicht schnell genug oder nicht richtig reagiert habe. Aber einem Menschen wie ihm waren wir noch nie begegnet. Etwas so Böses ist einzigartig. Höchstwahrscheinlich werde ich nie wieder auf jemanden… auf etwas… wie ihn stoßen.«
»Und die Tatsache, dass er noch in Freiheit ist?«, fragte Fabel und bedauerte seine Worte sofort. Es war ein Gedanke, der ihn in mehr als einer Nacht um den Schlaf gebracht hatte.
»Er ist inzwischen weit weg von Hamburg«, erwiderte Maria. »Wahrscheinlich fern von Deutschland oder sogar von Europa. Aber falls nicht und falls wir seine Spur wieder aufnehmen sollten, wäre ich bereit für ihn.«
Fabel wusste, dass sie es ernst meinte. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er selbst bereit war, dem Blutadler-Mörder erneut gegenüberzutreten. Jetzt oder in Zukunft. Aber diesen Gedanken behielt er für sich.
»Es ist keine Schande, sich erst einmal wieder einzuarbeiten, Maria.«
Sie lächelte auf eine Weise, die Fabel noch nie bei ihr gesehen hatte – ein erstes Anzeichen dafür, dass irgendetwas in ihrem Innern anders geworden war. »Es geht mir bestens, Jan. Das versichere ich dir.« Sie hatte seinen Vornamen noch nie im Büro benutzt und ihn überhaupt zum ersten Mal ausgesprochen, als sie auf dem langen Gras eines Feldes im Alten Land irgendwo zwischen Leben und Tod lag.
Fabel lächelte ebenfalls. »Es ist schön, dass du wieder da bist, Maria.«
Maria wollte gerade antworten, als Anna Wolff an die Tür klopfte und ohne abzuwarten eintrat.
»Entschuldigung, wenn ich störe«, sagte Anna, »aber die Spurensicherung hat mich gerade angerufen. Es gibt etwas, das wir uns sofort ansehen müssen.«
Holger Brauner sah nicht wie ein Wissenschaftler und auch nicht wie ein Akademiker aus. Er war ein mittelgroßer Mann mit dunkelblondem Haar und dem kräftigen Äußeren eines Naturfreundes. Fabel wusste, dass Holger in seiner Jugend Sportler gewesen war und sich seine muskulöse Gestalt bewahrt hatte. Er arbeitete seit einem Jahrzehnt mit dem Leiter der Spurensicherung zusammen, und aus ihrem gegenseitigen fachlichen Respekt hatte sich eine echte Freundschaft entwickelt.
Brauner gehörte dem LKA 3 an, das heißt der Abteilung Kriminaltechnik, die für die Sicherung und Auswertung sämtlicher Spuren zuständig ist. Er verbrachte einen großen Teil seiner Zeit im Institut für Rechtsmedizin, doch daneben hatte er auch ein Büro neben der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle im Präsidium.
Als Fabel sein Zimmer betrat, war Brauner über den Schreibtisch gebeugt und musterte einen Gegenstand durch ein schwenkbares Vergrößerungsglas mit integrierter Beleuchtung. Brauner blickte auf und begrüßte Fabel nicht mit seinem gewohnten breiten Grinsen, sondern winkte ihn ernst heran.
»Der Mörder hat sich mit uns in Verbindung gesetzt«, sagte er grimmig und reichte Fabel ein paar OP-Handschuhe. Dann trat er zurück, damit Fabel das Objekt auf dem Schreibtisch betrachten konnte. Auf einer kleinen Plastikscheibe lag ein rechteckiges Stück gelbes Papier, das ungefähr zehn Zentimeter breit und fünf Zentimeter hoch war. Brauner hatte den Zettel zwischen zwei Scheiben aus durchsichtigem Plexiglas gelegt, um sämtliche darauf vorhandenen Spuren zu sichern. Die Schrift aus roter Tinte war eng, gleichmäßig, sauber und sehr klein.
»Das haben wir in der Faust des Mädchens gefunden. Ich vermute, jemand hat es ihr in die Hand gelegt und die Finger darum geschlossen, bevor die Leichenstarre eingesetzt hat.«
Obwohl die Schrift winzig war, konnte man sie mit bloßem Auge gut lesen, doch Fabel inspizierte sie mit Brauners beleuchtetem Vergrößerungsglas. Durch die Linse sah er nicht nur Worte auf dem Papier, sondern jeder kleine rote Strich wurde zu einem langen Band auf einer zerklüfteten gelben Landschaft. Fabel schob das Vergrößerungsglas zur Seite und las die Botschaft.
Nun bin ich gefunden worden. Ich heiße Paula Ehlers und wohne im Buschberger Weg, Harksheide, Norderstedt. Ich bin unter der Erde gewesen, und nun wird es Zeit für mich heimzukehren.
Fabel richtete sich auf. »Wann hast du das entdeckt?«
»Wir haben die Leiche heute Morgen hinüber zum Butenfeld gebracht, damit Dr. Möller die Autopsie vornehmen kann.« Butenfeld ist die Straße in Eppendorf, in der das Institut für Rechtsmedizin liegt, und ihr Name dient als polizeiliches Kürzel für das dortige Leichenschauhaus. »Bei der vor der Autopsie üblichen Untersuchung haben wir den Zettel in ihrer Hand bemerkt. Wie du weißt, schieben wir Beutel über Hände und Füße, damit unterwegs keine Spuren vernichtet werden, und diese Notiz war, nachdem die Leichenstarre nachgelassen hatte, an ihrer Handfläche kleben geblieben.«
Fabel las den Zettel noch einmal. Er spürte einen Druck in der Magengegend, und eine leichte Übelkeit stieg in ihm hoch. Paula. Nun besaß sie einen Namen. Die himmelblauen Augen, die zu ihm heraufgestarrt hatten, gehörten Paula. Er zog ein Notizbuch aus seiner Tasche und schrieb den Namen und die Adresse nieder. Fabel hatte keinen Zweifel daran, dass nicht das Opfer, sondern der Mörder die Botschaft zu Papier gebracht hatte. Hätte der Mörder das Mädchen gezwungen, die Worte zu schreiben, wäre ihre Schrift bestimmt nicht so sauber und präzise ausgefallen. Er wandte sich zu Brauner um.
»Ich bin unter der Erde gewesen… Bedeutet das, dass sie irgendwo begraben wurde und man sie dann wieder ausgrub, zum Strand in Blankenese brachte und dort zurückließ?«
»Das habe ich zuerst auch gedacht, als ich den Zettel las, aber ich kann dir mit Sicherheit sagen, dass diese Leiche nie begraben worden ist. Aus der postmortalen Blässe und der bis vor kurzem vorhandenen Starre lässt sich schließen, dass sie erst etwas länger als einen Tag tot ist. Vielleicht handelt es sich um einen Hinweis darauf, dass man sie vor ihrem Tod in einem Keller oder etwas Ähnlichem eingesperrt hat. Wir untersuchen ihre Kleidung auf Staub und einzelne Substanzen, die uns Aufschluss über die Umgebung liefern können, in der sie in den letzten Stunden vor ihrem Tod festgehalten wurde.«
»Habt ihr noch etwas anderes gefunden?«
»Nein.« Brauner nahm einen Ordner von seinem Schreibtisch und blätterte ihn durch. »Natürlich wird Dr. Möller uns noch die vollständigen pathologischen Details liefern, aber nach unseren Anfangsbefunden war der Strand nicht der Tatort, sondern das Opfer wurde irgendwo anders getötet und später am Strand zurückgelassen.«
»Nein, Holger.« Fabel ließ die Bilder vom Strand durch seine Erinnerung gleiten. »Nicht zurückgelassen. In Pose gelegt. Das macht mir seit heute Morgen zu schaffen. Sie schien sich auszuruhen oder auf etwas zu warten. Es war keine beliebig zurückgelassene Leiche, sondern eine Art Statement… Ich weiß bloß nicht, was es bedeutet.«
Brauner dachte über Fabels Worte nach. »Kann sein«, meinte er schließlich. »Aber ich muss sagen, dass ich die Sache etwas anders sehe. Zwar wurde sie mit einer gewissen Sorgfalt am Strand abgelegt, aber ich konnte keine absichtliche Pose erkennen. Vielleicht verspürte er Reue über das, was er getan hatte. Vielleicht ist er so krank, dass er ihren Tod nicht vollauf begriffen hat.«
Fabel lächelte. »Das ist nicht auszuschließen. Aber entschuldige, du wolltest fortfahren…?«
Brauner richtete die Augen erneut auf den Ordner. »Es gibt nicht viel hinzuzufügen. Die Kleidung des Mädchens war von keiner hohen Qualität und ziemlich abgetragen. Vor allem waren die Sachen nicht frisch. Ich würde sagen, sie hat dieselbe Kleidung – einschließlich der Unterwäsche – mindestens drei oder vier Tage lang vor ihrem Tod angehabt.«
»Ist sie vergewaltigt worden?«
»Du weißt ja, dass Möller mich zur Schnecke machen würde, wenn ich seine Befunde vorausnähme, und, um ehrlich zu sein, kann nur er dir eine definitive Antwort geben. Jedenfalls habe ich keine Spuren sexueller Gewalt an ihrem Körper entdeckt. Überhaupt konnte ich außer den Würgemalen an ihrem Hals kein Zeichen von Gewalt finden. Und auch an ihrer Kleidung deutet nichts darauf hin.«
»Vielen Dank, Holger«, erwiderte Fabel. »Ich gehe davon aus, dass du das Papier und die Tinte untersuchen wirst?«
»Ja. Es trägt kein Wasserzeichen. Ich werde dir bald das Gewicht, den Typus et cetera nennen können, aber es wird einige Zeit dauern, bis ich Auskunft über die spezifische Marke geben kann.« Brauner sog sich die Luft durch die Zähne. »Ich befürchte, dass wir ein weit verbreitetes Massenprodukt vor uns haben, was bedeutet, dass es fast unmöglich sein wird, die konkrete Verkaufsstelle aufzuspüren.«
»Das bedeutet auch, dass unser Freund die Sache durchdacht hat und seine Spuren verwischt.« Fabel seufzte und klopfte Brauner auf die Schulter. »Sieh zu, was du tun kannst, Holger. Während du dich mit dem Medium befasst, werde ich mich mit der Botschaft beschäftigen. Kannst du ein paar Fotokopien zur Mordkommission schicken lassen? Im Idealfall auf das Dreifache vergrößert?«
»Und ich sorge dafür, dass du ein Exemplar von Möllers Autopsiebericht bekommst.« Fabel wusste, dass Möllers brüske Art Brauner noch stärker verärgerte als ihn selbst. »Damit du prüfen kannst, ob er irgendetwas Wichtiges enthält.«
In die Mordkommission zurückgekehrt, blieb Fabel an Anna Wolffs Schreibtisch stehen. Er reichte ihr das Blatt mit dem Namen und der Adresse des Mädchens, die der Mörder auf dem Zettel angegeben hatte. Annas Lächeln verschwand, als sie die Notiz las.
»Sind das die Daten des toten Mädchens?«
»Genau das sollst du herausfinden«, sagte Fabel bitter. »Der Mörder hat dem Opfer einen Zettel in die Hand gedrückt. Darauf stand, dass dies der Name und die Adresse des Mädchens sind.«
»Ich kümmere mich sofort darum, Chef.«
Fabel schloss die Tür hinter sich, als er sein Büro betrat. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schaute durch die gläserne Trennwand, die ihn vom Großraumbüro der Mordkommission abgrenzte. Er hatte sich nie völlig an das neue Polizeipräsidium gewöhnen können. Das alte Hauptquartier Beim Strohhause unweit des Berliner Tors hatte ihm viel besser gefallen. Die Polizei Hamburg wurde umstrukturiert, und das meiste davon sagte Fabel nicht sehr zu. Sie waren nun in einem nagelneuen, fünfstöckigen Gebäude untergebracht, das sternförmig um ein zentrales Atrium angeordnet war.
Nicht alles war so glatt abgelaufen, wie man geplant hatte. Ursprünglich hatte sich im Atrium ein Teich befunden, der jedoch zur Heimat von wolkenartigen Mückenschwärmen geworden war. Als das Präsidium daraufhin von großen Spinnenpopulationen heimgesucht wurde, die sich an der reichen Beute des Teiches labten, schüttete man den Teich mit Kies zu. Und es kam zu weiteren Änderungen: Die Uniformen der Hamburger Schutzpolizei sollten nach und nach durch blaue Dienstkleidung ersetzt werden, die sich vom Beige-Grün der bundesdeutschen Polizeikräfte unterschied. Was Fabel jedoch nur mühsam verkraften konnte, war die Militarisierung von Teilen der Hamburger Polizei. Seine Vorgesetzten versicherten ihm, die Mobilen Einsatzkommandos – oder MEKs – seien ein notwendiges Übel, und Fabel selbst forderte manchmal selbst bewaffnete Einheiten zur Unterstützung an, besonders nachdem er ein Mitglied seines Teams verloren hatte, aber er hegte schwere Vorbehalte gegen die Einstellung mancher MEK-Angehöriger.
Fabel betrachtete sein Team durch die Trennwand. Diese Mannschaft würde die Jagd auf Paulas Mörder aufnehmen. Die Beamten würden in unterschiedliche Richtungen ausschwärmen, um ihre jeweiligen Aufgaben zu erfüllen, bis alle im entscheidenden Moment der Lösung zusammenkamen. Für Fabel galt es, die Übersicht zu behalten und über die Details hinauszublicken. Sein Urteilsvermögen und seine Organisation der Ermittlung würden darüber entscheiden, ob man Paulas Mörder fand oder nicht.
Er zog es vor, nicht über diese Verantwortung nachzusinnen, denn wenn er es tat, wurde die Last nahezu unerträglich. In solchen Momenten hatte er Zweifel an den Entscheidungen, die er treffen musste. Wäre es so schlimm gewesen, sich mit dem Leben als Hochschullehrer an einer Provinzuniversität abzufinden? Oder als Englisch- oder Geschichtslehrer an einer friesischen Schule? Vielleicht wäre seine Ehe mit Renate dann nicht zerbrochen. Vielleicht würde er dann nachts ruhig schlafen, ohne von den Toten zu träumen.
Anna Wolff klopfte an die Tür und trat ein. Ihr hübsches Gesicht mit den dunklen Augen und den allzu roten Lippen war umwölkt. Sie nickte ernst und beantwortete damit Fabels unausgesprochene Frage. »Ja. Paula Ehlers ist auf ihrem Heimweg von der Schule verschwunden. Ich habe mir die Datenbank angesehen und dann mit dem Polizeirevier Norderstedt gesprochen. Auch ihr Alter könnte stimmen. Aber es gibt etwas, das nicht zu den übrigen Umständen passt.«
»Was denn?«
»Wie gesagt, ihr Alter würde dem des toten Mädchens entsprechen… heute jedenfalls. Nur, Paula Ehlers ist vor drei Jahren verschwunden, als sie dreizehn war.«