8.

Norddeich, Ostfriesland, Freitag, den 19. März, 15.30 Uhr

Fabel hatte nicht gut geschlafen. Er hatte von der jungen Hilke Tietjen geträumt, die am Norddeicher Strand entlanglief und ihn aufforderte, ihr zu folgen. Plötzlich verschwand sie hinter einer Düne, doch als Fabel sie einholte, lag nicht Hilke im Sand, sondern ein anderes Mädchen an einer anderen Küste, das mit starren, himmelblauen Augen zu Fabel aufschaute.

Am Morgen waren Lex und er nach Norden gefahren, um ihre Mutter zu besuchen. Man hatte ihnen mitgeteilt, sie sei in einem hinreichend guten Zustand, um entlassen zu werden, aber man werde dafür sorgen, dass in der nächsten Zeit vorsichtshalber noch täglich ein Arzt bei ihr einen Hausbesuch machte. Während sie zum Auto zurückkehrten, war sich Fabel der Zerbrechlichkeit seiner Mutter schmerzlich bewusst geworden. Lex hatte vorgeschlagen, dass Fabel, da er an einem sehr wichtigen Fall arbeitete, nach Hamburg zurückkehrte, während er selbst in den kommenden Tagen noch in Norddeich bleiben werde. Der Hauptkommissar war seinem Bruder dankbar für diese Entlastung, obwohl er ein gewisses Schuldgefühl nicht unterdrücken konnte.

»Nur keine Aufregung«, hatte Fabels Mutter ihn beruhigt. »Du weißt, wie sehr ich so etwas hasse. Ich komme schon über die Runden. Du kannst mich am nächsten Wochenende besuchen.«

Sobald Fabel wieder auf der A 28 war, rief er Werner im Präsidium an. Nachdem Werner sich nach dem Befinden von Fabels Mutter erkundigt hatte, diskutierten sie über den Fall.

»Wir haben eine Bestätigung vom Institut für Rechtsmedizin«, sagte Werner. »Die DNS von dem Mädchen am Strand stimmt nicht mit den bei Frau Ehlers gemachten Abstrichen überein. Jedenfalls ist das Mädchen nicht Paula Ehlers.«

»Hat Anna Fortschritte bei der Aufdeckung ihrer wirklichen Identität gemacht?«

»Nein. Sie hat ihre Suche ausgeweitet und ein paar passende Fälle gefunden, aber die Vermissten erwiesen sich bei genauer Nachprüfung als nicht mit dem Opfer identisch. Seit deiner Abfahrt ist Anna unermüdlich auf der Suche… Gott weiß, wann sie das Präsidium gestern Abend verlassen hat. Oh, übrigens, als Möller gestern wegen des DNS-Ergebnisses angerufen hat, wollte er auch seinen Autopsiebefund mit dir besprechen. Der arrogante Schnösel war nicht bereit, mit mir zu reden – du kennst ihn ja. Er meint, der Bericht werde bei deiner Rückkehr auf deinem Schreibtisch liegen. Aber ich habe ihm erklärt, dass ich die wichtigsten Fakten erfragen und sofort an dich weitergeben soll.«

»Was hat er daraufhin gesagt?«

Werners verzögerter Redefluss ließ erkennen, dass er seine Notizen durchblätterte. »Die Tote ist laut Möller fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Es gibt Anzeichen der Vernachlässigung: schlechte Zähne, ein paar alte, nicht sachgerecht behandelte Brüche und so weiter.«

»Dann könnte sie über einen langen Zeitraum misshandelt worden sein«, meinte Fabel. »Was vielleicht bedeutet, dass der Mörder ein Elternteil oder ein sonstiger Erziehungsberechtigter war.«

»Das würde auch erklären, warum Anna das Mädchen nicht auf den Vermisstenlisten finden kann«, sagte Werner. »Wenn ein Elternteil verantwortlich ist, wurde möglicherweise noch gar keine Vermisstenmeldung abgegeben, damit wir dem Mörder nicht auf die Spur kommen.«

»Das klingt erst einmal einleuchtend.« Fabel schwieg einen Moment lang, um nachzudenken. »Allerdings spricht dagegen, dass Kinder auch außerhalb ihrer Familie existieren. Es muss eine Schule geben, in der ihre Abwesenheit auffällt. Und sie muss Freunde und Verwandte haben, die sie vermissen.«

»Anna ist längst so weit, Chef. Sie überprüft bereits die Anwesenheitslisten der Schulen. Bisher ebenfalls ohne Ergebnis. Und du kannst auch einen möglichen Freund auf die Liste setzen. Möller sagt, das tote Mädchen war sexuell aktiv, aber es gibt keinen Hinweis auf sexuelle Kontakte in den letzten beiden Tagen vor dem Mord.«

Fabel seufzte. Er sah, dass er Ammerland hinter sich gelassen hatte, und ein Schild wies auf die Ausfahrt zu seiner alten Universitätsstadt Oldenburg hin. Ostfriesland lag noch nicht weit hinter ihm, und schon tauchte er wieder in den Morast der Grausamkeiten ein, die Menschen einander – und ihren Kindern – zufügen können. »Noch etwas?«

»Nein, Chef. Höchstens vielleicht, dass das Mädchen laut Möller in den 48 Stunden vor ihrem Tod nicht viel gegessen hat. Kommst du zurück ins Präsidium?«

»Ja. In ungefähr zwei Stunden.«

Er legte auf und schaltete das auf NDR 1 eingestellte Radio an. Ein Literaturwissenschaftler kritisierte gerade einen Autor, der einen offenbar sehr umstrittenen Roman geschrieben hatte. Ein Großteil der Diskussion war bereits vorbei, aber Fabel begriff, dass sich der Autor einer fiktiven These bediente, der zufolge eine bekannte historische Persönlichkeit ein Kindesmörder war. Das Gespräch setzte sich fort, und Fabel erfuhr, dass es sich bei der Persönlichkeit um einen der Brüder Grimm handelte, jener Philologen des neunzehnten Jahrhunderts, die deutsche Sagen, Märchen, Mythen und Volkslieder gesammelt hatten.

Der Literaturwissenschaftler ereiferte sich immer mehr, während der Schriftsteller unerschütterlich ruhig blieb. Sein Name war Gerhard Weiss, und sein Roman trug den Titel Die Märchenstraße. Das Werk war in Form eines fiktiven Reisetagebuchs von Jacob Grimm geschrieben worden. Der Moderator erläuterte für die Zuhörer, dass Jacob Grimm seinen Bruder Wilhelm in diesem Bericht begleite, während sie die Geschichten sammelten, die schließlich unter dem Titel Kinder- und Hausmärchen erscheinen sollten. Der Roman wich von den Tatsachen ab, indem Jacob Grimm als Serienmörder beschrieben wurde, der in den Städten und Dörfern, die er zusammen mit seinem Bruder besuchte, etliche Verbrechen an Kindern und Frauen beging. Mit jedem Mord ahmte er eine der gesammelten Erzählungen nach. In dem Roman lautete die Rechtfertigung des wahnsinnigen Grimm, er wolle die Wahrhaftigkeit dieser Geschichten am Leben erhalten. Der fiktive Jacob Grimm gelangte schließlich zu dem Schluss, dass Mythen, Sagen und Märchen den Zweck hätten, der Finsternis der menschlichen Seele Ausdruck zu verleihen.

»Es ist eine Allegorie«, erklärte Gerhard Weiss, »ein literarischer Kunstgriff. Es gibt nicht das geringste Indiz dafür, dass Jacob Grimm pädophil oder gar ein Mörder war. Mein Buch Die Märchenstraße ist eine Erzählung, eine erfundene Geschichte. Ich habe Jacob Grimm gewählt, weil sein Bruder und er deutsche Volksmärchen sammelten und untersuchten sowie die Struktur der deutschen Sprache analysierten. Wenn jemand die Macht von Sagen und Folklore verstehen konnte, dann waren es die Brüder Grimm. Heute fürchten wir uns, unsere Kinder außer Sichtweite spielen zu lassen. Wir wittern in jedem Aspekt des modernen Lebens Gefahren. Wir gehen ins Kino, um uns durch moderne Mythen erschrecken zu lassen, die unserer Meinung nach das heutige Leben und die heutige Gesellschaft widerspiegeln. Tatsache aber ist, dass die Gefahr immer existiert hat. Der Kindesmörder, der Vergewaltiger, der wahnsinnige Täter sind Bestandteile der menschlichen Erfahrung. Neu ist nur, dass wir uns früher durch Erzählungen über den bösen Wolf, über die grausige Hexe oder über das Böse, das im Dunkel der Wälder lauert, in Angst versetzten, während wir uns heute durch Filmmythen über den superintelligenten Serienmörder, den übelwollenden Verfolger, den Außerirdischen oder das von der Wissenschaft geschaffene Monster erschrecken… Wir haben nichts anderes getan, als den bösen Wolf neu zu erfinden, und wir benutzen lediglich moderne Allegorien für sich dauernd wiederholende Gräuel.«

»Und das gibt Ihnen das Recht, den Ruf eines großen Deutschen in den Schmutz zu ziehen?«, fragte der Literaturwissenschaftler. In seiner Stimme mischten sich Zorn und Unglaube.

Wieder blieb der Autor ruhig. Erstaunlich ruhig, dachte Fabel. Fast emotionslos. »Ich sehe ein, dass ich einen großen Teil des deutschen literarischen Establishments und die Nachfahren von Jacob Grimm verärgert habe, aber ich erfülle nur meine Pflicht als Autor heutiger Fabeln. Es ist meine Aufgabe, die Tradition der Einschüchterung des Lesers durch die Verbindung von äußerer Gefahr und innerer Dunkelheit fortzusetzen.«

Der Moderator stellte die nächste Frage: »Aber was die Nachkommen von Jacob Grimm besonders erbost hat, ist der Umstand, dass Sie zwar Ihre Beschreibung Jacob Grimms als Mörder ganz und gar fiktiv nennen, doch gleichzeitig behaupten, Ihr Roman stütze Ihre Theorie der ›Prosa als Wahrheit‹. Was bedeutet das? Ist das Buch nun fiktiv oder nicht?«

»Wie Sie bereits gesagt haben«, antwortete Weiss mit immer noch ausgeglichener, emotionsloser Stimme, »basiert mein Roman nicht auf Tatsachen. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass künftige Generationen, wie in so vielen Beispielen der Literatur, glauben werden, dass das Buch einen Teil Wahrheit enthält. Die Angehörigen einer weniger gebildeten, gleichgültigeren Zukunft werden sich an die Erfindung erinnern und sie als Tatsache akzeptieren. Dieser Prozess vollzieht sich seit Jahrhunderten. Nehmen Sie zum Beispiel Shakespeares Porträt des schottischen Königs Macbeth. In Wirklichkeit war Macbeth ein beliebter, geachteter und erfolgreicher König. Aber weil Shakespeare der damaligen britischen Monarchin gefällig sein wollte, verteufelte er Macbeth in seinem literarischen Werk. Heutzutage ist Macbeth eine monumentale Gestalt. Ein Symbol für brutalen Ehrgeiz, Habgier, Gewalt und Blutrünstigkeit. Das jedoch sind die Merkmale der shakespeareschen Figur, nicht die des historischen Macbeth. Wir verwandeln nicht einfach Geschichte in Sage und dann in Mythos, sondern wir erfinden hinzu, schmücken aus, verfälschen. Schließlich werden Mythos und Sage zur dauerhaften Wahrheit.«

Der Literaturwissenschaftler ignorierte die Entgegnung des Autors und wiederholte seinen Vorwurf, dass der Roman Jacobs Grimms Ruf beeinträchtige. Dann wurde die Debatte wegen des Endes der Sendezeit abgebrochen. Fabel schaltete das Radio aus. Unwillkürlich dachte er über die Worte des Schriftstellers nach: darüber, dass es unter den Menschen immer das gleiche Böse, die rein zufällige grausame Gewalt und den brutalen Tod gegeben habe. Der kranke Unmensch, der das Mädchen erwürgt und ihre Leiche dann am Strand abgelegt hatte, war damit nur der Letzte in einer Reihe psychopathischer Geister.

Fabel wusste dies natürlich seit langem. Er hatte ein Buch über Gilles de Rais gelesen, den französischen Aristokraten des sechzehnten Jahrhunderts, dessen absolute Macht über sein Lehen ihm ermöglichte, jahrelang ungestraft Jungen zu entführen, zu vergewaltigen und zu ermorden. Die geschätzte Zahl der Opfer lag in den Hunderten und mochte sogar die Tausende erreicht haben. Andererseits hatte Fabel sich einzureden versucht, dass der Serienmörder ein modernes Phänomen sei: das Ergebnis einer sich auflösenden Gesellschaftsordnung, das Produkt kranker Geister, die durch Missbrauch geschaffen und durch die Verfügbarkeit widerlicher Pornos auf der Straße oder im Internet inspiriert würden. In diesem Glauben verbarg sich eine gewisse Hoffnung, denn wenn nur unsere heutige Gesellschaft solche Ungeheuer hervorbrachte, waren wir vielleicht in der Lage, das Problem zu lösen. Ihre Akzeptanz als grundlegender Bestandteil der menschlichen Existenz hingegen schien der Aufgabe fast jeder Hoffnung gleichzukommen.

Fabel schob eine CD in den Player. Während Herbert Grönemeyers Stimme den Innenraum des Autos erfüllte und die Kilometer vorbeiglitten, versuchte er, seine Gedanken von dem im Wald lauernden ewigen Bösen abzulenken.

In seinem Büro rief Fabel als Erstes bei seiner Mutter an. Sie versicherte ihm, es gehe ihr immer noch gut. Lex mache viel Aufhebens um sie und bereite herrliche Mahlzeiten zu. Ihre Stimme am Telefon schien das Gleichgewicht in Fabels Universum wieder herzustellen. Aus der durch die Leitung überbrückten Distanz wirkten ihr markanter Akzent und ihr Timbre wie die einer jüngeren Mutter. Einer Mutter, deren Gegenwart er stets für einen unveränderlichen, unerschütterlichen Bestandteil seines Lebens gehalten hatte. Als Nächstes rief er Susanne an, und sie verabredeten, sich nach der Arbeit in seiner Wohnung zu treffen.

Anna Wolff klopfte an Fabels Tür und trat ein. Ihr Gesicht mit dem dunklen Eyeliner unter dem schwarzen Haarschopf wirkte noch bleicher als sonst. Der zu rote Lippenstift schien vor der müden Blässe ihrer Haut aufzuflammen.

»Du siehst aus, als bekämst du nicht viel Schlaf«, sagte Fabel und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.

»Du auch, Chef. Wie geht’s deiner Mutter?«

Fabel lächelte. »Besser, danke. Mein Bruder bleibt noch ein paar Tage bei ihr. Wie ich höre, mühst du dich immer noch damit ab, die Identität des Mädchens herauszufinden.«

Anna nickte. »Nach dem Autopsiebericht wurde sie in den früheren Jahren vernachlässigt und wahrscheinlich misshandelt. Vielleicht ist sie vor langer Zeit irgendwo in Deutschland oder sogar im Ausland davongelaufen. Aber ich bleibe dran.« Sie zögerte, als sei sie sich nicht sicher, wie Fabel auf ihre nächsten Worte reagieren würde. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, Chef, aber ich habe auch den Fall Paula Ehlers gründlich unter die Lupe genommen. Mein Gefühl sagt mir, dass wir es in beiden Fällen mit demselben Mann zu tun haben.«

»Wegen der falschen Identität, die er in der Hand des toten Mädchens hinterlassen hat?«

»Deshalb und auch, weil die beiden Mädchen, wie du selbst unterstrichen hast, einander so ähnlich sind, dass er Paula Ehlers vermutlich in natura und nicht nur auf einem Pressefoto gesehen hat. Schließlich mussten wir DNS-Tests durchführen lassen, um sicherzustellen, dass das tote Mädchen nicht Paula Ehlers ist.«

»Ich weiß, worauf du hinauswillst. Also, was hast du unternommen?«, fragte Fabel.

»Ich bin die Fallunterlagen mit Robert Klatt durchgegangen.«

»Verdammt, Kommissar Klatt hatte ich ganz vergessen. Wie gewöhnt er sich ein?«

Anna hob die Schultern. »Gut. Er ist wohl recht tüchtig. Und er scheint die Arbeit in der Mordkommission aufregend zu finden.« Sie schlug eine Akte auf und fuhr fort: »Jedenfalls haben wir uns noch einmal mit Fendrich beschäftigt. Erinnerst du dich? Heinrich Fendrich, Paulas Deutschlehrer?«

Fabel nickte knapp. Anna hatte ihn auf der Fahrt zur Familie Ehlers im Rasthof über den Mann informiert.

»Tja, wie du weißt, hatte Klatt ihn in Verdacht. Aber er gibt zu, dass er keinerlei Beweise gegen Fendrich besaß. Es war eher eine Verbindung aus Intuition, Vorurteil und einem Mangel an Indizien.«

Fabel runzelte die Stirn. »Vorurteil?«

»Fendrich ist ein etwas seltsamer Einzelgänger. Mitte dreißig… Inzwischen wohl eher Ende dreißig, immer noch alleinstehend, und er wohnt mit seiner alten Mutter zusammen. Allerdings schien er damals eine mehr oder weniger feste Freundin zu haben. Aber offenbar haben sie sich ungefähr zum Zeitpunkt von Paulas Verschwinden getrennt.«

»Kommissar Klatt wollte also unbedingt einen Verdächtigen finden, und er entdeckte jemanden nach Art von Norman Bates«, sagte Fabel. Anna setzte eine verwirrte Miene auf. »Aus dem amerikanischen Film Psycho

»Ach ja, natürlich. Du hast wohl bis zu einem gewissen Grad Recht. Aber wer kann Klatt Vorwürfe machen? Ein Mädchen war verschollen und mittlerweile wahrscheinlich tot, und es gab einen Lehrer, zu dem sie eine enge Beziehung hatte und der keine normalen Verbindungen anzuknüpfen schien. Hinzu kamen Behauptungen von Paulas Freundinnen, dass Fendrich ihr unverhältnismäßig viel Zeit im Klassenzimmer widmete. Bestimmt hätten auch wir Fendrich ein wenig in die Zange genommen.«

»Mag sein. Aber Paulas Entführer und vermutlicher Mörder könnte genauso gut ein typischer Familienvater sein. Wie steht Klatt denn inzwischen zu Fendrich?«

»Tja…« Anna dehnte das Wort und betonte dadurch ihre Unsicherheit. »Ich habe das Gefühl, dass er meint, sich geirrt zu haben. Schließlich hat Fendrich ein überzeugendes Alibi für den Zeitpunkt von Paula Ehlers’ Verschwinden.«

»Aber?«

»Aber Klatt sagt, dass er immer noch ein ›ungutes Gefühl‹ gegenüber Fendrich hat. Seiner Meinung nach hatte er als Lehrer eine unangemessene Beziehung zu Paula. Klatt schlägt vor, Fendrich noch einmal zu verhören. Allerdings möchte er nicht mitkommen, da Fendrich ihm mit einer einstweiligen Verfügung und einer Klage wegen Schikanierung gedroht hat.«

»Wo können wir Fendrich finden? Ist er noch an der Schule?«

»Nein«, antwortete Anna, »er hat sich an eine andere Schule versetzen lassen. Auch in Hamburg…« Anna blätterte in der Akte. »…in Rahlstedt. Aber anscheinend wohnt er noch in demselben Haus wie vor drei Jahren. Das liegt ebenfalls in Rahlstedt.«

»Okay.« Fabel warf einen Blick auf seine Uhr und stand auf. »Herr Fendrich dürfte längst Feierabend haben. Ich würde gern erfahren, ob er auch für den Mord des Mädchens am Strand ein Alibi hat. Statten wir ihm einen Besuch ab.«

Fendrichs Haus in Rahlstedt war eine ziemlich große, robuste Vorkriegsvilla. Sie stand in einer Reihe aus fünf ähnlichen Gebäuden, die sich von den übrigen Häusern in der Straße deutlich unterschieden. Früher mochten sie nach einem Bruchteil des Prestiges gestrebt haben, das die eindrucksvolleren Häuser in Rotherbaum und Eppendorf genossen, doch nun, da sie die britischen Bombenangriffe des Krieges und die Städteplaner der Fünfzigerjahre überlebt hatten, wirkten sie zwischen den Sozialwohnungen der Nachkriegszeit schlicht fehl am Platze. Rahlstedt war hastig geplant und entwickelt worden, um die in die Obdachlosigkeit gebombte Bevölkerung von Hamburg-Mitte aufzunehmen.

Fabel parkte auf der anderen Straßenseite. Während Anna und er sich der Villenreihe näherten, merkte er, dass man die anderen Häuser zu zwei oder mehr Wohnungen umgebaut hatte, während das Haus der Fendrichs weiterhin nur eine Familie beherbergte. Das Gebäude war durch eine melancholische Düsterkeit gekennzeichnet, und in dem kleinen, ungepflegten Vorgarten häuften sich die unerwünschten Hinterlassenschaften von Passanten.

Fabel legte die Hand auf Annas Arm, als sie das halbe Dutzend Stufen zur Vordertür hinaufsteigen wollte. Er deutete auf die Stelle, wo die Hauswand auf den überwucherten Garten traf. Dort waren zwei kleine, verschmutzte Fenster zu erkennen. Hinter jedem der Fenster war die undeutliche Silhouette von drei Gittern zu sehen.

»Ein Kellergeschoss…«, sagte Anna.

»Dort könnte man jemanden ›unter der Erde‹ festhalten.«

Sie gingen die Treppe hinauf, und Fabel drückte auf einen alten Klingelknopf aus Porzellan. Irgendwo tief im Inneren des Hauses läutete es mehrmals. »Du führst das Gespräch, Anna. Ich stelle nur dann eine Frage, wenn ich zusätzliche Informationen benötige.«

Die Tür öffnete sich. Fendrich schien eher Ende vierzig als Ende dreißig zu sein. Er war groß und mager und hatte eine graue Haut. Sein stumpfes blondes Haar war dünn und glatt, und die Haut seines hohen, gewölbten Schädels schimmerte unter der hellen Lampe in der ausladenden Eingangshalle. Er schaute mit einem Ausdruck gedämpfter Neugier zwischen Anna und Fabel hin und her. Anna streckte ihm ihre ovale Dienstmarke hin.

»Kriminalpolizei Hamburg, Herr Fendrich. Können wir mit Ihnen sprechen?«

Fendrichs Züge verhärteten sich. »Worum geht’s?«

»Wir sind von der Mordkommission, Herr Fendrich. Vorgestern wurde die Leiche eines jungen Mädchens am Blankeneser Strand gefunden…«

»Paula?«, unterbrach Fendrich. »War es Paula?« Seine Miene änderte sich erneut, und Fabel glaubte, einen Anflug von Furcht in ihr zu entdecken.

»Wenn wir uns vielleicht drinnen unterhalten könnten, Herr Fendrich«, schlug Fabel mit leiser, beruhigender Stimme vor.

Fendrich schien einen Moment lang verstört zu sein und trat dann resigniert zur Seite, um sie einzulassen. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, wies er auf das erste Zimmer, das links von der Halle abging. »Kommen Sie mit in mein Arbeitszimmer.«

Der Raum war groß und unaufgeräumt und wurde scharf von einer zu hellen Neonröhre beleuchtet, die unharmonisch von einer schmuckvollen Deckenrose herabhing. An sämtlichen Wänden außer der, deren Fenster auf die Straße hinausblickte, befanden sich Bücherregale. Ein mächtiger Schreibtisch stand fast genau in der Mitte des Zimmers. Darauf waren weitere Bücher und Papiere verstreut, und ein Gewirr aus Kabeln und Drähten ergoss sich aus einem Computer und einem Drucker. Bündel von Zeitschriften und Zeitungen, mit Bindfäden umschnürt, waren wie Sandsäcke unter dem Fenster aufgestapelt. All das wirkte chaotisch. Doch als Fabel das gesamte Zimmer betrachtete, spürte er eine organisierte Unordnung, die vermuten ließ, dass Fendrich jeden Gegenstand, den er benötigte, auf Anhieb fand. Irgendetwas an dem Raum strahlte Konzentration aus, als ob sich Fendrichs Leben – ein traurig funktionelles Leben – hauptsächlich hier abspielte. Fabel hatte plötzlich den Drang, den Rest dieses großen Hauses zu durchsuchen, um herauszufinden, was es jenseits dieses kleinen Konzentrationspunktes barg.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Fendrich und befreite zwei Stühle von ihrer Last aus Büchern und Zeitungen. Noch bevor die beiden sich hingesetzt hatten, fragte er erneut: »Dieses Mädchen, das Sie gefunden haben – war es Paula?«

»Nein, Herr Fendrich«, antwortete Anna. Die Spannung in Fendrichs Miene ließ nach, doch Fabel hätte sie nicht als erleichtert bezeichnet. Anna fuhr fort: »Aber wir haben Grund zu der Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Mädchens und Paulas Verschwinden gibt.«

Fendrich lächelte säuerlich. »Also wollen Sie mich wieder drangsalieren. Das habe ich von Ihren Norderstedter Kollegen schon zur Genüge erlebt.« Er ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder. »Ich wünschte, Sie würden mir glauben, dass ich nichts mit Paulas Verschwinden zu tun hatte. Ich wünschte, Sie würden mich in Ruhe lassen, verflucht noch mal.«

Anna hob die Hand zu einer versöhnlichen Geste und lächelte entwaffnend. »Hören Sie zu, Herr Fendrich. Ich weiß, dass Sie, äh, vor drei Jahren Probleme mit den Norderstedter Ermittlern hatten. Aber wir sind aus Hamburg und arbeiten für die Mordkommission. Wir untersuchen den Fall Paula Ehlers nur, um festzustellen, ob es eine Verbindung zu dem toten Mädchen gibt. Unser Gespräch mit Ihnen dient einer ganz anderen Ermittlung. Sie verfügen vielleicht über eine Information, die für diesen neuen Fall relevant ist.«

»Sie behaupten also, dass ich in keinem dieser Fälle verdächtigt werde?«

»Sie wissen, dass wir keine derart absolute Erklärung abgeben können, Herr Fendrich«, sagte Fabel. »Wir rätseln noch, nach wem wir Ausschau halten. Aber im Moment interessieren wir uns für Sie als Zeugen, nicht als Verdächtigen.«

Fendrich zuckte die Achseln und ließ sich auf seinen Stuhl zurücksacken. »Was möchten Sie wissen?«

Anna zählte die wesentlichen Fakten über den Lehrer auf. Als sie fragte, ob seine Mutter noch bei ihm wohne, verzog Fendrich das Gesicht, als wäre ihm ein Stich versetzt worden.

»Meine Mutter ist tot«, sagte er und brach zum ersten Mal den Augenkontakt zu Anna ab. »Sie ist vor sechs Monaten gestorben.«

»Das tut mir Leid.« Fabel konnte sich in Fendrich hineinversetzen und dachte an den Schrecken, den die Krankheit seiner eigenen Mutter ihm gerade eingejagt hatte.

»Sie war seit langem krank.« Fendrich seufzte. »Ich lebe jetzt allein.«

»Sie haben die Schule nach Paulas Verschwinden gewechselt«, stellte Anna fest, um den Gesprächsfluss nicht abbrechen zu lassen. »Was war der Grund dafür?«

Fendrich stieß ein weiteres bitteres Lachen aus. »Nachdem Ihr Kollege – er hieß Klatt –, nachdem also Herr Klatt keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er mich für verdächtig hielt, entwickelten auch die anderen mir gegenüber ein Misstrauen. Eltern, Schüler, sogar meine Kollegen… Ich konnte den Argwohn an ihren Augen ablesen. Einige Male wurde ich sogar am Telefon bedroht. Also ließ ich mich versetzen.«

»Haben Sie nicht befürchtet, dass sich der Verdacht dadurch verstärken würde?«, fragte Anna freundlich lächelnd.

»Das war mir scheißegal. Ich hatte die Schnauze voll. Niemand war bereit, sich auch nur eine Sekunde lang vorzustellen, dass ich selbst zutiefst erschüttert war. Ich mochte Paula sehr gern, denn sie hatte ein enormes Potenzial. Niemand schien sich daran zu stören. Außer Ihrem Kollegen Klatt, dem es irgendwie gelang, die Sache…« Fendrich rang nach dem passenden Wort. »…anrüchig wirken zu lassen.«

»Sie waren Paulas Deutschlehrer, nicht wahr?«, fragte Anna. Fendrich nickte. »Sie sagen, das Mädchen hätte zu besonderen fachlichen Hoffnungen berechtigt… und Ihr Interesse hätte sich allein darauf beschränkt.«

Fendrich riss den Kopf trotzig zurück. »Das stimmt.«

»Aber keiner ihrer anderen Lehrer schien dies bemerkt zu haben, und ihre Schulzeugnisse zeigen nur durchschnittliche Leistungen in fast allen Fächern.«

»Das alles habe ich schon Gott weiß wie oft erklärt. Ich erkannte das Potenzial in ihr. Sie hatte eine natürliche Begabung für die deutsche Sprache. Das ist so wie mit der Musik. Man hat ein Ohr für die Sprache, oder man hat es nicht. Paula hatte ein gutes Ohr. Und sie konnte sich wunderbar ausdrücken, wenn es ihr in den Sinn kam.« Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die unaufgeräumte Tischplatte und musterte Anna mit ernstem Blick. »Paula hatte trotz ihrer dürftigen Leistungen die Fähigkeit, wirklich etwas zu vollbringen, aber sie war in Gefahr, zum Opfer des Systems, zum Niemand zu werden. Es stimmt, dass die anderen Lehrer das nicht wahrnahmen. Und dass auch ihre Eltern ihr Talent nicht sahen. Deshalb habe ich so viel Zeit darauf verwendet, ihr zu helfen. Es war meiner Ansicht nach eine reale Möglichkeit für sie, sich den begrenzten Erwartungen ihrer Eltern zu entziehen.«

Fendrich lehnte sich wieder zurück und hielt die Handflächen nach oben, als hätte er sein Plädoyer vor einem Gericht beendet. Dann ließ er die Hände schwer auf die Tischplatte fallen, als wäre seine Energie aufgebraucht. Fabel beobachtete ihn schweigend. Etwas an dem Ernst und dem fast leidenschaftlichen Ton, in dem Fendrich über Paula sprach, beunruhigte ihn.

Anna wechselte das Thema und kam auf die Details von Fendrichs Alibi vor Paulas Verschwinden zu sprechen. Seine Antworten waren genau die gleichen wie die, die er der Akte zufolge drei Jahre vorher gegeben hatte. Aber seine Geduld ließ unter Annas Befragung zunehmend nach.

»Ich dachte, es gehe um einen neuen Fall«, sagte er, als Anna geendet hatte. »Dabei haben Sie nur den alten Kram aufgewärmt. Ich dachte, Sie wollten sich nach einem anderen Mädchen erkundigen. Nach einem Mord.«

Fabel bedeutete Anna, ihm die Akte zu reichen. Er nahm ein großes Hochglanzfoto heraus, das an dem Ort, wo man die Tote entdeckt hatte, aufgenommen worden war. Er legte es direkt vor Fendrich hin und wandte die Augen nicht vom Gesicht des Lehrers ab, um seine Reaktion abzuschätzen. Und die Reaktion fiel heftig aus. Fendrich murmelte: »Oh, mein Gott…«, und schlug sich eine Hand vor den Mund. Dann erstarrte er, ließ das Bild jedoch nicht aus den Augen. Er beugte sich vor und schien jedes Pixel zu untersuchen. Schließlich entspannten sich seine Züge vor Erleichterung, und er blickte zu Fabel auf. »Ich dachte…«

»Sie dachten, es sei Paula?«

Fendrich nickte. »Es war ein Schock.« Wieder starrte er das Bild an. »Meine Güte, sie sieht Paula so ähnlich. Natürlich älter, aber eine solche Ähnlichkeit. Glauben Sie deshalb, dass hier eine Verbindung besteht?«

»Das ist nicht alles«, erklärte Anna. »Der Mörder ließ etwas zurück, um uns über die Identität des toten Mädchens irrezuführen. Wir sollten glauben, es sei Paula.«

»Können Sie uns sagen, wo Sie von Montagnachmittag bis Dienstagmorgen waren, Herr Fendrich?«

Fendrich spitzte die Lippen und blies den Atem aus, während er über Fabels Frage nachdachte. »Es gibt nicht viel zu sagen. Ich bin an beiden Tagen wie üblich zur Arbeit gegangen. Am Montag bin ich sofort nach Hause gekommen und habe ein paar Arbeiten korrigiert. Am Dienstag… habe ich auf dem Heimweg noch im Minimarkt eingekauft. Ich war gegen 17.30 Uhr zu Hause, und danach bin ich den ganzen Abend nicht mehr aus dem Haus gegangen.«

»Kann das jemand bestätigen?«

Eine gewisse Härte erschien in Fendrichs Augen. »Ach so… Sie konnten mich nicht für Paulas Verschwinden verantwortlich machen, und nun versuchen Sie, mich wegen dieser Sache einzulochen.«

»Davon kann keine Rede sein, Herr Fendrich.« Wieder versuchte Anna, ihn zu besänftigen. »Wir müssen einfach alles überprüfen – sonst würden wir unsere Arbeit nicht ordentlich machen.«

Die Spannung in Fendrichs eckigen Schultern ließ nach, und sein herausfordernder Blick trübte sich, doch er wirkte immer noch skeptisch. Wieder betrachtete er das Foto des toten Mädchens. Lange und schweigend.

»Es ist derselbe Mann«, sagte er schließlich. Anna und Fabel wechselten einen Blick.

»Was meinen Sie damit?«, fragte Anna.

»Ich meine, dass Sie Recht haben… Es gibt eine Verbindung. Mein Gott, dieses Mädchen könnte ihre Schwester sein, so ähnlich sind sie einander. Wer dieses Mädchen ermordet hat, muss Paula gekannt haben. Und zwar ziemlich gut.« Der Schmerz war in Fendrichs stumpfe Augen zurückgekehrt. »Paula ist tot. Oder?«

»Das wissen wir noch nicht, Herr Fendrich…«

»Doch.« Fabel kam Anna zuvor. »Doch, ich fürchte auch, dass sie tot ist.«