21.

Hamburg-Bostelbek, Dienstag, den 23. März, 14.10 Uhr

Das Wetter war umgeschlagen. Das Frühjahrsversprechen der Vorwoche, das sich noch an einem hellen Morgen bekräftigt hatte, wurde nun von der Trübheit des stürmischen Himmels verdrängt, der sich über Norddeutschland legte.

Fabel wusste nicht genau, weshalb er von dem Betrieb überrascht war – vielleicht weil es sich um ein altes Familienunternehmen handelte und er Bäckereien immer mit traditionellem Handwerk in Verbindung gebracht hatte. Jedenfalls erstaunte es ihn, dass die Backstube Albertus in Wirklichkeit eine große Fabrik unweit der A7 war. »Um die Zustellung zu erleichtern«, hatte Vera Schiller die Lage erklärt, während sie Fabel und Werner in ihr Büro führte. »Wir bedienen Konditoreien, Cafés und Restaurants in ganz Norddeutschland. Die Beziehungen zu unserer Kundschaft sind exzellent, und oft lassen wir wichtige Kunden von bewährten Angestellten persönlich beliefern. Wir haben eine eigene Zustellung, und unsere drei Wagen sind fast ständig im Einsatz.« Fabel war klar, dass Vera Schiller ihre Standardrede für Besucher abspulte, denn ihre Worte richteten sich an potenzielle Kunden, nicht speziell an Kripobeamte.

Ihr Büro war geräumig, doch eher praktisch als luxuriös – eine ganz andere Umgebung als die Villa der Schillers mit ihrer klassischen Eleganz. Während Vera Schiller Platz nahm und Fabel und Werner aufforderte, sich ebenfalls zu setzen, stupste der Oberkommissar seinen Chef heimlich mit dem Ellbogen an und richtete den Blick auf einen zweiten Schreibtisch an der anderen Seite des Büros. Dort saß niemand, doch der Tisch war überhäuft mit Papieren und Broschüren. Auf einem Wandplan dahinter hatte jemand Termine und Orte festgehalten. Fabel wandte sich den Bruchteil einer Sekunde zu spät zu Vera Schiller um.

»Ja, Herr Kriminalhauptkommissar«, sagte sie, »das ist Markus’ Schreibtisch. Bitte, nehmen Sie sich die Freiheit…« Sie suchte nach einem Wort. »…alles durchzusehen. Außerdem werde ich Sie unten mit Herrn Biedermeyer, unserem Bäckermeister, bekannt machen. Er kann Ihnen mehr über das andere Opfer mitteilen.«

»Vielen Dank, Frau Schiller. Wir wissen Ihre Kooperation zu schätzen.« Fabel schickte sich an zu wiederholen, dass dies alles sehr bedrückend für sie sein müsse. Doch dann schwieg er, weil er das Gefühl hatte, dass solche Äußerungen überflüssig waren. Nein, nicht überflüssig, sondern unangemessen. Die Angelegenheit war nicht bedrückend für sie, sondern einfach nur lästig. Er musterte ihr Gesicht. Hinter der oberflächlichen Ruhe schien sich nichts zu verbergen. Es gab keinen Hinweis darauf, dass sie in letzter Zeit Tränen vergossen oder an Schlafmangel gelitten hatte. Auch die Tatsache, dass sie Hanna Grünn als »das andere Opfer« bezeichnet hatte, deutete nicht auf Bosheit hin. Vera Schillers Kälte war kein Oberflächenfrost, sondern sie ging tief und hatte ihr Herz vereist. Fabel war ihr zweimal begegnet: zuerst in dem Haus, in dem sie mit ihrem Mann gewohnt hatte, und nun in dem Büro, das sie ebenfalls mit ihrem Mann geteilt hatte. Aber weniger als achtundvierzig Stunden nachdem sie erfahren hatte, dass Markus tot war, konnte keine Rede von einer »Lücke« sein, wie sie Anna Wolff beim Besuch des Hauses von Opfern empfand.

Fabel war nicht leicht aus der Fassung zu bringen, aber Vera Schiller gehörte zu den Furcht erregendsten Personen, die er kannte.

»Hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde, Frau Schiller?«

Sie zog die makellos bemalten Lippen mit einem starren Lächeln von den Zähnen zurück. »Keine bestimmte Person, Herr Kriminalhauptkommissar. Niemanden, den ich mit Namen nennen könnte. Aber im allgemeinen Sinne, ja. Es muss ein Dutzend gehörnter Ehemänner und Freunde geben, die Markus feindlich gesonnen waren.«

»Hatte Hanna Grünn einen Freund?«, fragte Werner.

Frau Schiller lehnte sich zu ihm vor. Das Lächeln, das keins war, verschwand. »Ich bin nicht über das Privatleben meiner Angestellten informiert, Herr Kriminaloberkommissar Meyer.« Sie stand abrupt auf. »Ich begleite Sie jetzt hinunter in die Backstube. Wie gesagt, Herr Biedermeyer wird Ihnen mehr Einzelheiten über das ermordete Mädchen mitteilen können.«

Die Haupthalle der Backfabrik war in kurze Backstraßen unterteilt, auf denen unterschiedliche Produkte befördert oder zubereitet wurden. Sogar die Luft war teigig, gesättigt mit dem Geruch von Mehl und Backwaren. An den Wänden standen riesige Edelstahlöfen, und das Personal trug weiße Kittel und Schutzhauben. Wäre die geradezu essbare Luft nicht gewesen, so hätte man auch meinen können, in einer Halbleiterfabrik oder in der futuristischen Raumschiffzentrale aus einem Film der Sechzigerjahre zu sein. Wieder prallte die Realität mit Fabels Vorstellung von einer traditionellen deutschen Bäckerei zusammen.

Vera Schiller führte sie hinunter in die Fabrikhalle und ging auf einen sehr großen, äußerst kräftig gebauten Mann zu, den sie als Bäckermeister Franz Biedermeyer vorstellte. Bevor Fabel eine Möglichkeit hatte, ihr zu danken, drehte sie sich auf dem Absatz um. Ein verlegenes Schweigen hüllte die drei Männer ein, bis Biedermeyer freundlich lächelte und sagte: »Bitte verstehen Sie Frau Schiller. Vermutlich fällt ihr dies alles sehr schwer.«

»Sie scheint recht gut mit der Situation fertig zu werden«, erwiderte Fabel und versuchte, jede Spur von Sarkasmus in seiner Stimme zu vermeiden.

»Das ist ihre Art, Herr Fabel. Sie ist eine vorbildliche Arbeitgeberin und behandelt ihr Personal sehr gut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr der Verlust nicht zu schaffen macht. Herr und Frau Schiller haben eine sehr effektive, ja geradezu beeindruckende Partnerschaft gehabt. Jedenfalls im Geschäftsleben.«

»Und in persönlicher Hinsicht?«, fragte Werner.

Wieder lächelte der Bäckermeister freundlich, doch gleichzeitig zuckte er die Achseln. Die Fältchen um Biedermeyers Augen ließen vermuten, dass er sehr häufig lächelte. Dadurch wurde Fabel an seinen Bruder Lex erinnert, dessen fröhliche Persönlichkeit vor allem an seinen Augen und seinen Lachfältchen zu erkennen war. »Ich weiß eigentlich nichts über ihre persönliche Beziehung. Aber bei der Arbeit waren sie ein gutes Team. Frau Schiller ist eine clevere Geschäftsfrau und versteht sehr viel von kaufmännischer Strategie. Sie hat dafür gesorgt, dass die Bäckerei gute Gewinne macht, obwohl für die deutsche Wirtschaft insgesamt schlechte Zeiten herrschen. Und Herr Schiller war ein sehr, sehr guter Verkäufer. Er konnte glänzend mit den Kunden umgehen.«

»Mit Frauen auch, wie ich gehört habe«, sagte Fabel.

»Es gab Gerüchte… das kann ich nicht leugnen. Aber es steht mir nicht an, über solche Dinge zu mutmaßen. Ich weiß nicht genauer als Sie, ob Frau Schiller im Bilde war und wie sich das auf ihre Ehe ausgewirkt hat. Entschuldigen Sie…«

Biedermeyer war gerade dabei, einen besonderen Kuchen zu verzieren, und hielt ein kleines, kunstvoll geformtes Stück Zuckerguss zwischen Zeigefinger und Daumen. Nun drehte er sich um, um es vorsichtig auf den polierten Edelstahltresen zu legen. Im Einklang mit den Hygienevorschriften trug Biedermeyer weiße Latexhandschuhe, die mit feinem Mehlstaub überzogen waren. Seine Hände wirkten so groß und seine Finger so unbeholfen, dass Fabel sich kaum vorstellen konnte, wie der Bäckermeister zarte Kuchenornamente anbrachte oder ausgefallenes Feingebäck herstellte.

»Und sein Verhältnis mit Hanna Grünn?«, fragte Werner. »Wussten Sie davon?«

»Nein, aber es überrascht mich nicht. Ich wusste, dass Hanna bei der Wahl ihrer Freunde – wie soll ich es ausdrücken – ein wenig unüberlegt vorging. Auch da gab es alle möglichen Gerüchte, und viele waren natürlich boshaft. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemand Andeutungen über Hanna und Herrn Schiller gemacht hätte.«

»Boshafte Gerüchte? Was meinen Sie damit?«

»Hanna war eine sehr attraktive junge Dame. Sie wissen ja, wie gehässig Frauen in solchen Fällen sein können. Aber Hanna trug das ihre dazu bei. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie auf diese Arbeit und vor allem auf die anderen Frauen im Betrieb herabsah.«

»Hatte sie hier besondere Feinde?« Fabel deutete mit dem Kinn in die Fabrikhalle.

»Jemanden, der sie so sehr hasste, dass er sie ermorden wollte?« Biedermeyer lachte und schüttelte den Kopf. »Niemand nahm sie dafür wichtig genug. Man mochte sie nicht, aber niemand hasste sie.«

»Was hielten Sie von ihr?«, wollte Fabel wissen.

Hinter Biedermeyers gewohnheitsmäßigem Lächeln war Kummer zu erkennen. »Ich war ihr Vorgesetzter. Ihre Arbeit wurde den Anforderungen nie so ganz gerecht, und ab und zu musste ich mit ihr reden. Aber sie tat mir Leid.«

»Warum?«

»Sie war eine verlorene Seele. Ich glaube, dass man sie so beschreiben könnte. Es war ihr zuwider, hier zu arbeiten. Hier zu sein. Ich glaube, sie war ehrgeizig, hatte aber keine Möglichkeit, ihren Ehrgeiz zu befriedigen.«

»Wie sieht’s mit anderen Freunden aus?«, fragte Werner.

Ein junger Lehrling schob einen zwei Meter hohen Regalständer an ihnen vorbei. Alle Tabletts waren mit Kringeln aus ungebackenem Teig bedeckt.

Die drei Männer traten zur Seite, bevor Biedermeyer antwortete. »Ja, ich glaube, es gab einen. Ich weiß nichts anderes über ihn, als dass er sie manchmal mit dem Motorrad abholte. Er schien ein übler Typ zu sein.« Biedermeyer machte eine Pause. »Stimmt es, dass sie zusammen gefunden wurden? Herr Schiller und Fräulein Grünn, meine ich.«

Fabel lächelte. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Herr Biedermeyer.«

Sie waren bereits auf dem Parkplatz, als Fabel das aussprach, was Werner und er gedacht hatten.

»Ein Motorrad. Ich glaube, wir sollten uns bei der Spurensicherung nach dem Reifentyp und der Marke erkundigen, die zu den Abdrücken im Naturpark passen.«