Hamburg-Blankenese, Sonntag, den 28. März, 23.20 Uhr
In dem überdachten Schwimmbad war es dunkel und still, und das Wasser lag ungekräuselt in der Nacht da. Laura zog sich in der Umkleidekabine aus und blieb nackt vor dem Spiegel stehen. Ihre Haut war noch immer makellos, ihr Haar hatte seinen goldenen Schimmer nicht verloren, und ihr Körper war geschmeidig und glatt. Sie hatte so viel für die Pflege dieses Körpers und dieses Gesichts geopfert. Nun betrachtete sie das Ideal weiblicher Vollkommenheit, für das viele Fotografen und Modefirmen eine Menge Geld bezahlt hatten. Sie legte sich die Handfläche auf den Bauch. Er war flach und straff, denn er hatte nie anschwellen und sich dehnen müssen. Sie schaute hinunter auf ihre eigene Perfektion und war von Abscheu vor sich selbst erfüllt.
Sie ging nackt in die Schwimmhalle hinaus. Die Hauptbeleuchtung schaltete sie nicht an, um sich von der Dunkelheit und Stille einhüllen zu lassen. Laura atmete tief durch und blickte über den glänzenden Obsidian des Wassers hinweg zu dem riesigen Fenster, das den drückenden Nachthimmel einrahmte. In jenen Himmel konnte sie mit unbeschwertem Geist hineinschwimmen. Sie stellte nur die Unterwasserbeleuchtung an. Ein hellblaues Funkeln breitete sich an den Rändern des Pools aus. Laura trat ins seichtere Ende hinein, bis das kühle, fast kalte Wasser ihre Haut kribbeln und ihre Brustwarzen zu harten Spitzen werden ließ. Sie ging auf den tieferen Teil des Beckens zu, und das Wasser kräuselte sich in hellen, elektrischen Blautönen um sie herum.
Dann sah sie es.
Eine Gestalt. Eher ein großer, dunkler Schatten in der hellblauen Düsternis des Pools. Etwas völlig Unerklärliches lag auf dem Boden. Laura schob sich stirnrunzelnd vor. Was konnte denn bloß hierher gelangt sein, und wer konnte es hineingeworfen haben? Sie näherte sich dem reglosen Objekt bis auf ein paar Meter, konnte aber immer noch nicht erkennen, was es war. Noch zwei Meter.
Plötzlich entfaltete sich die Gestalt und stieß mit einer einzigen glatten Bewegung aus dem Wasser hervor. Sie erhob sich in dem trüben blauen Licht, ragte vor Laura auf und schloss in einem Sekundenbruchteil die Lücke zu ihr. Die Zeit verlangsamte sich. Sie versuchte zu begreifen, was vor sich ging. Eine menschliche Gestalt? Nein. Zu groß. Zu schnell. Der Körper war dunkel. Dunkel durch Worte. Er – es – war mit Worten bedeckt. Mit Tausenden von Worten in gotischer Fraktur. Sie zogen sich über die mächtige Brust hinweg und wanden sich spiralförmig um die Arme. Es ergab keinen Sinn. Eine Geschichte in Gestalt eines riesigen Mannes wälzte sich auf sie zu. Dann hatte sie Laura erreicht.
Eine Hand packte ihre Kehle, während die andere ihren Kopf unter das blau leuchtende Wasser drückte. Ja. Ein Mann. Ein Mann, aber ein dunkler Koloss, der mit Worten in einer altmodischen Schrift bedeckt war. Sein Griff war unüberwindlich, doch nicht vernichtend, als wisse er, wie man genug Druck ausübt, um die Kontrolle zu erringen, ohne Verletzungen hervorzurufen. Seine Hände waren von enormer Größe und unglaublich stark. Ihr Gesicht befand sich unter der Wasseroberfläche. Nun setzte die Furcht ein. Sie versuchte zu schreien, doch ihre Nase und ihr Mund füllten sich mit dem schwach gechlorten Wasser, und die Angst wurde von der blinden Panik ihres Überlebensinstinkts abgelöst. Sie schlug wild um sich und riss an den Armen und am Körper ihres Angreifers, doch er schien aus Stein zu bestehen. Laura keuchte, und mit jedem Keuchen geriet ihr schlanker Körper tiefer unter Wasser. Als das Wasser in ihre Lunge drang, ließ ihr Widerstand nach, und die Furcht verblich. Ihre Gliedmaßen schlugen nicht mehr um sich. Die Ruhe und Schönheit ihres Gesichts kehrten zurück.
Tiefste Freude erfüllte Laura von Klosterstadts sterbenden Geist. Das war passend. So musste es sein. Strafe und Vergebung. Ihre Mutter hatte Recht gehabt: Laura war schlecht. Wertlos. Untauglich als Mutter. Untauglich als Braut. Aber nun war sie erlöst. Lauras Freude am Tod speiste sich aus zwei Tatsachen: Nun würde sie nie altern. Nun würde sie mit ihrem Kind zusammen sein.