11.

Naturpark Harburger Berge, Sonntag, den 21. März, 9.15 Uhr

Maria war einige Zeit vor Fabel am Schauplatz eingetroffen. Es war eher eine Lichtung als ein Parkplatz, und Fabel vermutete, dass der Ort zwei Zwecken diente: tagsüber als Ausgangspunkt für Wanderer, abends als diskreter Treffpunkt für unerlaubte Begegnungen. Er stellte seinen BMW neben einem der grün-weiß lackierten Streifenwagen ab und stieg aus. Es war ein luftiger Frühlingsmorgen, und der dichte Wald, der den Parkplatz umrahmte, schien sich nicht nur durch die Brise, sondern auch durch das Zwitschern von Vögeln zu bewegen.

»In the midst of life…«, sagte er auf Englisch zu Maria, die auf ihn zukam, und deutete mit der Hand auf die Bäume und den Himmel. Sie sah ihn verständnislos an. »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen…«, übersetzte er ins Deutsche. Maria zuckte die Achseln. »Wo sind sie?«, fragte Fabel.

»Dort drüben…« Maria wies auf eine kleine Lücke zwischen den Bäumen. »Es ist ein Wanderweg. Er führt durch den Wald, und ungefähr dreihundert Meter von hier gibt es eine kleine Lichtung mit einem Picknicktisch. Aber mit dem Auto kommt man nur bis zu dieser Stelle.« Fabel bemerkte, dass man die Hälfte des Parkbereiches vor dem Wanderweg abgesperrt hatte.

»Wollen wir?« Fabel bedeutete Maria voranzugehen. Auf dem unebenen, hier und da etwas feuchten Pfad hatte das Spurensicherungsteam in unregelmäßigen Abständen Schutzplanen niedergelegt. Fabel warf Maria einen fragenden Blick zu.

»Reifenspuren«, erklärte sie. »Und ein paar Fußabdrücke, die überprüft werden müssen.«

Fabel blieb stehen und musterte den Pfad. »Mountainbiker?«

Maria schüttelte den Kopf. »Motorrad. Möglicherweise hat es nichts mit der Sache zu tun, genauso wenig wie die Fußabdrücke.«

Sie gingen weiter. Fabel musterte die Bäume zu beiden Seiten. Die Zwischenräume zwischen ihnen wurden dunkler, während sie zurückwichen – wie grüne Höhlen, in die der helle Tag nicht eindringen konnte. Er dachte an das Rundfunkinterview. Die Dunkelheit des Waldes am helllichten Tage: die Metapher für die Gefahr, die sich im Alltäglichen verbirgt. Der Pfad machte einen Bogen und endete plötzlich auf einer kleinen Lichtung. Ungefähr ein Dutzend Polizisten und Spurensicherer waren auf dem Gelände beschäftigt. Sie konzentrierten sich zur Rechten des Pfades auf einen hölzernen Picknicktisch mit davor aufgestellten Bänken. Ein Mann und eine Frau saßen, an die Tischbeine gelehnt, auf dem Boden. Beide starrten Fabel und Maria mit dem gleichgültigen Blick des Todes an. Sie saßen Seite an Seite und hatten jeweils einen Arm in Richtung des anderen ausgestreckt. Ihre schlaffen Hände berührten sich, waren jedoch nicht ineinander verschränkt. Zwischen ihnen lag ein säuberlich ausgebreitetes Taschentuch.

Die Todesursache war unverkennbar: Jemand hatte beiden mit einem tiefen, breiten Schnitt die Kehle aufgeschlitzt. Der Mann war Ende dreißig, mit kurz geschorenem Haar, das sich bereits zu lichten begann. Sein Mund war aufgerissen, schwarz-rot von dem Blut, das in den letzten Sekunden seines Lebens aus der gespaltenen Kehle hochgeschäumt war. Fabel trat näher heran und musterte die Kleidung des Mannes. Für ihn war es eines der erschütternsten Dinge an einer Mordszene: wie der Tod seine eigene Planung hat, wie er sich weigert, die trivialen Einzelheiten, die wir in unser Leben einbauen, anzuerkennen. Der hellgraue Anzug und die braunen Lederschuhe des Mannes waren offensichtlich teuer. Sie hatten ihm zu Lebzeiten als Zeichen für seinen Status, seinen Geschmack, seinen Platz auf der Welt gedient. Nun aber war der Anzug ein zerknitterter, mit Schlamm und Blut verschmierter Lumpen. Das Hemd schob sich blutgetränkt unter dem dunklen Spalt hoch, die sich über die Kehle zog. Einer der Schuhe lag einen halben Meter von dem Fuß entfernt, der auf ihn wies, als fordere er ihn zurück. Die graue Seidensocke war halb hinunter geschoben, sodass man das gesprenkelte, bleiche Fleisch an der Ferse des Mannes sehen konnte.

Fabel richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau. Im Vergleich zu dem Mann hatte sie erheblich weniger Blut auf ihrer Kleidung. Ein Blutstreifen war diagonal über die Schenkel ihrer Jeans gespritzt. Sie mochte Anfang zwanzig sein und hatte langes blondes Haar. Der Wind hatte ein paar Strähnen in die aufgeschnittene Kehle geweht, wo sie sich mit Blut vollgesogen hatten und festgeklebt waren. Fabel fiel auf, dass ihre Kleidung zwar geschmackvoll und modisch, aber erheblich billiger war als die des Mannes. Sie trug ein hellgrünes T-Shirt und eine neue Jeans, die eine billigere Alternative zu den Designerjeans darstellte, deren Stil sie nachempfunden war. Die beiden konnten kein Paar sein – jedenfalls kein seit langem liiertes Paar. Fabel beugte sich vor und schaute sich das Taschentuch an. Auf ihm lagen mehrere Brotkrümel. Er stand auf.

»Ist das verwendete Messer gefunden worden?«, fragte er Maria.

»Nein. Auch auf den Boden, den Tisch oder sonst wo in der Umgebung ist kein Blut gespritzt. – Hallo, Jan.«

Holger Brauner, der Chef des Spurensicherungsteams, trat zu ihnen.

Fabel lächelte. Als er den Blutstreifen auf den Jeans der Frau bemerkt hatte, war ihm klar gewesen, dass sie es nicht mit dem Tatort zu tun hatten. Der Mord hatte woanders stattgefunden.

»Du bist aber schnell hier gewesen«, sagte er zu Brauner.

»Wir sind von einem Kommissar der Ortspolizei angerufen worden, der es nicht dem Lagedienst überlassen wollte, mich zu informieren. Wahrscheinlich derselbe, der euch benachrichtigt hat. Ein Kommissar…« Brauner versuchte, sich an den Namen zu erinnern.

»Hermann«, ergänzte Maria. »Dort drüben, das ist er.« Sie zeigte auf einen hoch gewachsenen, uniformierten Mann von Anfang dreißig. Er stand bei einer Gruppe von Schutzpolizisten, aber als er bemerkte, dass er den Mittelpunkt des Interesses bildete, machte er eine entschuldigende Geste gegenüber seinen Kollegen und schritt auf die Beamten der Mordkommission zu. Seine Bewegungen hatten eine ernste Zielstrebigkeit, und Fabel entging nicht, dass die brennende Energie in seinen hellgrauen Augen einen Kontrast zu seinem unscheinbaren Äußeren, seinem sandfarbenen Haar und seiner sommersprossigen, bleichen Haut bildete. Seine Erscheinung erinnerte Fabel an Paul Lindemann, den Beamten, den er verloren hatte. Aber als Hermann näher kam, zeigte sich, dass nur eine oberflächliche Ähnlichkeit bestand.

Der Schutzpolizist nickte Maria zu und reichte zuerst Fabel und dann Brauner die Hand. Fabel bemerkte den einzelnen silbernen Kommissarstern auf den Achselklappen der kurzen schwarzen Lederjacke.

Maria stellte ihn vor. »Das ist Kommissar Henk Hermann von der hiesigen Polizeidirektion.«

»Warum haben Sie gerade uns angerufen, Herr Hermann?«, fragte Fabel lächelnd. Die normale Aufgabe der Schutzpolizei bestand darin, den Tatort zu sichern und keine Unbefugten in den abgesperrten Bereich vordringen zu lassen, während sich die Kriminalpolizei um den Tatort selbst kümmerte. Für die Benachrichtigung der Kripo war der Lagedienst verantwortlich, und die zur Kripo gehörende Mordkommission untersuchte jeden nicht durch Krankheit oder Unfall verursachten Tod.

Ein unsicheres Lächeln ließ Hermanns dünne Lippen noch schmaler wirken. »Also…« Er schaute an Fabel vorbei zu den Leichen. »Also, ich weiß, dass sich Ihr Team auf solche Dinge spezialisiert hat…«

»Was für Dinge?«, fragte Maria.

»Na, das ist offensichtlich kein Selbstmord. Und dies ist nicht der Tatort des Verbrechens…«

»Woraus folgern Sie das?«

Hermann zögerte einen Moment lang. Es war ungewöhnlich für einen Schutzpolizisten, eine Meinung zu einer Mordszene zu äußern, und noch ungewöhnlicher, dass ein Kriminalpolizist von Fabels Rang zuhörte. Er ging um die Gruppe herum und trat an die Leichen heran, hielt dabei jedoch genug Abstand, um keine Spuren zu verwischen. Er kniete sich hin, balancierte auf den Fußballen und zeigte auf die zerschnittene Kehle des Mannes. »Natürlich kann ich nicht völlig sicher sein, da wir die Leichen nicht anrühren dürfen, aber ich habe den Eindruck, dass das männliche Opfer mit zwei Messerschnitten getötet wurde. Der erste traf ihn an der Seite des Halses, an der Schlagader, und er verblutete rasch. Der zweite durchtrennte ihm die Luftröhre.« Hermann deutete auf das weibliche Opfer. »Meiner Meinung nach ist das Mädchen an einem einzigen Schnitt durch die Kehle gestorben. Dieses Blut hier…« Er wies auf die breite Blutspur über ihre Schenkel hinweg. »…stammt offenbar nicht von ihr. Höchstwahrscheinlich kommt es von dem männlichen Opfer. Sie war dicht neben ihm, als er überfallen wurde, und das Arterienblut aus seinem Hals muss auf sie gespritzt sein. Ansonsten gibt es hier keine nennenswerte Blutmenge, was vermuten lässt, dass sich der Tatort woanders befindet und der Mörder sie hierher gebracht hat. Und das veranlasst mich zu der Meinung, dass es sich bei dem Mörder um einen großen – oder zumindest starken – Mann handelt. Es gibt kaum Schleifspuren, abgesehen von dem Moment, als er das männliche Opfer in Position brachte und der Schuh abgestreift wurde. Da man hier im Wald kein Fahrzeug benutzen kann, muss er die Opfer getragen haben.«

»Noch etwas?«, fragte Fabel.

»Ich kann nur mutmaßen, aber ich würde sagen, dass der Mörder den Mann zuerst umgebracht hat. Wahrscheinlich war es ein Überraschungsangriff. Dadurch verringerte er den zu erwartenden Widerstand. Sein zweites Opfer hatte nicht die gleiche Kraft und stellte nicht die gleiche Bedrohung für ihn dar wie der Mann.«

»Eine waghalsige Annahme«, kommentierte Maria mit einem bitteren Lächeln. Hermann richtete sich auf und zuckte die Achseln.

»Sie haben den Modus operandi des Mordes beschrieben«, sagte Fabel. »Aber Sie haben noch nicht erklärt, warum Sie der Meinung waren, dass ausgerechnet mein Team die Ermittlungen übernehmen sollte.«

Hermann trat zurück und neigte den Kopf ein wenig, während er den Schauplatz betrachtete, als stünde er vor einem Gemälde oder einem anderen Ausstellungsstück, das er einschätzen sollte.

»Deshalb«, sagte er. »Sehen Sie sich’s an.«

»Was?«, fragte Fabel.

»Na ja… Dies ist nicht einfach irgendeine Stelle, wo der Mörder beschlossen hat, die Leichen zurückzulassen. Er hätte sie zwanzig Meter weiter im Waldesinneren verstecken können, und wir hätten vielleicht Wochen oder Monate gebraucht, um sie zu finden. Das hier ist eine Botschaft. Er teilt uns etwas mit. Die Wahl des Ortes, die Anordnung der Leichen, das Taschentuch, die Brotkrumen – all das ist für uns gedacht. Es ist eine Pose.«

Fabel nickte zu Holger Brauner hinüber, der verständnisvoll lächelte.

»Eine Pose«, wiederholte Hermann offensichtlich frustriert. »Alles ist sorgfältig arrangiert. Und das bedeutet, dass diesen Morden ein krankhafter Plan zugrunde liegt, was wiederum heißt, dass wir es möglicherweise mit einem Serienmörder zu tun haben. Und darum habe ich es für richtig gehalten, Sie direkt und unverzüglich zu benachrichtigen, Herr Erster Hauptkommissar.« Er wandte sich Holger Brauner zu. »Und der Grund dafür, dass ich Kontakt mit Ihnen aufgenommen habe, Herr Brauner, ist der, dass Sie an diesem Schauplatz vielleicht etwas finden werden, was unserem Team entgehen würde. Ich verfolge Ihre Arbeit mit Interesse und habe mehrere Ihrer Seminare besucht.«

Brauner strahlte gut gelaunt und nickte mit gekünstelter Bescheidenheit. »Und Sie haben offenkundig gut aufgepasst, Herr Kommissar.«

Auch Fabel grinste. »Entschuldigen Sie, Herr Hermann; ich wollte nicht andeuten, dass Sie unsere Zeit verschwenden. Alles, was Sie über diese Szene gesagt haben, trifft zu… auch Ihre Vermutung, dass es sich hier nicht um den Tatort, sondern lediglich um den Fundort handelt. Ich wollte nur Ihre Argumentation hören.«

Hermanns Miene lockerte sich ein wenig, doch die Schärfe in seinen hellgrauen Augen blieb unverändert.

»Die Frage, mit der wir uns nun befassen müssen«, fuhr Fabel fort, »ist die, wo sich der Tatort befindet… wo sich der Mord ereignet haben könnte.«

»Auch dazu habe ich eine Theorie, Herr Hauptkommissar«, schaltete sich Hermann ein, bevor jemand anders einen Kommentar abgeben konnte.

Brauner lachte. »Das habe ich mir schon gedacht.«

»Wie gesagt, ich glaube, dass die Leichen hierher getragen wurden. Es gibt Fußspuren auf dem Pfad. Große Fußspuren, die wahrscheinlich von einem hoch gewachsenen Mann stammen. Sie haben tiefe Eindrücke in dem Boden hinterlassen, der hier und da ein wenig feucht, aber nicht matschig ist. Daraus schließe ich, dass die Fußabdrücke von jemandem stammen, der etwas Schweres getragen hat.«

»Vielleicht war er einfach nur übergewichtig«, meinte Brauner. »Die Spuren können auch von jemandem herrühren, der im Wald spazieren gegangen ist, um ein paar Kalorien zu verbrauchen.«

»Dann war seine Methode sehr effizient«, erwiderte Hermann, »denn wir haben zwei Arten von Spuren. Die einen kommen, und die anderen gehen. Die Spuren, die zum Parkplatz zurückführen, weisen weniger tiefe Eindrücke auf. Daraus folgere ich, dass er – wenigstens einmal – etwas Schweres zu dieser Stelle getragen hat und dann unbeladen zum Parkbereich zurückgekehrt ist.«

»Sie meinen also, dass die Tat auf dem Parkplatz durchgeführt wurde?«, fragte Fabel.

»Nein, nicht unbedingt. Er könnte sie dort ermordet haben, aber bisher haben wir noch keine entsprechenden Hinweise gefunden. Deshalb habe ich die Hälfte des Parkplatzes vor dem Wanderweg absperren lassen. Ich glaube, die Opfer wurden woanders ermordet und mit dem Auto hierher transportiert. Vielleicht wurden sie auch in einem Auto ermordet, das auf dem Parkplatz stand. Wenn er sie jedoch hierher gebracht hat, würde ich meinen, dass er sein Auto vor dem Pfad geparkt hat.«

Fabel nickte anerkennend. Brauner lachte bellend und gab Hermann einen wohlmeinenden Schlag auf die Schulter. Doch offenbar freute sich der Kommissar nicht über diese Geste. »Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege«, meinte Brauner. »Allerdings müssen wir zunächst noch einige Untersuchungen durchführen, bevor wir definitiv sagen können, ob es sich hier tatsächlich um die Fußabdrücke des Mörders handelt. Aber Sie haben wirklich sehr gute Arbeit geleistet. Kaum jemand hätte daran gedacht, den Parkplatz zu sichern.«

»War der Parkplatz leer, als die Leichen gefunden wurden?«, wollte Fabel wissen.

»Ja«, antwortete Hermann. »Das Fahrzeug, in dem der Mord stattfand oder das zum Transport der Leichen benutzt wurde, muss also schon vorher verschwunden sein. Vielleicht wurde es sogar irgendwo in Brand gesteckt, um jegliches Beweismaterial zu vernichten.« Er deutete auf einen Wanderweg, der in die entgegengesetzte Richtung wies. »Dieser Weg führt zu einem anderen Parkbereich in etwa drei Kilometer Entfernung. Ich habe für alle Fälle einen Wagen dorthin geschickt, um ihn überprüfen zu lassen, aber es war nichts zu finden.«

Fabel bemerkte, dass Maria während des gesamten Gesprächs geschwiegen hatte. Sie war an die Leichen herangetreten, und ihr Blick schien von dem weiblichen Opfer magisch angezogen zu werden. Fabel hob die Hand und sagte: »Entschuldigung«, bevor er sich neben Maria stellte. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

Maria riss den Kopf herum und betrachtete ihn ein paar Sekunden lang ausdruckslos, als wäre sie innerlich weit weg. Ihre Haut straffte sich weiß über ihren eckigen Zügen. »Was? Oh… ja.« Dann entschlossener: »Ja, mir geht’s gut. Die Sache hat keinen posttraumatischen Stress bei mir ausgelöst, wenn du das meinst.«

»Nein, Maria, das meine ich nicht. Was ist dir aufgefallen?«

»Ich hatte mir gerade überlegt, was er mit alledem sagen will. Dann sah ich ihre Hände.«

»Ja, sie scheinen sich an den Händen zu halten. Das wollte der Mörder mit dieser Pose offenbar bewirken.«

»Nein, das nicht«, sagte Maria. »Die anderen Hände. Seine rechte und ihre linke. Sie sind zu Fäusten geballt. Es sieht so aus, als wäre es ein Teil der Pose.«

Fabel drehte sich jäh um. »Holger, komm mal her und guck dir das an.«

Brauner und Hermann eilten herbei, und Fabel erläuterte ihnen Marias Beobachtung.

»Ich glaube, du hast Recht, Maria«, sagte Brauner. »Es sieht so aus, als wären die Fäuste nach dem Tod, aber vor der Leichenstarre geschlossen worden.« Plötzlich zuckte er zusammen und wandte sich jäh zu Fabel um. »Mein Gott, Jan… das Mädchen am Strand…«

Brauner griff in seine Jackentasche und holte ein ungeöffnetes Päckchen mit chirurgischen Handschuhen hervor. Mit einer hastigen Bewegung streifte er sich einen der Latexhandschuhe über, zog eine Pinzette aus seiner Brusttasche, trat vor und drehte die Hand des Mädchens um. Dann rief er Hermann zu sich und hielt ihm ein Paar Latexhandschuhe hin.

»Ziehen Sie die an, bevor Sie den Körper berühren. Ich möchte, dass Sie ihre umgedrehte Hand festhalten.«

Hermann tat wie ihm geheißen. Brauner öffnete die Finger der Frau, drehte sich zu Fabel um und nickte bitter, bevor er mit einer Pinzette ein kleines, eng zusammengerolltes Stück Papier aus der Handfläche nahm. Er schob den Zettel in eine durchsichtige Spurensicherungstüte und entrollte ihn darin vorsichtig. Dann stand er auf und trat in seinen eigenen Fußspuren von den Leichen zurück. Hermann folgte ihm.

»Was steht darauf?«

Brauner reichte Fabel die Tüte. Beim Anblick des Zettels verspürte Fabel ein bis tief in die Knochen reichendes Frösteln. Es war wieder ein rechteckiges Stück desselben gelben Papiers, etwa zehn Zentimeter breit und fünf Zentimeter hoch. Er erkannte die kleinen, regelmäßigen, mit roter Tinte geschriebenen Buchstaben von dem Zettel wieder, den das tote Mädchen am Blankeneser Strand in der Hand gehalten hatte. Diesmal stand nur ein einziges Wort darauf: »Gretel.« Fabel zeigte Maria das Stück Papier.

»Scheiße… Es ist derselbe Kerl.« Brauner öffnete bereits die geballte Faust des männlichen Opfers.

»Das hier ist anscheinend ›Hänsel‹«, sagte Brauner, erhob sich und ließ einen weiteren gelben Zettel in eine Spurensicherungstüte gleiten.

Fabels Brust schnürte sich zusammen. Er blickte hinauf zum hellblauen Himmel, dann wieder hinunter auf den Pfad, der zurück zum Parkplatz führte, in die grüne Gruft des Waldes und erneut auf den Mann und die Frau, die mit bis zum Rückgrat durchgetrennter Kehle dasaßen, deren Hände sich berührten und zwischen denen ein großes, mit Brotkrumen übersätes Taschentuch im Gras ausgebreitet war. Hänsel und Gretel. Der Drecksack wollte wohl auch noch witzig sein.

»Es war richtig von Ihnen, uns zu benachrichtigen, Kommissar Hermann. Sie könnten die Distanz zwischen uns und einem Serienmörder verringert haben, der, wie wir nun wissen, schon einmal – oder vielleicht zweimal – zugeschlagen hat.« Hermann strahlte vor Genugtuung. Fabel erwiderte sein Lächeln nicht. »Nun möchte ich, dass sich Ihr gesamtes Team zu einer Einsatzbesprechung auf dem Parkplatz versammelt. Wir müssen das ganze Gelände durchkämmen und den Tatort finden.«