Eigentlich rechnete Andrea nicht damit. Aber keine Woche nachdem sie ihren Brief beim Jugendamt abgegeben hatte, mit der Bitte, ihn an Merle Vogel weiterzuleiten, hatte sie schon eine Antwort im Briefkasten. Der Umschlag war dick gefüllt und ungeschickt zugeklebt, so als hätte das Kind es selbst getan.

Andrea öffnete den Umschlag noch auf der Treppe. Sie war ganz aufgeregt, so wie mit sechzehn, als sie ihren ersten Liebesbrief bekam.

Im Umschlag steckte ein ungeschickt gefaltetes, dickes Din-A4-Blatt, das aussah wie aus einem Malblock gerissen. Andrea klappte es auf. Das Blatt war hinten und vorne in großer ungelenker Kinderschrift beschrieben und an vielen Stellen mit Buntstift-Blümchen und -Schnörkeln in Gelb, Orange und Rosa verziert. Gott, wie süß, dachte Andrea.

Oben in ihrer Wohnung angekommen, setzte sie sich mit dem Brief in den Schaukelstuhl.

Hallo Andrea!

Ich habe mich ganz doll gefreut ich weiß auch wer du bist. Du bist so lieb.

Ich habe auch eine kleine Schwester sie heist Wolke. Wir sind nicht bei unserer Mami. Unsere Mami die hat jemand erschossen das ist schon lange her schon ein halbes Jahr. Unsere Oma ist in Allmenrod aber da dürfen wir nicht hin. Wir sind hier in ein Heim da waren wir schon mal das heist Sonnenhof aber es ist nicht schön. Die Wolke ist immer traurig. Ich auch aber die Wolke noch viel mehr. Sie hat immer Angst. Hier gibt es zwei große Jungens einer heist Marwin und einer heist Hassan die verkloppen uns oft oder dann ärgern sie uns. Und dann gibt es auch den Herr Schneider vor dem haben wir Angst. Wir dürfen nicht zusammen im Bett liegen dabei hat die Wolke Angst alleine. Ein Kompjuter haben wir hier nicht und auch keine Bücher nur ganz wenige. Ich will gerne über Pferde lesen und auch über Indianer wie kleiner Bruder Watomi und Urmel und Wolke mag den Grüffelo weil sie noch klein ist. Kannst du uns ein Buch schicken? Das wär ganz schön. Ich schicke es auch wieder zurück.

Deine Merle

PS Das ist mein erster Brief den ich schreibe. Deshalb sei nicht böse wenn es dir nicht gefällt ich muss noch üben.

Andrea hatte Tränen in den Augen. Sie hielt den Brief lange in der Hand. Gegen sechs kam, wie freitags üblich, Ulli wieder von der Arbeit direkt zu ihr. Statt in die Küche holte Andrea ihre Freundin ins große Zimmer, wo sie mit dem Brief gesessen hatte, und gab ihn ihr. Ulli nahm ihn, setzte sich zum Lesen aufs Sofa. Als sie fertig war, sagte sie: «O mein Gott, das ist ja herzzerreißend. Die Mutter erschossen. Unvorstellbar. Kein Wunder, dass das Kind eine neue Mami sucht.»

Andrea sah ihr eindringlich in die Augen und schwieg.

«Ach, ich ahne», sagte Ulli nach einem Moment. «Oh-oh. Du denkst, dass wir die Kinder adoptieren sollten.»

«Ich habe das Gefühl, das Schicksal will es so», sagte Andrea nervös. Sie spürte schon Enttäuschung, weil sie herauszuhören glaubte, dass Ulli die Idee fernlag. «Wollten wir nicht immer Kinder?», fragte sie. «Gut, es ging um eigene, aber irgendwie haben wir uns nie entschließen können, das mit der Samenbank oder einem Mann wirklich durchzuziehen. Ist es so nicht viel schöner? Diese Kinder brauchen uns, sonst haben sie niemanden. Zwei kleine Mädchen auch noch. Und dann heißen sie mit Nachnamen zufällig so wie ich, und die Familie scheint sogar aus meiner Vogelsberger Heimat zu kommen. Allmenrod, wo die Oma wohnen soll, ist ein Dorf bei Lauterbach.»

Ulli schwieg einen Augenblick, las den Brief ein zweites Mal. Dann lächelte sie verschmitzt.

«Dann müssen wir aber endlich zusammenziehen», sagte sie. «Und heiraten!»

Andrea lachte los, mit Tränen in den Augen. «Klar. Akzeptiert.» Sie kam zu Ulli aufs Sofa, und die beiden nahmen sich in den Arm. Ulli schmatzte Küsse auf Andreas Gesicht. Andreas Treue zu ihrer Sachsenhäuser Anderthalbzimmerwohnung war der einzige Grund, warum die Freundinnen all die Jahre nie zusammengezogen waren. Ulli hatte gedrängt, aber Andrea hatte sich gescheut, eine Wohnung in Bestlage aufzugeben, in der sie als langjährige Mieterin eine extrem günstige Altmiete von 200 Euro kalt genießen durfte. Sobald sie der Wohnung den Rücken gekehrt hätte, würde diese luxusrenoviert und für das Fünffache an irgendeinen Yuppie neu vermietet. Aber jetzt gab es einen doppelten Grund wegzuziehen, und Andrea würde in den sauren Apfel beißen, der plötzlich gar nicht mehr sauer war.

Da fiel ihr etwas ein.

«Sag mal», fragte sie, «ist eigentlich diese große Wohnung in Höchst noch da, die du mir neulich gezeigt hast?»

Jedes Mal, wenn Ulli eine passende Wohnung im Internet sah, versuchte sie, Andrea damit zu locken. Es ging um Eigentumswohnungen; Ulli fand, in ihrem Alter sei es so weit, dass man sich von Vermietern unabhängig machen müsse. Die Höchster Wohnung war ein ganzes Altbau-Dachgeschoss, viereinhalb Zimmer, und nur deshalb für sie beide bezahlbar, weil die Schrägen sehr schräg waren und das Haus direkt an einem abschreckend lauten Verkehrsknotenpunkt am östlichen Ortseingang Höchsts lag. Ulli hatte besichtigt und festgestellt, nach hinten raus war es akzeptabel ruhig, und der Blick ging weit ins Grüne auf die Wörthspitze, den Zusammenfluss von Main und Nidda.

«Die Höchster Wohnung würde natürlich passen», sagte Ulli, «da hätten wir für jedes Kind ein Zimmer. Das brauchen wir, sonst meckert das Jugendamt garantiert. Man kennt das doch aus dem Fernsehen, was für Ansprüche die Jugendämter an Adoptiveltern stellen. Ein Leibliches kann zwar jeder Idiot kriegen, ohne dass er vorher eine Tauglichkeitsprüfung machen muss …»

«Verdammt», fluchte Andrea. «Du hast recht, wir brauchen vier Zimmer. Hoffentlich ist die Höchster Wohnung noch nicht weg. Wenn sie noch da ist, lass uns sofort zuschlagen. Die gefiel mir richtig gut. Ich war sogar zum ersten Mal in Versuchung.»

«Okay», sagte Ulli. «Gib mir den Laptop, und ich sehe nach, während du kochst.» Innerlich beteten sie beide jetzt. So eine Gelegenheit wie diese Wohnung fand sich wahrlich nicht oft.

Minuten später rief Ulli beim Maklerbüro an. Die Wohnung war noch da. Ulli fackelte nicht lange und gab eine mündliche Zusage. Die Maklerin sagte ihr, sie habe jetzt zwei Wochen Zeit, die Finanzierung zu klären. So lange bleibe die Wohnung reserviert.

Die Finanzierung würde kein Problem werden. Ulli verdiente als festangestellte Chemikerin sehr gut, Andrea als freie Web-Entwicklerin leider weitaus schlechter, weshalb sie sich ja stets so gescheut hatte, ihre billige Wohnung zu verlassen. Aber sie beide hatten Ersparnisse, bei Andrea war es ein praller Bausparvertrag, den ihr die Eltern geschenkt hatten. Zusammen konnten sie das stemmen, ohne dass es für Andrea teurer wurde als bisher.

Bevor Ulli ihrer Freundin in die Küche nachfolgte, hob sie Merles Brief vom Tisch auf und drückte einen Kuss auf das Papier. «Danke, du kleine Maus», flüsterte sie. «Schon deshalb werd ich dich liebhaben.»

***

All die Befragungen bei Graftons «Feinden», all die zahllosen kriminaltechnischen Details aus der Villa brachten sie nicht weiter. Und auch bei den Versicherungen bekamen sie nichts heraus. Am Freitagabend beschloss Winter, die Sache jetzt doch auf seine Weise anzugehen. Erstens beantragte er über Nötzel einen Haftbefehl und Durchsuchungsbefehl für Hendrik von Sarnau. Zweitens rief er bei den Eltern von Birthe Feldkamp an – leider nur, um vom Anrufbeantworter mitgeteilt zu bekommen, man sei auf einer sechswöchigen Nepal- und Tibetreise und nicht zu erreichen. Um irgendeinen Ansatz im Fall Feldkamp zu bekommen, warf Winter einen Blick in die mageren Unterlagen zum Vergiftungsfall. In dem Bericht von Kettler stand, dass Birthe Feldkamp selbstgesammelte Pilze verzehrt hatte. Daher könne man Fremdverschulden ausschließen. Das hörte sich eigentlich plausibel an. Doch warum hatten die Ärzte Anzeige erstattet, wenn die Lage so eindeutig war?

Winter gab den Namen Feldkamp ins System ein. Er stellte fest, dass zwei Tage vor der Anzeige des Falles durch die Uniklinik ein Notruf von Frau Feldkamps Adresse eingegangen war. Da es sich um einen medizinischen Notruf handelte, war ein Rettungswagen losgeschickt worden.

Doch der Anrufer war nicht Frau Feldkamp selbst gewesen, sondern ein Mann. Der Beamte, der den Anruf entgegennahm, hatte wie üblich den Namen des Anrufenden erfragt und «Herr Olsberg» notiert.

Birthe Feldkamp war am Tag der Vergiftung nicht allein zu Haus gewesen.

Winter spürte eine düstere Ahnung. Der Name Olsberg kam ihm ungut bekannt vor.

Er warf einen Blick in POLAS, das Polizeiauskunftssystem. Es gab nur fünf aktenkundige Personen namens Olsberg. Winter scrollte sich durch die Liste. Ein Name war der, den er suchte. Matthias Olsberg, geboren 1987, aufgewachsen in Frankfurt-Niedereschbach. Zum ersten Mal aufgefallen mit vierzehn Jahren wegen Rauschmittelbesitzes. Danach hatte er sich ein Strafregister vom Feinsten erarbeitet: Überfälle, Erpressung, Handtaschenraub, Autodiebstahl, Fahren ohne Führerschein. Nur die Körperverletzung fehlte. Dann 2005 der jähe Höhepunkt und zugleich das vorläufige Ende der jungen Verbrecherkarriere.

Winter konnte sich gut daran erinnern.

Es war ein Winternachmittag gewesen. Der Anruf, den sie erhalten hatten, war in mangelhaftem Deutsch, inkohärent, aber eindeutig: Eine Frau rief an, um mitzuteilen, dass sie ihren Sohn tot in seinem Blut liegend aufgefunden habe. Das Opfer war ein achtzehnjähriger Deutsch-Marokkaner, ein krimineller Kumpan Matthias Olsbergs, mit dem dieser schon mehrfach vorm Jugendrichter gestanden hatte. Im Tod wirkte das wächsern blasse, schmale Gesicht des Jungen wie eine Ikone des gekreuzigten Jesus. Der Tatort war die Hochhauswohnung der Eltern, wo der junge Marokkaner bis zuletzt gewohnt hatte. Als die Polizisten eintrafen, war die Mutter nicht ansprechbar, heulte und jammerte in immer wieder aufwallendem Singsang. Den Weg wies ihnen die Blutlache, die unter einer geschlossenen Zimmertür hindurchgesickert war. Die Tür führte ins Kinderzimmer. Das Zimmer hatte das Opfer mit seinem siebenjährigen Bruder geteilt. Außen auf der Tür prangte ein Poster mit der Aufschrift «Bernd das Brot». Der Tote lag auf einem der beiden Betten. In zwei Teilen. Neben seinem abgetrennten Kopf lag ein Kuscheltier, ein ehemals grauer Elefant, der sich dunkelrot gefärbt hatte. Das Blut war in einem dicken Strahl an die Wand gespritzt und hatte dort ein fontänenartiges Muster hinterlassen. Der Teppichboden war vollgesogen und gab bei jedem Schritt quatschende Geräusche. Vor dem Bett lag das große, geriffelte Brotmesser, mit dem die Tat ausgeführt worden war. Der Pathologe stellte später fest, dass der Täter immer wieder nachgesägt hatte, um alle Teile des Halses zu durchtrennen. Beim Zerteilen der Wirbelsäule hatte das Messer dann Schaden genommen. An der nichtbespritzten Wand gegenüber dem Lager des Toten war etwas mit Blut an die Wand geschrieben: Kurban bayramı. Das sei Türkisch, erklärte ihnen der Vater des Toten, der, von seiner Frau herbeitelefoniert, bald hinzukam. Er war Arbeiter in einer Brotfabrik, blass vor Schrecken unter der olivfarbenen Haut und schien sich die ganze Zeit entschuldigen zu wollen. Die Verbrecherkarriere seines Sohnes war ihm ebenso peinlich, wie ihn sein schrecklicher Tod erschütterte. Ob er eine Ahnung habe, was die türkischen Worte hießen? Ja, natürlich, sagte der Vater, das wisse doch jeder. Kurban bayramı bedeute «Opferfest». Damit sei das Fest während der Wallfahrtswoche nach Mekka gemeint, anlässlich dessen traditionell jede islamische Familie ein Lamm schlachte.

Als Winter das später im Lexikon nachsah, erfuhr er, dass das islamische Opferfest etwas mit Menschenopfern zu tun hatte. Es wurde zu Ehren der Frömmigkeit Abrahams gefeiert, der bereit gewesen war, seinen eigenen Sohn auf Befehl Gottes zu schlachten. Leider gab es diese Geschichte auch in der christlichen Bibel. Winter schätzte, dass die in Blut geschriebene Botschaft des Täters sich irgendwie auf dieses Menschenopfer bezog.

Die erste Hypothese war also ein türkischstämmiger Täter. Doch sie mussten nicht lange rätseln. Das Hochhaus war mit einer Videoüberwachung ausgestattet. Das Opfer dieses mörderischen «Opferfestes» war in der Wohnung nur etwa eine Stunde allein gewesen, bevor die Mutter es tot fand. Innerhalb der fraglichen Stunde zeigte das Überwachungsband einen schlanken jungen Mann, der mit einer Plastiktüte in der Hand das Haus betrat. Beim Hereinkommen zog er auffällig seine Kapuze nach vorn, sodass sein Gesicht nicht zu sehen war. Hieraus ließ sich später der Tötungsvorsatz rekonstruieren. Knappe zwanzig Minuten nach dem Kommen des Unbekannten verließ jemand gleicher Gestalt das Haus, der jedoch andere Kleidung trug. Wieder verdeckte er sein Gesicht mit einer Kapuze und Wegdrehen des Kopfes, als er die Kamera passierte. Der zweite Satz Kleider, den der Täter zweifellos in der Tasche mit sich geführt hatte, sprach ebenfalls klar für eine bis ins Detail geplante Tat.

Die Familie des Toten hatte trotz der Vermummung keinerlei Probleme, die Person auf dem Band zu identifizieren. Von Gang, Statur und Haltung waren alle sicher, dass es sich um Matthias Olsberg handele, den langjährigen Freund des Toten und nach Ansicht des Vaters der schlechte Einfluss, der seinen Sohn auf die schiefe Bahn gebracht hatte.

Winter erinnerte sich noch, wie Gerd und er damals geflachst hatten, ob es das sei, was die Grünen unter Multikulti verstünden: ein deutscher Täter, der einen Marokkaner tötet und eine türkische Parole in Blut an der Wand hinterlässt.

Der knapp achtzehnjährige Matthias Olsberg hatte sich zwar bemüht, seine Täterschaft durch die Vermummung zu verschleiern. Doch merkwürdigerweise leugnete er keine Sekunde, als sie ihn verhafteten und mit dem Vorwurf des Mordes an seinem Freund Said Boutaleb konfrontierten. Olsberg war ein attraktiver, frühreif wirkender junger Mann mit kühlem Charme. Eine merkwürdige Ruhe ging von ihm aus, beinahe so, als befriedige es ihn, geschnappt zu werden. Er gab jede Einzelheit des Tatablaufs zu, weigerte sich jedoch zu sagen, was sein Motiv gewesen sei. Winter hatte die Idee, ihn mit der sechzehnjährigen Schwester des Getöteten zu konfrontieren, die Matthias gut kannte. Die Schwester und die Eltern des Opfers erklärten sich zu dem Experiment bereit. Das Mädchen, Nadia Boutaleb, betrat gefasst und tapfer den Raum, und nun war bei Matthias Olsberg zum ersten Mal so etwas wie Reue oder Scham für seine grausame Tat zu erkennen: Er sah Nadia kurz an, dann drehte er das Gesicht zur Seite.

«Hier ist jemand, der mit dir reden will», führte Winter das Mädchen ein. Und Nadia sagte mit einer Stimme, die voller Tränen, aber zugleich ungemein stark war: «Warum, verdammte Scheiße, hast du das gemacht?»

Der Mörder schwieg.

Nadia ließ sich nicht abwimmeln. «Meine Mutter und mein Vater haben ein Recht drauf, das zu wissen», sagte sie.

Winter war voller Bewunderung für das Mädchen. Und Matthias Olsberg sah jetzt zu der Stehenden auf. «Ich verrat’s dir», antwortete er. «Aber die» – er deutete auf Winter, den zur Sicherheit anwesenden Vollzugsbeamten und die Schreibkraft – «müssen uns alleine lassen.» Zum Schluss wandte er sich an Winter. «Ich will das nur ihr sagen, verstanden?»

Winter hätte es unverantwortlich gefunden, Nadia Boutaleb unbeaufsichtigt mit dem Mörder ihres Bruders allein zu lassen, dessen Reaktionen, Pläne und Motive vollkommen undurchsichtig waren. Deshalb stimmte er zwar zu, log aber, als er versprach, sie würden den Raum nicht überwachen lassen. Sie organisierten ein «vertrauliches» Zusammentreffen in einem verwanzten Raum mit einer Kamera, die gut getarnt in einem Aktenregal lauerte. Was auch immer sie so erfuhren, durfte gerichtlich nicht verwertet werden. Aber sie konnten binnen einer Sekunde eingreifen, falls Olsberg der Schwester seines Freundes an die Gurgel ging. Jemandem, der seinem besten Freund mit einem Brotmesser den Hals durchsägte, traute Winter alles zu. Alles.

Was dann tatsächlich geschah, beobachtete Winter ungläubig in schlechten Videobildern von der Kontrollstation. Olsberg ging auf die Schreibmaschine zu, die, wie damals noch üblich, auf einem der Tische stand, zog ein Blatt ein und begann überraschend routiniert zu tippen. Nach gerade einmal zwei Zeilen zog er das Blatt aus der Maschine und hielt es Nadia am ausgestreckten Arm zum Lesen hin. Während Nadia las, blickte Matthias Olsberg sie die ganze Zeit eindringlich an. Als sie fertig war, sah sie hoch, erwiderte den Blick und senkte dann die Augen. «Hast du Feuer?», fragte Olsberg leise. Ohne ein Wort zog Nadia ein Feuerzeug aus der Tasche und reichte es ihm. Er zündete das Blatt an, während er es an einer Seite festhielt.

«Los, rein, nehmt ihm das Feuerzeug und das Blatt weg», befahl Winter über Funk den vor der Tür positionierten Beamten. Doch die konnten nicht mehr viel ausrichten: Der Rand des Blattes, der die Schrift enthielt, war schon zu einem gerollten schwarzen Etwas verkohlt.

Nadia nahmen sie in einem zweiten Raum beiseite. Doch als Winter eintrat und den harten, trotzigen Gesichtsausdruck des Mädchens sah, ahnte er schon, wie es ausgehen würde. «Danke, Nadia, dass du dich darauf eingelassen hast», begann er, um guten Wind zu machen. «Das war sehr mutig von dir. Was stand denn auf dem Zettel?»

«Sag isch nisch», nuschelte Nadia. Und dabei blieb es.

Aus alledem schloss Winter, dass in dem moralischen Universum, in dem Matthias und die Familie Boutaleb lebten, seine Tat eine Art Berechtigung gehabt hatte. Said hatte sich etwas zuschulden kommen lassen, das Nadia zu offenbaren peinlich war. Und dafür hatte Matthias ihn hingerichtet.

Winter vermutete damals einen Verstoß gegen die Verbrecherehre. Vielleicht hatte Said seinen Kumpan Matthias bei irgendeinem gemeinsamen Coup auf besonders üble Weise übertölpelt.

Worum es wirklich gegangen war, kam erst Monate später ans Licht. Und zwar während des Prozesses, in dem Olsberg zu einer Jugendstrafe nahe am gesetzlich möglichen oberen Limit verurteilt wurde. Eigentlich musste Olsberg heute noch im Gefängnis sitzen. Doch als Winter das überprüfte, stellte sich heraus: Matthias Olsberg war im Juni aus der Haft entlassen worden. Verfrüht, wegen guter Führung. Und zwar genau vier Tage bevor der Notruf eines Herrn Olsberg aus Birthe Feldkamps Haus bei der Polizei einging.

Das war doch verrückt. War es möglich, dass es derselbe Olsberg war und dass das alles zusammenhing? Olsbergs Entlassung mit dem Tod der drei Frauen?

Jetzt spinne ich, überlegte Winter. Wahrscheinlich hatte Fock recht, und er rannte überhaupt seit Januar Phantasiegespinsten hinterher.

Da kam Winter noch eine Erinnerung. Als er wegen Grafton in der Uni gewesen war, war ihm in der Cafeteria ein Student von Mitte zwanzig aufgefallen, der ihm sehr bekannt vorkam, dessen Gesicht er aber nicht einordnen konnte. Der junge Mann hatte ihn eindringlich gemustert, sich dann aber abrupt abgewandt. Plötzlich war Winter sich sicher: Er hatte an jenem Tag Matthias Olsberg gesehen.

Ihm blieb nichts anderes übrig, er musste sich an die Bewährungshilfe wenden und herausbekommen, ob der Absetzer des Notrufs tatsächlich mit dem Mörder Olsberg identisch war.

***

Winter ging am folgenden Montag in aller Frühe zu Fock. Der sah noch immer gutgelaunt aus. Nur die Vase mit den Lilien war verschwunden.

«Ach ja, Winter. Gibt’s endlich Erfolge?»

«Wie man’s nimmt. Es wird noch komplizierter. Ich habe Freitagabend etwas herausgefunden. Und zwar betreffs dieser Klassenkameradin von Sabrina Vogel, die an einer Pilzvergiftung gestorben ist. Diese Birthe Feldkamp war am Tag ihrer Vergiftung nicht allein im Haus. Sie hatte seit mehreren Tagen einen Untermieter. Und zwar einen gewissen Matthias Olsberg, den wir mal wegen Mordes an einem jungen Marokkaner eingebuchtet haben und der damals acht Jahre Jugendstrafe bekommen hat. Vier Tage vor Birthe Feldkamps Vergiftung wurde er aus der Haft entlassen.»

Focks Gesicht war jetzt ausdruckslos. «Olsberg? War das der Jugendliche, der einem anderen den Kopf abgesägt hat?»

«Genau der.» Der Mord an dem jungen Said Boutaleb war damals sogar hartgesottenen Kriminalern an die Nieren gegangen. So etwas vergaß selbst Fock nicht.

«Also, Winter, das wird mir jetzt zu bunt. Was hat denn nun der Olsberg mit der Sache zu tun? – Ach, natürlich, ich weiß! Der war der zweite geheuerte Killer! Dieser Lebensversicherungsbetrüger, der sich gegenüber der Sabrina Vogel Sumathi genannt hat, der sucht sich halt die richtigen Leute für seine dreckigen Morde aus. Einmal einen zigfach vorbestraften russlanddeutschen Drogensüchtigen, das nächste Mal einen gerade aus dem Knast entlassenen Mörder, der sicher dringend Geld braucht … nun, dann ist doch wieder alles klar.»

«Na ja, noch nicht ganz. Jedenfalls werde ich mir den Olsberg jetzt mal vornehmen. Und bei dem Verdächtigen Sarnau will ich eine Durchsuchung machen. Der sogenannte Sumathi muss ein charmanter, für Frauen attraktiver Mann mit großer Überzeugungskraft sein, der aus dem Raum Lauterbach stammt und mal etwas mit Frau Vogel hatte, der außerdem Jurist ist, sodass er von diesem historischen Siriusfall weiß, der in der Juristenausbildung eine Rolle spielt und ihn offenbar inspiriert hat, und er dürfte heute in Frankfurt wohnen. Das alles passt wohl am besten auf Hendrik von Sarnau. Der dürfte als Anwalt auch ein paar Leute im kriminellen Milieu kennen, aus dem er seine bezahlten Henker bezieht. Wir sollten es nicht mehr aufschieben, mit dem Herrn zu sprechen. Bis wir über die Versicherungen weiterkommen, kann es noch Wochen dauern, bei deren Bürokratie. Falls tatsächlich eine Lebensversicherung existiert, wurde das Geld bestimmt noch nicht abgerufen. Sonst hätten die Versicherungsleute selbst ermittelt und wären auf uns zugekommen. Bei einem Mordfall zahlen die doch nicht einfach so.»

«Machen Sie mit dem Sarnau, was Sie nicht lassen können», erklärte Fock. «Aber ich muss schon sagen, Winter, es geht verdammt langsam voran. Immerhin haben Sie den Doppelmord Vogel schon seit Januar auf dem Schreibtisch.»

Winter dachte, er höre nicht recht. Irgendwie beherrschte er sich, sagte bloß ironisch: «Darf ich daran erinnern, Chef, dass die Akte Vogel im Januar auch gleich wieder geschlossen wurde, und zwar gegen meinen ganz ausdrücklichen Wunsch?»

«So?», sagte Fock. «Ach, Winter, nun seien Sie doch nicht immer so leicht beleidigt. Ich weiß ja, Sie hatten zwischendurch anderes zu tun.»

***

Winter war etwas schockiert, als er von der Bewährungshilfe erfuhr: Olsberg wohne noch immer im Haus der toten Birthe Feldkamp in der Straße Krumme Weiden.

Matthias Olsberg hatte einen ganz normalen Mietvertrag für ein Zimmer des Hauses und Mitbenutzung der Funktionsräume. Die Kündigungsfrist betrug drei Monate. Frau Feldkamps Erben, in dem Fall ihre Eltern, hatten ihn nicht sofort hinauswerfen können. «Für Herrn Olsberg ist es natürlich nicht leicht, eine neue Bleibe zu finden», erläuterte die Bewährungshelferin am Telefon. «Aber er hat sich sehr bemüht und jetzt ein Zimmer in einer WG im Gutleutviertel in Aussicht. Bald wird er umziehen.»

«Was für einen Eindruck macht Olsberg auf Sie?»

«Sehr verbindlich, darauf bedacht, nicht anzuecken und sich die Bewährung nicht zu verbauen. Aber auch verschlossen. Lässt nicht in sich blicken. Ein intelligenter Psychopath, wenn Sie mich fragen.»

Winter dachte auf der Fahrt über Olsberg nach. Einiges an diesem jungen Mann war sehr eigenartig.

In seiner ganzen traurigen jugendkriminellen Karriere hatte Matthias Olsberg handgreifliche Gewalt immer vermieden. Tatsächlich hatte es keine einzige Anzeige wegen Körperverletzung gegen ihn gegeben, bis zu dem schrecklichen Mord, der ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Bei diesem Mord aber ging es nicht um Habgier. Sondern das war eine persönliche Rache für eine persönliche Kränkung gewesen. Winter hatte Olsberg eigentlich nicht für die Sorte Verbrecher gehalten, die für Geld Leute umbringt.

Doch da konnte er sich täuschen. Die Tat damals hatte Olsberg vielleicht einen Blutrausch oder Machtrausch erleben lassen und alle verbliebenen moralischen Schranken niedergerissen. Außerdem hatte er viele Jahre im Gefängnis verbracht. Verbrecherische Tendenzen werden durch das Haftmilieu oft befördert statt gebremst, besonders bei formbaren Jugendlichen. Deshalb machte das Gesetz es Jugendrichtern so schwer, jemanden ins Gefängnis zu stecken.

Winter hatte plötzlich wieder die verschwommenen Videobilder der Hochhaus-Überwachungskamera vor dem inneren Auge. Matthias Olsberg war ihm damals extrem unheimlich gewesen, nicht nur wegen seiner brutalen Tat, sondern auch weil er so kühl, so kontrolliert wirkte. Immer wieder hatte Winter sich das Band angesehen, das zeigte, wie der Täter nach der Tat das Hochhaus verließ. Und hier gab es ein winziges Anzeichen, dass hinter all der Kühle und Distanziertheit irgendwo doch noch ein kleiner Funken normales menschliches Gefühl verborgen war. Man sah es nur, wenn man vergrößerte: Die Hand, die die Kapuze ins Gesicht zog, zitterte.

Die Vernehmung wollte Winter selbst machen, allein, ohne Kollegen. Vorsichtshalber ließ er allerdings einen Streifenwagen in der Nähe des Hauses von Birthe Feldkamp positionieren. Er traute Matthias Olsberg in keinster Weise.

«Ich habe geahnt, dass wir uns noch mal wiedersehen», begrüßte Olsberg ihn auf der Schwelle. Winter spürte sofort wieder den oberflächlichen, kühlen Charme, der von dem schlanken jungen Mann ausging, ein Charme, von dem er wusste, dass ihm nicht zu trauen war.

«Wir sind uns neulich in der Uni begegnet, oder?», fragte Winter.

«Stimmt», sagte Olsberg mit dem Hauch eines Lächelns. «Ich war mir aber nicht ganz sicher; das alles ist sehr lange her.»

Olsberg führte Winter nicht ins Wohnzimmer, sondern in die Küche, also einen der Räume des Hauses, die er laut Mietvertrag benutzen durfte. Will er mir vorführen, wie geläutert und korrekt er ist?, fragte sich Winter.

«Sie studieren?», fragte er laut.

Olsberg nickte, während er Wasser aufsetzte. «Ich habe in der JVA erst den Hauptschulabschluss und dann per Fernkurs das Abi nachgemacht», erläuterte er. «Das Studium habe ich schon letztes Jahr als Freigänger angefangen.»

«Stramme Leistung», lobte Winter. Aha, Olsberg war zum Zeitpunkt des Mordes an Sabrina Vogel bereits auf freiem Fuß gewesen. Allerdings nur tagsüber. Doch wahrscheinlich hatte man einem so privilegierten Häftling zu Weihnachten Hafturlaub gewährt. Das würden sie überprüfen müssen. «Was studieren Sie?», schob Winter nach.

«Mathe und Geschichte auf Lehramt.»

Der verurteilte Mörder eines Jugendlichen wollte Lehrer werden? Unglaublich. Aber was Winter noch unheimlicher war: Genau diese ungewöhnliche Fächerkombination hätte er selbst studiert, wenn es seinerzeit mit der Polizeibewerbung nicht geklappt hätte.

«Lesen hat mich gerettet», verkündete Olsberg, eine Teekanne in der Hand, während Winter mit seinen Gedanken gerade weit weg war.

«Wie meinen Sie das?»

«In der JVA. Und überhaupt. So gesehen hat mich die JVA gerettet. Um das auszuhalten, und mich selber auszuhalten nach dem, was ich getan hatte, brauchte ich einen Ort in meinem Kopf, wohin ich mich zurückziehen konnte. Mit Büchern geht das. Man ist still und konzentriert und kommt zur Ruhe. Die Bücherei in der JVA war nicht besonders, aber auch wenige und schlechte Lektüre ist besser als keine. Und dann habe ich dank dem Tipp eines Beamten die Fernleihe entdeckt. Die anderen haben ihr Taschengeld für Tabak und Koks ausgegeben, ich für Bücher. Ich hab beim Lesen so viel gelernt. Nicht nur im wörtlichen Sinne, auch über Menschen. Wie andere ticken. Dass es nicht nur Egoismus und Angst und Gier und Kampf gibt, sondern auch sehr viel Mitgefühl und Liebe und Solidarität.»

Winter staunte. So viel am Stück hatte der junge Matthias Olsberg vor sechs Jahren in keiner der Vernehmungen geredet. Über eigene Gefühle und Gedanken schon gar nicht. Wollte Olsberg den Polizisten mit dieser pathetischen Geschichte einer geistigen Neugeburt einlullen oder manipulieren? Winter dachte an die Aussage der Bewährungshelferin: ein intelligenter Psychopath.

«Warum erzählen Sie mir all das?», fragte er offen. «Oder erzählen Sie das jedem, dem Sie heutzutage begegnen? Quasi zur Vorstellung?»

Olsberg hatte den Tee eingegossen, ohne Winter zu fragen, ob er welchen wolle. Er setzte sich, schwieg einen Moment mit unbewegtem Gesicht. Dann erklärte er: «Ich glaube, ich wollte das gerade Ihnen sagen. Ich hab gemerkt, damals … ich hatte das Gefühl, dass Sie mich beobachten, dass Sie wissen wollen, was in mir vorgeht. Obwohl Sie nicht der Netteste bei den Vernehmungen waren. Aber man hat gemerkt, dass bei Ihnen ein menschliches Interesse dahintersteckt. Ich hab mich vor Ihnen geschämt. Später, als ich die Schule nachgemacht habe, hat mich ein bisschen der Wunsch getrieben, Ihnen zu zeigen, dass mehr in mir steckt als das kranke Ghettokid, als das Sie mich gesehen haben. Deshalb ist es mir ganz recht, dass ich Sie jetzt wiedergetroffen habe und ein bisschen vor Ihnen angeben kann mit dem, was ich geschafft habe.»

«Danke, dass Sie mich der Ehre für wert befinden», sagte Winter und mühte sich, die Ironie nicht zu sehr hören zu lassen. Jetzt war er sicher: Olsberg schmeichelte ihm und wollte ihn manipulieren.

«Danke, dass Sie mich siezen», sagte Olsberg schlicht. Winter hatte keine Ahnung warum, aber diese Worte verkehrten seine erste Einschätzung ins Gegenteil: Jetzt hatte er das Gefühl, der Junge hätte ihn wirklich in den letzten Minuten in sein Innerstes sehen lassen. Gut, dass er kein Psychologe war.

«Herr Olsberg, ich bin leider nicht zu einem privaten Besuch hier.»

Matthias Olsberg seufzte, dann drehte er den Kopf zur Seite.

«Eigentlich wusste ich es. Etwa wegen Birthe?»

«Ja.» Winter wartete auf eine spontane Äußerung, aber es kam keine. Dann versuchte er den Moment der zumindest scheinbaren Offenheit Olsbergs zu nutzen und fragte direkt: «Warum haben Sie Frau Feldkamp Giftpilze ins Essen gemischt?»

Olsberg warf ihm einen scharfen Blick zu, sein Ausdruck wurde feindselig, und er richtete sich im Stuhl auf.

«Ich habe Frau Feldkamp nichts ins Essen gemischt», sagte er entschieden.

«Sie haben also Frau Feldkamp nicht getötet?»

«Nein, definitiv nicht.» Sein Ton war hart.

Winter erinnerte sich an einen Moment vor sechseinhalb Jahren. «Hast du deinen Freund Said umgebracht?», hatte er Matthias Olsberg gefragt, sobald dieser nach seiner Verhaftung von den Beamten des SEK, die ihn geholt hatten, sehr unsanft in den Vernehmungsraum gebracht wurde. «Ja», war die schlichte Antwort gewesen.

Winter neigte dazu, dem jetzigen entschiedenen Nein zu trauen. Aber waren nicht alle Äußerungen Olsbergs vorhin mit dem einen Ziel geschehen, ihn in vertrauensselige Stimmung zu versetzen? Ein intelligenter Psychopath.

«Wenn Sie es nicht waren, wer war es dann?»

Ein Moment des Schweigens. Dann: «Keine Ahnung.»

Wäre Matthias Olsberg unschuldig, hätte er dann nicht eher sagen müssen, Birthe Feldkamp sei an einem Unfall gestorben, an Pilzen, die sie selbst gesammelt hatte?

Winter hakte nach. Die nächsten fünf Minuten verliefen als Streitgespräch, in dem Olsberg weiterhin leugnete, mit Birthe Feldkamps Tod irgendetwas zu tun zu haben oder etwas darüber zu wissen, bis er sich schließlich zu der trotzigen Äußerung hinreißen ließ: Was auch immer Winter denke, sei ihm scheißegal, man könne ihm ja wohl jedenfalls nichts nachweisen.

Winter versuchte es aus einer anderen Richtung, ließ sich erzählen, wie Olsberg Birthe Feldkamp kennengelernt hatte und wie es gekommen war, dass er bei ihr einzog.

Letztlich führte das alles nirgendwohin.

«Kennen Sie einen Hendrik von Sarnau?», fragte Winter am Schluss

«Nein, den Namen habe ich noch nie gehört.»

«Was hat Birthe Feldkamp Ihnen getan, damit sie sterben musste?»

«Nichts. Birthe hat mir nichts getan, und ich hab sie nicht umgebracht.»

Zwischendurch hatte Olsberg laviert, da war Winter sich sicher. Aber jetzt hörte er sich wieder ganz wahrhaftig an.

Er würde es an einem anderen Tag noch einmal versuchen. Vorläufig war sein Eindruck: Olsberg hatte Frau Feldkamp nicht eigenhändig die Giftpilze verabreicht. Aber vielleicht hatte er den Zugang zum Opfer verschafft. Vielleicht sogar ohne zu wissen, was er da tat.

«Nichts für ungut», sagte Winter zum Abschied, um Olsberg in Sicherheit zu wiegen. «Das musste sein. Sie wissen ja, ich mache hier nur meinen Job.»

«Schon okay», murmelte Olsberg. Für eine Sekunde spürte Winter ein schlechtes Gewissen wegen mangelnder Wahrhaftigkeit seinerseits. Aber es war ja tatsächlich so: Er machte hier nur seinen Job.

***

Später rief Winter noch einmal bei der Bewährungshelferin an, um einige Dinge gegenzuchecken. Da erfuhr er etwas Seltsames: Birthe Feldkamp hatte schon im Januar angeboten, Olsberg könne nach der Entlassung bei ihr einziehen. Doch Olsberg hatte abgelehnt. Erst Anfang Juni, zwei Wochen vor seiner Entlassung, hatte er sich plötzlich umentschieden. Und das, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits ein Zimmer in einem Studentenwohnheim besaß.

Winter fackelte nicht lange, er fuhr geradewegs zu dem Haus am Nieder Stadtrand zurück. Olsberg war noch da. Winter fiel mit der Tür ins Haus.

«Sie müssen mir was erklären. Erst wollten Sie nicht bei Frau Feldkamp einziehen und hatten sich ein Zimmer im Studentenwohnheim besorgt. Dann, zwei Wochen vor Ihrer Entlassung, haben Sie sich anders entschieden. Wie kam es denn zu diesem plötzlichen Sinneswandel?»

Olsberg wandte sich ab, druckste herum. Schließlich behauptete er: Ihm habe die Rollenverteilung zwischen ihnen beiden nicht gepasst. Birthe sei die Ältere, Wissendere gewesen, die dem armen Knasti gnädig Hilfe angedeihen ließ. Er habe außerdem nach so viel Mangel an Privatsphäre in der JVA und nach so viel Verlust an Autonomie endlich einmal alleine und unabhängig von anderen Leuten sein wollen.

Winter war wieder erstaunt, wie gut und gewählt Olsberg gelernt hatte sich auszudrücken. Bildungsmäßig hatte Matthias Olsberg einen großen Sprung getan seit damals, als er ein krimineller Jugendlicher aus einem sozialen Brennpunkt gewesen war. Ob er sich emotional ebenso viel weiterentwickelt hatte, war weit weniger gewiss.

Nach einer kurzen Pause schob Olsberg seiner Ausführung noch etwas Entscheidendes nach: «Ich wollte nicht der Sexsklave sein, der sich aushalten lässt.»

Aha, dachte Winter. «Also hatten Sie doch eine sexuelle Beziehung zu Frau Feldkamp.»

Am Morgen hatte Olsberg das geleugnet.

«Zuerst nicht», behauptete er. «Also, während ich noch in Haft war. Überhaupt gar nicht. Aber es war mir irgendwie klar, wenn ich bei ihr einziehen würde, würde es dazu kommen.»

«Und? Kam es dann dazu?»

«Ja. Ja, sicher.»

«Warum haben Sie das heute Morgen abgestritten?»

«Ach, verdammte Kacke. Es waren doch nur zwei Tage. Weil ich gefürchtet habe, dass Sie mir da ein Motiv draus drehen. Sie habe mich verlassen wollen und ich hätte mich rächen wollen oder so. Aber das ist Unsinn. In den paar Tagen, in denen ich hier mit ihr zusammen war, da war alles okay zwischen mir und Birthe. Es war sogar sehr schön. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass sie nicht gestorben wäre.»

«Aha. Übrigens, Herr Olsberg, Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet. Sie haben mir nur erklärt, warum sie zuerst nicht zu Frau Feldkamp ziehen wollten. Warum haben Sie denn nun so kurz vor der Entlassung Ihre Meinung geändert?»

Matthias Olsberg drehte sich neuerlich weg, die Hände in den Taschen. Nach ein paar Sekunden wandte er sich Winter wieder zu und sah ihm in die Augen. «Nachdem ich im Januar gesagt habe, ich will nicht zu ihr ziehen, hatte sich zwischen uns was verändert. Diese Rollenverteilung war weg. Es war dann nicht mehr so, dass ich der Hilfeempfänger war und sie der gnädige Engel. Sondern ich hab gemerkt, sie braucht mich genauso wie ich sie. Außerdem … ich hatte das Gefühl, sie zieht sich zurück von mir, und dass wir uns dann nach der Haft gar nicht mehr sehen, wenn ich nicht bei ihr einziehe. Ich hatte sie wohl verletzt mit meiner Absage.»

«Und was ist am oder kurz vor dem 8. Juni geschehen, dass Sie ausgerechnet dann Ihre Entscheidung revidiert haben?»

«Gar nichts. Es ging auf die Entlassung zu, ich musste Nägel mit Köpfen machen. Da hab ich dann eben gefragt, ob sie mich noch nehmen würde.»

 

Doch, würde ich, hatte sie gesagt, nach einer langen Pause. Und in ihren Worten hatte alle Bedeutung der Welt gelegen.

Zwei Tage zuvor hatte sie in der JVA angerufen und einen Besuch für den nächsten Tag angekündigt, den ersten seit langem und keinen gewöhnlichen. «In meinem Leben hat sich was geändert», hatte sie in bester Laune gesagt. «Ich bringe jemanden mit.»

 

Winter ließ der Eindruck nicht los, dass Olsberg ihm etwas verschwieg. Aber Nachfragen brachten ihn keinen Schritt weiter. Als er sich schließlich verabschiedete, hatte Olsberg, in der Tür stehend, ihm nachgerufen: «Herr Winter?»

Winter drehte sich um. Kam jetzt ein Geständnis?

«Bitte, glauben Sie mir», sagte Olsberg stattdessen. «Ich hab Birthe nichts getan. Verderben Sie mir nicht meinen Neuanfang mit einer falschen Anschuldigung. Das wäre … ach, ich will nicht betteln. Aber das wäre wirklich sehr schlimm für mich.» Sein Blick aus traurigen Augen hätte Steine zum Schmelzen bringen können.

Einen Moment lang tat ihm Olsberg leid. Winter spürte ein schlechtes Gewissen aufsteigen, weil er jemandem, der möglicherweise tatsächlich ein neues Leben begonnen hatte, dieses schwermachte. Doch dann fragte Winter sich, ob einer, der so grausam getötet hatte wie Matthias Olsberg, überhaupt das Recht hatte, auf Mitleid zu plädieren.

«Wenn Sie nichts getan haben, haben Sie nichts zu befürchten», sagte er knapp.

Sein Blick ging fort vom Haus nach Norden, in die unbebaute Landschaft, wo der Wind die Pappeln an der Nidda bog und sich in der Ferne die Silhouette des Taunus abzeichnete. Über den Himmel zogen schnelle Wolkenberge. Es sah aus, als komme der Herbst.

***

Zurück im Präsidium, das Protokoll geschrieben, beschloss Winter, die Sache mit Ziering zu besprechen. Arno Ziering hatte Olsberg damals ebenfalls kennengelernt. Winter gab ihm das Protokoll zu lesen. «Wie schätzt du das ein?», fragte er, nachdem der Kollege gelesen hatte. Ziering hob die Brauen und klopfte mit dem Finger auf eine Stelle des letzten Blattes, das er vor sich auf dem Tisch liegen hatte.

Winter schob das Blatt zu sich, um zu sehen, auf welchem Wort Ziering seinen Finger liegen hatte. Es lautete: «Sexsklave.»

«Sexsklave? Wie meinst du das?»

In genau diesem Moment betrat Aksoy den Raum und kicherte. «Geheimes Konsil über Sexsklaven? Könnt ihr mich auch einweihen?»

«Setz dich», sagte Winter, «wir erklären es dir gleich. Arno, sag erst mal, wie meinst du das?»

«Ist doch klar. Olsberg wirft hier der Feldkamp vor, dass sie ihn als Sexsklaven hält oder halten will. Erinnerst du dich noch an das Motiv für seinen ersten Mord?»

Winter blieb beinahe der Atem weg. «Natürlich», sagte er schließlich. «Das hatte ich übersehen.»

Aksoys Blick ging vom einen zum anderen. «Bitte um Aufklärung», sagte sie amüsiert. «In Sachen Sex habe wohl ich eine Bildungslücke.»

Sie erzählten ihr die Geschichte, mit der Olsberg während seines Prozesses herausgerückt war.

***

Matthias’ Geschichte war klassisch. Seine Mutter war ein deutsches Sinti-Mädchen namens Carina, die es mit sechzehn aus den Zwängen ihrer Großfamilie fortgezogen hatte. Geholfen hatte Carina einer ihrer Lehrer, der auf der Suche nach sexueller Abwechslung war und sie in einer kleinen Wohnung in Siegen eine Weile aushielt. Als dessen Frau dahinterkam, war Carina schwanger. Der Lehrer gab Carina zehntausend Mark in kleinen Scheinen und ließ sie dafür einen Zettel unterschreiben, dass sie die Stadt verlassen und keine weiteren Ansprüche an ihn stellen werde. Zehntausend Mark schienen Carina ein unermessliches Vermögen. Dass ihre Unterschrift unter einen solchen sittenwidrigen Vertrag nicht bindend war, ahnte sie nicht.

Sie kaufte eine Fahrkarte und landete am Frankfurter Hauptbahnhof, wo sie die falschen Leute kennenlernte und mit Drogen experimentierte, bis sie heroinsüchtig war. Matthias’ früheste Erinnerungen spielten in einer Einzimmerwohnung im Gallusviertel. Sein Bett stand im Flur, und seine Mutter bekam häufig Besuch von wechselnden Männern, die Geld vorbeibrachten. Zwischendurch kam ein Mann namens Kai, den Matthias hasste und fürchtete, den seine Mutter aber als ihren Freund bezeichnete. Kai brachte kein Geld, sondern nahm welches mit, hatte unberechenbare Launen und ließ Carina nicht selten weinend zurück. Manchmal verprügelte er sie so, dass sie schrie. Manchmal blieb er drei Tage am Stück und war die ganze Zeit über nett.

Irgendwann musste Matthias zu fremden Leuten. Carina war im Gefängnis. Daran schloss sich eine Entziehungskur an. Als Carina wieder in Matthias’ Leben auftauchte, voller guter Vorsätze und mit einer Dreizimmerwohnung am Frankfurter Berg, war sie mit einem weiteren Kind schwanger. Eine Weile ging alles gut, bis auf die Tatsache, dass Mitte des Monats immer das Geld alle war, das sich jetzt «Sozi» nannte. Um mehr Geld zu haben und ihren Kindern mal was kaufen zu können, holte sich Carina wieder gelegentlich Männer ins Haus. Um diese besser ertragen zu können, fing sie wieder mit Drogen an. Für die Drogen brauchte sie wiederum mehr Geld. Bald gab es unter anderem Namen auch wieder einen Kai, der seine eigene Drogensucht über Carina finanzierte. Mehr als seine Mutter war es Matthias, der die kleine Schwester betreute, ihr regelmäßig zu essen gab, ihr neue Kleider anzog und mit ihr das Zimmer aufräumte. Dann wieder Heim und Pflegefamilie für die Kinder, weil Carina ins Gefängnis kam und später in den Entzug. Dann eine neue Wohnung in einem Hochhaus in Niedereschbach, und alles ging wieder von vorne los.

Als Melli, die kleine Schwester, neun war, hatte ihre Mutter einen Freier, der Interesse an Melli zeigte. Für ein bisschen Zeit mit «der Kleinen» war er bereit, mehr zu zahlen. Carina nahm das Angebot dankend an. Matthias war damals vierzehn und wusste sehr genau, dass an diesem Deal nichts in Ordnung war. Schlimm genug, was seine Klassenkameraden, die meist Muslime waren, von seiner armen Mutter hielten. Das mit Melli aber überstieg, was er selbst bereit war zu akzeptieren. Das sagte er auch Carina. Als derselbe Freier das nächste Mal erschien, schrie und tobte Matthias und schob den Mann vor die Tür, bevor er sich an Melli vergreifen konnte.

Heimlich, still und leise machten Carina und ihr Kunde einen neuen Termin am Vormittag aus, zu Matthias’ Schulzeit. Melli wurde eingeweiht und sollte sich nach der zweiten Stunde bei der Lehrerin krankmelden. Doch genau so etwas hatte Matthias vorausgesehen. Er schwänzte eine ganze Woche durch; postierte sich in einem Gebüsch, bis er erst Melli und eine halbe Stunden später den verhassten Typen das Haus betreten sah. Der Mann war übrigens ein Salbungsvoller, der Zeugen-Jehovas-Blättchen mit sich herumschleppte und Melli angeblich nur die Liebe Gottes lehren wollte. Matthias folgte dem Freier im Abstand von zwei Minuten, betrat oben leise die Wohnung, griff geradewegs zum im Flur stehenden Telefon und wählte 110. Er meldete sich mit Namen und Adresse und erklärte dann laut und deutlich: «Bitte kommen Sie sofort, meine Mutter hat hier einen Freier, der vergewaltigt gerade meine neunjährige Schwester.»

Der Genannte erschien rotgesichtig in Mellis Tür. «Bist du noch ganz bei Trost?», fauchte er. Viel mehr kam von ihm nicht, da seine Priorität darin bestand, so schnell wie möglich Wohnung und Haus zu verlassen. Kaum war er draußen, stand dafür Carina böse, verzweifelt und mit Tränen in den Augen vor Matthias. «Willst du mich ins Gefängnis bringen? Wie kannst du mir das antun, mein eigener Sohn?»

Als die Polizisten da waren, mit einem Ausdruck von Missfallen und Verachtung im Gesicht, behauptete Matthias: Der Mann sei schon weg, außerdem handele es sich um ein Missverständnis, er habe zwar verdächtige Geräusche gehört, aber seiner Schwester habe niemand etwas getan, der Freier sei bei der Mutter gewesen. Melli bestätigte das ängstlich. Sie wollte nicht schuld sein, wenn die Mama wieder weggesteckt wurde.

Als die Polizisten überheblich und verärgert davongegangen waren, sagte Matthias zu seiner Mutter: «Das nächste Mal mache ich ernst. Ich schwöre dir, noch einmal, und du bist weg.»

Carina brach in Tränen aus. «Du verdammter Scheißkerl», fluchte sie. «Ich weiß genau, wie du auf deine Mutter runterblickst. Dabei schaff ich doch nur das Geld für euch an, irgendwer muss es ja tun. Du toller Kerl mit deinen vierzehn Jahren bist ja für nichts gut. Früher haben Jungen in deinem Alter gearbeitet, du kannst bloß essen und Geld ausgeben. Eh du nicht auch Geld ranschaffst, lass ich mir von dir nichts sagen. Melli ist brav und gehorcht, die weiß, wer es gut mit ihr meint.»

Matthias zitterten die Knie. Er blieb stur, sagte immer nur: Sie könne machen, was sie wolle, aber nicht mit Melli, und beim nächsten Mal würde sie ins Gefängnis wandern, das sei ihm egal.

«Und was soll dann aus euch werden?», fragte Carina zwischen Verzweiflung und Zorn.

Da rutschte es Matthias heraus: «Jedenfalls was Besseres als du.»

Sie knallte ihm eine, tief verletzt. Er schlug nicht zurück, obwohl er heftig den Trieb spürte, es zu tun. Doch er hatte sich immer wieder hoch und heilig als wichtigstes Prinzip geschworen, niemals die Beherrschung zu verlieren, niemals eine Frau zu schlagen, niemals so zu werden wie Kai und seine Nachfolger, alles minderbemittelte Sauf- und Drogennasen, lächerliche Figuren, die nur gegenüber Frauen stark sein konnten.

Am Abend entschuldigte er sich bei Carina, sagte ihr wahrheitsgemäß, er liebe sie, und er wolle sich zukünftig am Geldverdienen beteiligen. Nur betreffs Melli nahm er nichts zurück.

Die nächsten Wochen schwänzte Matthias fast durchgängig. Entweder er bewachte im Gebüsch das Haus. Oder er war in der Stadt unterwegs, klauen für Melli, für Mama, für sich. Er war geschickt und wurde praktisch nie erwischt. Fast alles ließ sich so besorgen: Kleider, Unterhaltungselektronik, Geschirr. Ein Problem waren nur die Lebensmittel. In den Supermärkten war man zu aufmerksam, um einem pubertierenden Jungen mit dunklem Haar große Beute durchgehen zu lassen. Für Lebensmittel-Großeinkäufe brauchte es Bargeld. Zusammen mit seinem Freund Said aus dem Nebenhaus begann Matthias, jüngere Schulkinder auf dem Nachhauseweg zu bedrohen und Geld oder Wertsachen zu erpressen. Sie lernten schnell, bei welchen Kindern mit guter Beute zu rechnen war, zogen von Stadtteil zu Stadtteil, von Schule zu Schule, um immer neue, überraschte Opfer zu finden und nirgendwo allzu bekannt zu werden. Eines Tages brachte Said eine Spielzeugpistole mit, die täuschend echt aussah. Sie besorgten sich schwarze Gesichtsmasken und verlegten sich darauf, Kioske zu überfallen. Sie lernten die richtigen Leute kennen und das richtige Werkzeug. Als Nächstes waren Fahrräder dran, dann Autos. Sie wurden selten erwischt, und wenn, waren sie zu jung, um viel mehr als ein Wochenende Jugendarrest aufgebrummt zu bekommen.

Said war oft bei Matthias zu Hause. Mit zwölf gestand Melli Matthias, dass sie in Said verliebt sei. Matthias selbst war ein bisschen verliebt in Saids mittlere Schwester Nadia. Als Melli dreizehn war, waren sie und Said offiziell «zusammen». Matthias aber traute sich bei Nadia nicht. Zum einen wusste er nicht, ob sie ihn tatsächlich gut fand, zum anderen war er sicher, dass Saids Eltern absolut dagegen wären. Nicht nur weil er kein Muslim war und die Boutaleb-Mädchen sowieso keinen Freund haben durften. Er war in deren Wohnung generell kein gern gesehener Gast. Saids Eltern hatten natürlich mitbekommen, wie seine Mutter ihr Geld verdiente. Und angeblich übte Matthias einen schlechten Einfluss auf Said aus.

In den letzten Jahren hatten sie von Coup zu Coup gelebt, mal schwimmend im Geld, mal ohne einen Cent. Bei Said flossen die Euros plötzlich regelmäßiger. Immer hatte er mindestens zwei Fünfzigerscheine in der Tasche. Matthias wusste nicht, woher das Geld kam.

Melli war abends oft weg. Bei Said, sagte sie. Oder: Mit Said in einem Club. Melli wirkte nicht glücklich. Sie wurde immer verschlossener, zog sich zurück. Ihre Freundinnen kamen nicht mehr. Dafür Briefe aus der Schule: Sie schwänze. Sie lag meist bis mittags im Bett, angeblich fühle sie sich schlapp und krank und habe Migräne.

Matthias bekam nicht aus ihr heraus, was los war. Er hatte keine Ahnung, bis er sie eines Abends in der Elbestraße nahe dem Bahnhof sah, wie sie bei einem Freier ins Auto stieg.

Zu Hause wartete er die ganze Nacht auf Melli. Gegen fünf kam sie, und er stellte sie zur Rede. Sie gab alles zu. Er hatte sich nicht verguckt. Nur mühsam konnte Matthias sich davon abhalten, sie zu schlagen, so enttäuscht war er. Aber es ging ja darum, sie zu schützen, nicht, ihr weh zu tun. «Hat Mama dich dazu gezwungen?», presste er hervor.

Nein. Es habe sie überhaupt niemand gezwungen. Es habe sich so ergeben. Sie habe jetzt «ja auch etwas mehr Geld auf die Weise».

«Und wer hat noch mehr Geld?», fragte Matthias, dem sich nach Mellis Formulierung in Vorahnung die Nackenhaare aufstellten.

«Na ja, Said geb ich das meiste ab. Ich bin doch seine Freundin, ich mach das für uns beide. Reg dich nicht auf, Matti, das muss man als Freundin tun. Geld verdienen macht nie Spaß, das ist halt so. Und ich lieb ihn doch. Was du machst, ist ja auch nicht besser. Lieber so, als wenn ich für fünf Kröten die Stunde putzen gehen müsste wie Saids Mutter. Said sagt …»

Da war Matthias schon am Telefon. Er ignorierte die Mailbox des Handys, die sich nach dreimal Klingeln meldete; drückte immer wieder auf die Wahlwiederholung. Endlich meldete sich ein verschlafener Said.

«Du schickst also meine Schwester auf den Strich», sagte Matthias in kalter Wut.

Ein hörbares Luftanhalten auf der anderen Seite. Dann: «Ey komm, Alter, mach kein Stress. Echt. Das macht die doch gern. Ist ja nicht, als wär’s Nadia. Die Christenmädels sind doch sowieso alles geborene Huren.»

Matthias legte auf. In den folgenden Stunden des namenlosen Zorns plante er, Said zu töten. Said hatte Mellis Leben verpfuscht, verunreinigt, er musste sterben. Der Aberglaube, dass er durch die Tötung von Said alles, was Said verursacht hatte, ungeschehen machen würde, trieb Matthias an. Wenn Said tot war, würde Melli von einem Tag zum anderen dem Strich entrissen. Sie würde ihren Fehler erkennen, alles Dreckige, was sie erlebt hatte, vergessen können und wieder eine unschuldige Schülerin werden. Hatte nicht Matthias selbst nur deshalb all die Jahre zu kriminellen Mitteln gegriffen, damit Melli ein normales, ein unbeflecktes Leben führen konnte? Sollte er sich umsonst geopfert haben? Damit dem nicht so war, musste er Said opfern für sich und für Melli.

Doch später, nach seiner Tat, stellte sich heraus: Für Melli war das alles zu viel. Dass Matthias Said umgebracht hatte, ganz besonders. Weniger wegen Said, sondern weil der Mensch, dem sie am meisten vertraute, ihr jetzt unheimlich geworden war. Außerdem schämte sie sich, die Schwester eines Mörders zu sein. Tausendmal mehr schämte sie sich jetzt, als sie sich geschämt hatte, für Geld Männern den Schwanz zu lutschen, bis sie würgen musste. Es half nicht, dass sie sich schuldig fühlte an Matthias’ Tat.

In einer Sonntagnacht im folgenden Vorfrühling fiel die U5 auf ganzer Strecke für drei Stunden aus. Der Grund: Eine Melissa Olsberg war an der Konstablerwache in die Katakomben der U-Bahn Richtung Preungesheim gestiegen und hatte sich auf die Gleise gelegt, und zwar so, dass die nächste herannahende Bahn sie köpfen musste. So war Melli Geköpfte und Henkerin zugleich und den beiden Männern ganz nahe, die sie am meisten geliebt und die ihr am meisten geschadet hatten.

Melissas Tod war der Grund, warum Matthias Olsberg während des Prozesses redete. Schweigen über sein Motiv war sinnlos geworden, er konnte Melli nicht mehr schützen.

***

«Üble Geschichte», sagte Aksoy betroffen. «Und was schließt ihr jetzt daraus?»

Winter und Ziering tauschten einen Blick. Ziering erklärte: «Dieser Olsberg ist ein hübscher Kerl, und die Birthe Feldkamp war ein Stück älter als er. Er ist ein armer Ex-Knasti, und sie hatte ein anständiges Gehalt und ein Haus. Es ist ziemlich klar, was sie damit bezweckte, ihn bei sich einziehen zu lassen. Er sollte ihr Liebesbursche sein. Ich denke mal, er hat das erst so richtig gemerkt, als er da war. Vielleicht hat sie auch in den ersten Tagen irgendwas Herablassendes gesagt, was ihn drauf gebracht hat, dass er, wie er es ausgedrückt hat, als Sexsklave bei ihr gehalten wird. Da hat er Rot gesehen, genau wie er damals Rot gesehen hat, als seine Schwester von ihrem Freund prostituiert wurde. Zufällig hat die Feldkamp dann Pilze gesammelt. Intelligent, wie der Olsberg ist, hat er eine Gelegenheit gesehen, sie zur Strafe zu töten, so wie er damals den Marokkaner getötet hat, nur diesmal, ohne erwischt zu werden. Jeder weiß, dass Knollenblätterpilze extrem giftig sind und mit Champignons verwechselt werden können. Der Olsberg hat wahrscheinlich in der Wikipedia nachgesehen, wie Knollenblätterpilze aussehen und wo man sie findet, welche besorgt und dann irgendeinen unbeobachteten Moment genutzt, um sie ihr unters Essen zu mischen.»

«Demnach hat der Tod von Birthe Feldkamp mit den beiden anderen Frauenmorden nichts zu tun?», fragte Aksoy mit hochkonzentriertem Blick, die Unterarme auf die Tischplatte gestützt.

«Das ist jetzt gerade unsere neue Hypothese», sagte Winter. «Das würde auch erklären, warum der Tod von Birthe Feldkamp nicht so gut ins Muster passt. Bei den beiden anderen Morden starben die Opfer ja durch Kopfschüsse mit ein und derselben Waffe. Und Birthe Feldkamp war zwar mit Sabrina Vogel in einer Klasse, aber sie stammte aus Lauterbach, nicht aus Allmenrod wie Tamm und Vogel, und sie hatte auch mit dieser berühmten Familienfehde zwischen den Allmenröder Krombachs und den Pfisters nichts zu tun.»

Ziering stieß Winter von der Seite an. «Andreas, übrigens …»

«Ja?»

Ziering tippte auf die Protokollausdrucke, die er vor sich liegen hatte. «Du hast den Olsberg nicht gefragt, wie das abgelaufen ist, bevor sie die Pilze gegessen hat. Wer die Pilze wann gesammelt hat, wo sie aufbewahrt wurden, wer sie wann gekocht hat und so weiter.»

«Hast recht», seufzte Winter. «Ich hab mich wohl von ihm einwickeln lassen. Es bleibt nichts, wir müssen ihn holen und ihn zweimal im Abstand von ein paar Tagen genauestens zu dem Ablauf befragen. Vielleicht verstrickt er sich in Widersprüche. Ich werd dann mal Haftbefehl beantragen.»

«Du siehst bedrückt aus», sagte Aksoy leise, als sie beide gemeinsam Zierings Büro verlassen hatten und durch den Flur gingen.

Winter seufzte wieder. «Ich bin wohl enttäuscht. Ich hatte mich gerade so schön der Illusion hingegeben, dass sich manchmal doch jemand zum Besseren wendet. Gelungene Resozialisierung und so. Da macht der Typ in der JVA mit Bravour zwei Schulabschlüsse nach und fängt sogar an zu studieren, und dann so was.»

Er musste an Olsbergs Flehen zum Abschied denken: «Bitte machen Sie mir meinen Neuanfang nicht kaputt.» Winter hoffte, dass wenigstens stimmte, was er selbst darauf geantwortet hatte: Wenn Sie unschuldig sind, haben Sie nichts zu befürchten.

Ein Element der Vorverurteilung war natürlich dabei, wenn Sie Olsberg jetzt verhafteten. Wäre der Mieter von Birthe Feldkamp nicht ausgerechnet ein verurteilter Mörder, und wäre der Fall nicht durch den Mord an Verena Tamm und dessen Verbindung zum Fall Vogel rein zufällig neuerlich interessant geworden, diese Pilzvergiftung wäre als Unfall verbucht worden.

***

Sie hatten mit größten Schwierigkeiten gerechnet. Doch im Jugendamt rannten Andrea und Ulli nur offene Türen ein. «Wir suchen dringend neue Pflegeeltern für die Vogel-Mädchen», sagte die zuständige Sozialarbeiterin. «Bislang hatten die nur Pech. Aber bei Ihnen habe ich jetzt einen viel besseren Eindruck als bei den letzten Kandidaten. Ich habe auch neulich den Brief gelesen, den Sie an die Merle geschrieben hatten, richtig süß war der. Ich denke, Sie beide sind genau das, was die armen Häschen brauchen.»

Dass Andrea und Ulli nicht heterosexuell waren und bislang noch nicht einmal verheiratet – kein Problem. Die Sozialarbeiterin war kurzhaarig, ungeschminkt, übergewichtig, trug ein bauchfreies T-Shirt und zwinkerte Ulli mehrfach zu. Sie erklärte, Pflegekinder könnten sogar an Alleinstehende vergeben werden, wenn sonst alles stimme. Der einzige Wermutstropfen: Eine Adoption würde Zeit brauchen. Sie würden also erst einmal mit dem Pflegeelternstatus vorliebnehmen müssen. «Wir ziehen die Eignungsprüfung für die Pflegschaft aber im Eiltempo durch», versprach die Mitarbeiterin. «Ich mach da richtig Dampf.» Gleich morgen wollte sie die Wohnung besichtigen. Einen Schlüssel für die Höchster Altbauetage hatte Ulli bereits übers Wochenende bekommen. Der Notartermin für den Kauf war übermorgen, fürs kommende Wochenende war die erste Hälfte des Umzugs geplant.

«Am Freitag oder am nächsten Montag könnten Sie die Kinder schon haben», schloss die Sozialarbeiterin. «Jedenfalls wenn Sie es bis dahin geschafft haben, die Zimmer zu möblieren. Da reicht mir dann ein Foto. Ich schlage vor, dass Sie die Mädchen jetzt erst einmal im Heim besuchen, um sie einzustimmen. Sie kennen sie ja noch gar nicht persönlich.»

«Können wir heute schon hingehen?», fragte Ulli. Sie hatte sich freigenommen und wollte den Tag nutzen.

«Sicher. Ich kündige Sie der Heimleitung an, dann sollte es keine Probleme geben.»

Andrea bestand darauf, vorher Geschenke kaufen zu gehen. Bücher, für jedes Kind zwei. Bücher hatte Merle sich ja gewünscht. Lange suchten sie auf der Neuen Kräme und um die Hauptwache herum in den Buchhandlungen, weil Andrea nichts gut genug zu sein schien, bis Ulli ein Machtwort sprach: «So, die nehmen wir jetzt!» Ihr war klar, dass Andrea vor dem Besuch das Herz flatterte. Ihr ging es ähnlich. Aber bei Andrea musste es schlimmer sein, weil sie die Sache ins Rollen gebracht hatte. Für die kleine Merle würde Andrea die Ansprechpartnerin sein.

Bei dem Heim ließ sich gut parken. Auf einem Spielplatzgelände vor dem Haus tummelten sich ungefähr zwanzig Kinder zwischen zwei und zwölf. Nun wurde es auch Ulli mulmig. Langsam näherten sich die beiden Frauen dem Zaun, der mannshoch war und aus grobem Maschendraht bestand, und ließen die Blicke über die Kinderschar schweifen. Plötzlich spürte Ulli einen harten Griff an ihrem Arm. «Da sind sie», flüsterte Andrea und drehte Ulli in die Richtung einer Wippe. Dort waren zwei hellblonde kleine Mädchen in T-Shirt und Röckchen zu sehen. Die Ältere, von sechs oder sieben, platzierte fürsorglich die Jüngere von etwa drei auf dem hintersten Sitz und lief dann zur anderen Seite, wo sie sich so weit vorne wie möglich niederließ und vorsichtig die Wippe betätigte. Es gab kaum einen Zweifel, das waren Merle und Wolke Vogel. «Gott, sind die süß», murmelte Andrea verliebt. Ulli musste zugeben, dass sie verdammt noch mal recht hatte. Ihr war trotzdem noch mulmig zumute. Bei Andrea aber waren plötzlich alle Ängste und Zweifel verflogen. «Merle!», rief sie fröhlich und forsch durch den Zaun, «Merle!»

Die Größere der beiden auf der Wippe drehte sich mit fragendem Blick um. Als sie Andrea entdeckt hatte, weiteten sich ihre Augen. Sofort sprang sie herab und kam herbeigelaufen, mit einem hoffnungsvollen Blick, der Ulli zutiefst anrührte. «Andrea?», fragte Merle schüchtern auf den letzten Metern. «Stimmt», sagte Andrea strahlend. Merle hüpfte mit einem Juchzer hoch vor Freude, dann warf sie sich regelrecht gegen den Zaun, drückte ihr Gesicht dagegen, streckte ein paar Finger durch und strahlte Andrea an. «Freu mich ganz doll, dass du gekommen bist», piepste sie heiser. Ulli war so gerührt und betroffen, dass sie nur dumm danebenstehen konnte, Andrea aber war in ihrem Element. «Ich freu mich auch ganz doll», sagte sie und streichelte Merles Finger. «Guck mal, ich hab noch jemanden mitgebracht, das ist die Ulli, meine älteste und beste und allerliebste Freundin.»

Merle sah schüchtern zu Ulli hin. «Hallo, Ulli», piepste sie.

«Hallo, meine kleine Merle», sagte Ulli mit belegter Stimme. Während sie überlegte, wie doof genau sich das jetzt angehört hatte, streckte Merle auch ihr durch den Zaun die Finger entgegen. Ulli griff danach und lachte, glücklich über das strahlende Mädchengesicht.

«Soll ich die Wolke holen?», fragte Merle mit einem Blick von der einen zur anderen.

«Ja, hol sie mal», bestätigte Andrea.

Wolke hing verängstigt an Merles Hand. Auf den letzten Metern nahm Merle sie auf den Arm und trug sie, weil sie sich weiterzugehen weigerte. «Die Wolke ist schüchtern», sagte Merle entschuldigend. Die Kleine war nicht nur schüchtern, sie schien auch traumatisiert zu sein. Jedenfalls benahm sie sich wie eine Eineinhalbjährige, den Daumen im Mund, den Blick weinerlich von den beiden Frauen fortgewandt.

Kaum waren die Mädchen herangekommen, tauchte auch schon eine Heimbetreuerin auf, die bemerkt hatte, was sich am Zaun abspielte. «Frau Vogel und Frau Stamitz?», fragte sie misstrauisch. «Genau», antwortete Andrea. «Kommen Sie bitte zum Tor», befahl die Betreuerin, noch immer kritisch klingend. «Ich lasse Sie dann rein.»

Andrea und Ulli wären gerne mit den Kindern draußen auf dem Spielplatz geblieben. Doch die Betreuerin bestand auf einem formalisierten Ablauf. Sie wurden in einen Besuchsraum mit einem Tisch und Stühlen geführt, wo sie sich unter Aufsicht eine Stunde mit den Mädchen beschäftigen sollten. Ulli rutschte das Herz in die Hose: Was für eine unnatürliche, nicht kindgerechte Situation, so gar nicht geeignet, irgendjemandem die Befangenheit zu nehmen. Die kleine Merle spürte das auch und kämpfte auf rührende Weise dagegen an. Sie war diejenige, die das Gespräch in Gang brachte und die sich bei jeder drohenden Pause schnell etwas Neues ausdachte, um es nicht einschlafen zu lassen. Wolke dagegen schwieg trotzig-ängstlich, klammerte sich an Merle fest und nahm den Daumen nicht aus dem Mund. Doch irgendwann geschah ein Wunder. Sie hatten gerade die Bücher ausgepackt, da rutschte Wolke von Merles Schoß, auf den sie sich geflüchtet hatte, und kletterte wortlos bei Andrea auf die Knie. «Eis gebrochen», flüsterte Ulli Andrea zu. Jetzt nutzte Merle die Gelegenheit und ließ sich auf Ullis Schoß nieder. Lange saßen sie so, Ulli las mit Merle deren Buch, und Andrea sah eines der Bilderbücher mit Wolke an. Ulli wusste in dem Moment, genau so würde es weitergehen: Die vernünftige, ältere Merle würde mehr das Ullikind werden und die kleine Wolke mehr das Andreakind, was genau den Temperamenten der beiden Frauen entsprach, und alle zusammen würden sie glücklich werden.

***

Für den nächsten Fortschritt im Fall Vogel musste das K 11 nicht arbeiten. Er kündigte sich per Mail bei Fock an, kam von der Hamburg-Mannheimer und sah definitiv aus wie Herr Kaiser, obwohl er König hieß. Eine Aktenmappe in der Hand, betrat Herr König Winters Büro und produzierte ahnungslos eine brenzlige Situation. «Einer der Herren hier soll zuständig für den Mordfall Sabrina Vogel sein, hab ich mir sagen lassen.»

«Jawoll, das bin ich», sagte Kettler, sprang auf und schüttelte dem Mann die Hand. «Kettler, Kriminalkommissar.»

«König, Hamburg-Mannheimer.»

Winter verdrehte die Augen. «Ähem, Sven …», begann er, dann stand er bloß langsam auf, ging zu dem Versicherungsfritzen und schüttelte ihm ebenfalls die Hand. «Winter, Kriminalhauptkommissar. Kollege Kettler hat mich in der Sache Vogel im Januar zwei Wochen vertreten. Derzeit liegt der Fall bei mir. Bitte setzen Sie sich.» Winter zog einen Stuhl hervor. Kettler sandte ihm einen giftigen Blick zu, den er ignorierte.

«Kaffee?»

«Nein, danke, ich hatte gerade. Aber falls Sie ein Glas Wasser hätten …»

Winter füllte eines ab und reichte es Herrn Kaiser-König, der eine Brausetablette hineinfallen ließ.

«Ich nehme an, Sie kommen wegen unseres Schreibens?», fragte Winter. Er hatte Briefe an um die fünfzig Lebensversicherer abgeschickt mit der Frage, ob sie eine Police auf das Leben einer Sabrina Vogel, einer Verena Tamm oder Birthe Feldkamp abgeschlossen hätten. Bislang hatten sie keine Reaktionen erhalten.

«Öh, nein. Von einem Schreiben Ihrerseits weiß ich gar nichts. Was hatten Sie uns denn geschrieben?»

«Wir haben in dem Fall Sabrina Vogel den Verdacht, dass bei der Tötung Versicherungsbetrug im Spiel sein könnte.»

«Versicherungsbetrug? Ach? Das ließ sich der Presse nicht entnehmen. Es geht allerdings bei meinem Anliegen um eine Lebensversicherung.»

Winter spürte ein Triumphgefühl. «Genau darum geht es uns auch. Bitte erzählen Sie genauer.»

«Also, es geht um eine Risiko-Lebensversicherung, die auf das Leben der verstorbenen Frau Vogel abgeschlossen wurde. Ich bin in zweierlei Funktion hier, einerseits will ich für unser Haus nachfragen, ob die Täterschaft im Fall Vogel einwandfrei geklärt werden konnte oder ob da Zweifel verblieben sind. Dann würden wir die Summe erst einmal nicht auszahlen. Zweitens fühlt sich unser Haus verpflichtet, der Polizei anzuzeigen, dass wir einen Antrag auf Auszahlung der Lebensversicherung von Frau Vogel erhalten haben. Sie ist ja nun immerhin ein Mordopfer, und der Begünstigte ist nicht ihr Ehemann. Uns kommt da noch etwas verdächtig vor: Die Versicherung hat beim Tod der Frau Vogel erst knapp zwei Monate bestanden.»

Winter nickte. «So was hatten wir vermutet. Wie lautet denn der Name des Begünstigten?»

«Das ist ein Hendrik von Sarnau, wohnhaft in Frankfurt.»

«Ach nein. Dem Herrn wollten wir morgen einen Besuch abstatten.»

«Erstaunlich. Gut, dass ich zu Ihnen gekommen bin. Der Presse hatte ich nämlich entnommen, dass der Fall abgeschlossen ist und ein Wladimir P. der Täter sein soll.»

«Das ist auch ganz richtig», mischte sich Kettler ein.

Winter beschloss, diplomatisch zu sein und Kettler nicht bloßzustellen. «Wir haben allerdings von Anfang an vermutet», erläuterte er, «dass dieser Wladimir P. in jemandes Auftrag gehandelt hat. Herr von Sarnau war einer unserer Kandidaten als möglicher Auftraggeber.»

«Ahhh!», rief Herr König strahlend. «Dann ist aus unserer Sicht alles bestens.» Er scharrte mit den Füßen, schon wieder auf dem Sprung.

«Immer mit der Ruhe», mahnte Winter. «Wir bräuchten jetzt erst einmal von Ihnen eine Kopie des Versicherungsvertrags.»

«Ach ja, die habe ich natürlich dabei.» König öffnete seine Aktenmappe und legte ein Bündel Papiere auf den Tisch.

Winter blätterte sie durch, dann fragte er: «Hätten Sie auch Belege über eingegangene Zahlungen? Wir haben auf dem Konto der Vogels nichts gefunden.»

«Das schicken wir Ihnen zu. Ja, bei den Beiträgen war es so, Herr von Sarnau, also der Begünstigte, hat die Beiträge selbst eingezahlt.»

Aha, dachte Winter. So ließ sich besser verstehen, dass Sabrina Vogel sich auf den Abschluss der Lebensversicherung eingelassen hatte. Sie konnte dabei finanziell nichts verlieren.

«Es war eine etwas ungewöhnliche Konstellation», erzählte König weiter. «Die Mutter der Verstorbenen hat uns über den Todesfall informiert. Wir haben dann unsererseits Herrn von Sarnau informiert, der anscheinend von dem Tod von Frau Vogel gar nichts wusste und im Januar noch Beiträge gezahlt hat. Er hat uns geantwortet, dass er vorläufig auf die Auszahlung der Versicherungssumme verzichtet, bis der Tod gerichtlich geklärt ist. Also haben wir die Sache erst mal ruhen lassen. Wir haben ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass er sich wieder meldet. Bei den Umständen. Nun will er aber doch an sein Geld.»

Frau Pfister hatte die Versicherung informiert? Also wusste Sabrinas Mutter von der Lebensversicherung? Erstaunlich. Sie mussten die Frau dringend dazu befragen.

«Ich nehme an», fragte Winter, «Frau Vogel hat beim Abschluss angegeben, gesund zu sein?»

«Ja. Das stimmte auch, wir haben bereits alle Angaben bei ihrer Hausärztin überprüft. Außer ein, zwei Bagatellinfekten und einem kleinen Sportunfall war die letzten fünf Jahre nichts. Frau Vogel hatte sogar ein EKG vorgelegt und Blutwerte, die waren alle bestens. Kerngesund, die Frau.»

«Dann würde ich Ihnen raten, sich beim Krankenhaus in Fulda nach einer Patientenakte Sabrina Vogel zu erkundigen. Frau Vogel ist dort im Sommer letzten Jahres untersucht worden, und dabei wurde etwas festgestellt, was Sie sehr interessieren dürfte. Von Ihnen hätte ich dafür gerne den Namen der Hausärztin.»

«Oha!», rief Herr König. «Danke für den Tipp, das wird ja immer besser!»

Er kramte den Namen der Hausärztin hervor. Eine Adresse in Kalbach. Das Wort «Sportunfall» hatte bei Winter Assoziationen ausgelöst. Letztes Jahr im Sommer war Sabrina Vogel in Allmenrod die Treppe heruntergefallen. Nun kam ein Sportunfall hinzu. Das sprach für den Verdacht, den Winter schon im Januar gehabt hatte: dass Thomas Vogel seine Frau schlug. Ihre Ermittlungen in diese Richtung hatten damals allerdings ins Leere geführt.

***

Der Haftbefehl war ohnehin da, und sie holten den Verdächtigen sofort. Hendrik von Sarnau, groß, gutaussehend, kein Gramm Fett zu viel, beschwingter Schritt, zurückgekämmtes Haar, gewählte Ausdrucksweise – er war Winter so unsympathisch, wie ihm nur jemand sein konnte. Sarnau gab zu, was nicht zu leugnen war. Ja, er hatte die Raten für Sabrina Vogels Risiko-Lebensversicherung gezahlt. Doch es war selbstverständlich nicht er gewesen, der Sabrina zu dieser Versicherung überredet hatte. Nein! Vielmehr sei die arme Sabrina verliebt in ihn gewesen, wie ein Hündchen anhänglich über Jahre, lästig für ihn, aber der menschliche Anstand gebot ihm natürlich, stets freundlich zu sein. Die treue, verirrte Person habe ihm etwas Gutes tun wollen, und sie habe daher diese Versicherung abgeschlossen, ohne ihn zu fragen, eine große Geste aufgrund der Summe, um die es ging. Er sei zunächst entsetzt, ja sogar zornig gewesen, als er es erfahren habe. Sein erster Gedanke sei gewesen, dass Sabrina ihn mit diesem scheinbar großen Opfer in Dankbarkeitsverpflichtung habe setzen wollen, um sexuelle Gefallen zu erpressen. Dann habe er sich jedoch besonnen und sich klargemacht, die arme Sabrina mit ihrem kranken Hirn, die empfinde anders als andere Menschen, die wolle ihm wirklich etwas Gutes tun, und was sie davon haben wolle, sei einzig das Gefühl, durch diese Lebensversicherung ihr Leben und seines quasi untrennbar verbunden zu sehen. Er habe ihr die Befriedigung, die sie daraus zog, nicht verweigern wollen, doch habe er als Kavalier darauf bestanden, die Raten komplett zu zahlen. «Ich konnte doch nicht zulassen», erklärte er mit treuem Blick, «dass sich das arme, irre Wesen selbst schadet. Für eine Risiko-Lebensversicherung waren die Beiträge nämlich recht happig, Sabrina hat wohl gedacht, dass ich bei meinem Reichtum ein kleineres Geschenk als eine halbe Million Versicherungssumme nicht zu goutieren weiß. Dabei war es ja sehr unwahrscheinlich, dass der Versicherungsfall jemals eintreten würde. Frauen leben in Deutschland für gewöhnlich länger als Männer.»

«Von Frau Vogels Hirntumor wussten Sie also nichts?»

«Wie bitte?»

Sarnau lief rot an, sein Gesicht verzog sich. Plötzlich konnte man hinter die Maske entspannter, souveräner Haltung sehen, und was man sah, das war nicht schön.

«Frau Vogel war an einem Hirntumor erkrankt», erklärte Winter, «einem sogenannten Glioblastom, das stets tödlich verläuft. Sie hat das der Versicherung verschwiegen, sonst hätte sie keinen Vertrag bekommen. Eine Versicherung besitzt aber Mittel und Wege, so etwas im Schadensfall herauszufinden. Sie, lieber Herr von Sarnau, werden Ihre halbe Million also nicht bekommen. Ist das nicht schade? Wo Sie sich die Geschichte mit diesem Sumathi doch so schön ausgedacht hatten.»

Sarnaus Gesicht wurde noch röter, seine Stirn begann zu glänzen. «Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen», behauptete er nach einer Pause würdevoll. «Ihre letzten Worte sind mir vollkommen unerklärlich. Und ich denke, dass es in einer solchen Situation der Anstand gebietet, dass Sie mich einen Rechtsbeistand herbeirufen und mich mit ihm beraten lassen, bevor ich hier weiter Rede und Antwort stehe.»

Den «Rechtsbeistand» hatte er vorher großzügig abgelehnt: Erstens sei er selber Anwalt, zweitens habe er sich nichts vorzuwerfen, und irgendwelche Verdachtsmomente gegen sich werde er sofort zweifelsfrei ausräumen können.

«Wie der Herr wünscht», sagte Winter süffisant. Dann öffnete er die Tür des Vernehmungsraums und brüllte: «Abführen! Und zwar in Handschellen!»

Falls es ihm gelang zu flüchten, konnte jemand wie Sarnau in Windeseile auf die Bahamas entschwunden sein.

***

Als Winter in sein Büro zurückkehrte, fand er dort Hilal Aksoy vor. Sie hatte sich rittlings auf einen der Klappstühle gesetzt, ihr Kinn ruhte auf ihren Armen, die sie über die Rückenlehne gelegt hatte. Sie sah ein bisschen müde aus, hob ihren Kopf, als er hereinkam, aber schenkte ihm ein glücklich-verschmitztes Lächeln. Bei Winter wallte Glück im Herzen auf: Da war es wieder, das Lächeln, mit dem sie ihn in den Monaten begrüßt hatte, bevor Fock ihr fälschlicherweise in den Kopf gesetzt hatte, dass er sie nicht im Team hätte haben wollen.

Er strahlte zurück. «Na, müde?»

«Die pennt hier seit einer halben Stunde», grummelte Kettler, der dabei war, sich für den Nachhauseweg bereitzumachen. Es war vier Uhr. «Wenn ich so hier rumhängen würde, würde es heißen, ich bin faul.»

Aksoy ignorierte Kettler. «Andi, ich glaube, ich sollte Pilze sammeln gehen. Mit Jürgen und am besten noch ein paar Leuten mehr, wenn du welche zusammentrommeln kannst. Vielleicht von der Bereitschaft.»

«Ah! Erkläre dich näher.» Winter ließ sich in den Drehstuhl fallen und rollte dichter an sie heran. Er war gerade sehr zufrieden mit der Welt.

«Ich hab ja gestern die Ärzte in der Uniklinik wegen Birthe Feldkamp befragt», erzählte sie. «Die konnten sich bestens erinnern, weil die Giftdosis wohl außergewöhnlich hoch gewesen ist. Ich hab mir die Labordaten geben lassen und hab die Papiere an so eine Spezialstelle für Vergiftungen in Mainz gefaxt. Die haben mir vorhin gemailt. Der Arzt da meint, eine derart starke Knollenblätterpilzvergiftung hätte er sein Lebtag nicht gesehen. Seiner Ansicht nach muss die ganze Mahlzeit aus Knollenblätterpilzen bestanden haben. Ansonsten müssten es Pilze mit einem ungewöhnlich hohen Giftgehalt gewesen sein. Dann hätten vielleicht wenige gereicht. Er meinte, er würde das an unserer Stelle überprüfen. Und ich hab mir gedacht, es wäre doch mal interessant zu sehen, ob in der Gegend um Birthe Feldkamps Haus überhaupt Knollenblätterpilze wachsen und wenn ja, wie giftig sie sind und wie weit sie von den Champignons weg stehen und so. Frau Feldkamp hatte im Krankenhaus gesagt, sie hätte in der Nähe Ihrer Wohnung gesammelt, auf den Niddawiesen.»

«Was soll das denn bringen?», meckerte Kettler, der in der Tür stehen geblieben war.

«Was eine Arbeit bringt, Sven», sagte Winter, «das weiß man immer erst, nachdem man sie gemacht hat.»

Kettler zog die Brauen hoch und knallte die Tür hinter sich zu.

Aksoy lachte. «Denkst du auch, dass die Idee mit dem Pilzesammeln schwachsinnig ist?», fragte sie. «Ich bin mir selbst nicht sicher.»

«Ich denke, es könnte einen neuen Aspekt beisteuern», sagte Winter. «Kennst du dich denn mit Pilzen aus?»

«Die Unterschiede zwischen Knollenblätterpilzen und Champignons habe ich mir eben angelesen und sie kurz zusammengefasst, mit Fotos. Davon kann ich Ausdrucke machen.»

«Okay, dann kümmere ich mich mal um mehr Leute.» Winter griff zum Telefon. So ganz sicher war er nicht, ob er noch objektiv war.

Doch war das, was Aksoy hier vorhatte, nicht genau das Grundprinzip der Kriminalarbeit? Man deckt hundert Steine auf, bis man einen findet, unter dem Gold liegt?

Abends um sieben war klar: Die Arbeit war nicht umsonst gewesen. Der Verdacht gegen Olsberg hatte sich erhärtet.

***

Am nächsten Morgen holten sie Olsberg aus dem Bett und aus dem Haus. Winter ging nicht mit, begleitete stattdessen das Durchsuchungsteam, das Hendrik von Sarnaus Kanzlei ausräumen sollte. Fock rief dort gegen elf an. Er wollte wissen, ob er den Vergiftungsfall Birthe Feldkamp an die MK 2 übertragen könne, nachdem es sich nun wohl doch um eine von den beiden anderen Morden unabhängige Tat handelte. Doch Winter überzeugte den Chef, es sei zu früh dafür, es sei noch zu vieles offen. Vorläufig verblieb also auch der Fall Feldkamp bei seiner SoKo.

Die Vernehmung des mutmaßlichen Giftmörders Olsberg begann um eins. Olsberg hatte darauf bestanden, vorher einen Anwalt zu sprechen, und das hatte gedauert. Winter entschied wieder, dass es besser war, wenn er selbst nicht dabei war. Stattdessen sah er vom Videoraum aus zu, während er etwas arg Gemüselastiges vom Thailänder verzehrte. Winter schienen Olsbergs Augen rot umrändert, als habe er geweint. Aber vielleicht lag es auch an der Bildqualität, oder die Kamera war rotstichig eingestellt. Die Vernehmung begann mit heftigem Protest des Verdächtigen: Er habe morgen früh Analysis-Klausur und in der Woche darauf noch zwei andere Prüfungen; er habe seit Monaten dafür gelernt und werde das Semester verlieren und Probleme mit dem BAG-Amt bekommen, wenn er diese Klausuren nicht mitschreibe. Winter glaubte, Verzweiflung durchzuhören. Hatten sie wirklich genug gegen Olsberg in der Hand, um sicher zu sein, dass sie hier nicht den Falschen in Schwierigkeiten brachten? Andererseits: Wenn es in der nächsten Umgebung eines überführten Mörders einen verdächtigen Todesfall gab, blieb einem kaum etwas übrig, als zu ermitteln.

Musso und Aksoy machten ihre Sache gut. Nach zehn Minuten beschloss Winter, nicht mehr länger zuzusehen. Es war klar, dass Olsberg nichts zugeben würde. Darin bestand auch gar nicht der Sinn der Vernehmung. Vielmehr sollte in allen Einzelheiten erfragt werden, wie, wo, wann und von wem die Pilze für die tödliche Mahlzeit gesammelt, gekocht und gegessen wurden, und was Olsberg an den fraglichen Tagen von morgens bis abends gemacht hatte. Falls er sich im Verhör nicht widersprach und alles stimmig blieb, würden sie ihn übermorgen noch einmal befragen. Wenn sich auch dann keine Widersprüche zu seiner ersten Version ergaben, dann würden sie ihn wahrscheinlich laufen lassen müssen. Vorläufig.

Winter ging in sein Büro und packte ein paar Sachen. Er würde heute Nachmittag nach Allmenrod fahren. Mit diesem mysteriösen Jörg Krombach musste er persönlich sprechen. Und mit Frau Pfister hatte er ebenfalls noch ein Wörtchen zu reden. Als er nach einem Beutel suchte, in den er Proviant in Form einer Flasche Cola legen konnte, entdeckte er ganz hinten im Kramfach seines Schreibtisches eine gefaltete Stofftasche. Eine Erinnerung durchfuhr ihn. Diese Tasche war nicht leer. Er nahm sie heraus, sah hinein, tatsächlich: Darin lagen drei abgegriffene Kinderbücher unterschiedlichen Formats. Er wusste genau, wo sie herkamen. Nämlich aus einem der Kinderzimmer im Vogel’schen Haus in Kalbach. Die Bücher hatte er damals mitgenommen, weil sie aus der Stadtbücherei stammten. Er hatte sich um die Rückgabe kümmern wollen. Dann aber hatte er im Schuppen auf dem Hof die zerschossene Tür entdeckt, und die war erst einmal wichtiger gewesen. Den Beutel mit den Büchern hatte Winter bei Rückkunft im Präsidium achtlos in die Schublade gepfeffert, die nächsten Stunden und Tage waren turbulent gewesen, mit Kettler, mit Fock, mit Carola, und irgendwann hatte er die Existenz der Bücher einfach vergessen.

Winter warf einen Blick auf die Bücher. Sie stammten aus einer Kalbacher «Kinderbücherei». Laut Internet hatte diese jetzt offen. Er konnte das leicht auf dem Weg nach Allmenrod erledigen.

Den Proviant steckte er zu den Büchern und fuhr den kleinen Umweg über Kalbach. In der Bücherei, die in einem schön zurechtgemachten Fachwerkhaus untergebracht war, begrüßte ihn eine heimelige, altmodische Atmosphäre. Teppichboden, Bücherregale, kein kühler Stahl-und-Glas-Prunk wie im Präsidium. Am Tisch nahe der Tür standen ein Kind und eine Jugendliche zur Rückgabe an. Winter beschloss, nach einem halben Jahr Schlamperei seinerseits jetzt keine Polizei-Sonderrechte geltend zu machen, sondern zu warten, bis er an die Reihe kam. Das junge Mädchen direkt vor ihm gab ein Buch mit einer Art Dinosaurierkopf auf dem Cover ab, das «Die Stadt der träumenden Bücher» hieß. Der Autor oder die Autorin trug den extrem unwahrscheinlichen Namen «Hildegunst von Mythenmetz». Weder das Mädchen noch die Büchereiangestellte schienen das in irgendeiner Weise bemerkenswert zu finden. Winter hatte den Eindruck, diese Bücherei sei eine fremde, wundersame, märchenhafte Welt mit speziellen Regeln, die er nicht kenne. Dann war er auch schon dran, zeigte seinen Dienstausweis, gab eine kurze Erklärung. «Ein Haus, wo ein Verbrechen stattgefunden hat?», fragte die Angestellte mit großen Augen, während sie den Scanner über die Buchrücken führte. «Ach, die sind von den Vogel-Mädchen! Die Bücher hatten wir schon aufgegeben. – Wie geht es den beiden denn?»

«Darüber kann ich nichts sagen. Waren die oft hier?»

«Einmal die Woche kamen die, dienstagnachmittags, immer mit der Mutter. Die hat mit den Kindern viel gelesen. Ein liebes, phantasievolles Mädchen, die Merle. Ist ja tragisch, was da passiert ist. – Hoppla, da ist noch was drin. Wollen Sie die mitnehmen? Oder soll ich sie wegwerfen?»

Die Angestellte schob ihm eins der Bücher aufgeschlagen hin. Zwischen den Seiten lagen zwei bemalte Blätter. «Die nehme ich mit», beschloss Winter.

Wenn die Kinder hier wöchentlich Bücher ausgeliehen hatten, so waren dies Bilder, die Merle oder Wolke in der Woche vor dem Tod ihrer Eltern gemalt hatte. Es war sehr unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen, dass die Bilder irgendeinen vagen Hinweis enthielten.

Draußen im Wagen breitete Winter die kindlichen Kunstwerke auf dem Lenkrad aus und spürte sein Herz schneller schlagen. Beide Filzstiftzeichnungen waren beunruhigend, wenn nicht bedrohlich. Eine zeigte einen kahlköpfigen Mann mit riesigen Muskelpaketen, schlitzartigen, gelb blitzenden Augen und auffälligen Zähnen, der etwas am Arm trug, bei dem es sich möglicherweise um eine Waffe handelte. War das etwa der Täter?

Die andere Zeichnung war auf den ersten Blick ein harmloses Familienporträt mit Vater, Mutter und zwei Kindern. Die beiden Kinderfiguren mit rosa Röckchen und gelbem Haar hielten sich an den Händen. Der rätselhafte, beunruhigende Eindruck des Bildes speiste sich aus Details der Elternfiguren. Zwischen den Beinen des Vaters, der am weitesten weg von den Kindern stand, war ein ausgemalter brauner Kreis mit Stacheln dargestellt. Mit einem ebensolchen braunen Igel war das Gesicht des Mannes zur Hälfte übermalt worden. Ein extrem stacheliger brauner Kreis befand sich auch im Gesicht der Frau.

Was sollten die braunen Igel darstellen? Und wer war der Mann auf dem anderen Bild?

Sie mussten noch einmal mit Merle Vogel sprechen. Sie musste die Künstlerin sein, denn die kleine Schwester Wolke war vom Alter her über das Strichmännchenstadium noch nicht hinaus. Winter kamen unangenehme Erinnerungen an die letzte Vernehmung der Kinder. Schon damals war klar gewesen, dass Merle etwas wusste. Sie hatte ja gesagt, sie wisse, wer die Gästezimmertür kaputt geschossen habe. Und ihr Vater habe ihr verboten, es zu verraten. Winter verfluchte sich dafür, dass er sich von den zartfühlenden Kolleginnen damals hatte hindern lassen, Merle so lange ranzunehmen, bis sie redete. Wenn Merle im Januar verraten hätte, was sie wusste, wäre Verena Tamm der Tod vielleicht erspart geblieben und André Bründl das Schicksal eines Dauerkomas. Winter hatte heute noch einmal im Krankenhaus angerufen und Bründls Stationsarzt gefragt, ob es einen Fortschritt gebe. Bründl musste den Täter schließlich gesehen haben. Der Arzt berichtete, Bründl halte jetzt die Augen offen. Doch das heiße gar nichts. Man vermute einen bleibenden Hirnschaden, hervorgerufen durch Sauerstoffmangel, da die Lunge nach dem Durchschuss teilweise kollabiert sei und bis zur Ankunft der Helfer das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgen konnte. «So wie es aussieht, wird der Herr Bründl lebenslang ein Wachkomapatient bleiben.»

Winter schob den Gedanken an den jungen Mann beiseite, der nie erfahren würde, dass er durch die Ergebnisse der polizeilichen Untersuchung wissenschaftlich rehabilitiert war. Auf nach Allmenrod, dachte er und legte die Kinderzeichnungen ins Handschuhfach. Vielleicht wäre der Fall ja in zwei, drei Stunden geklärt.

***

Das Haus, in dem Jörg Krombach ganz allein gemeldet war, lag am Rand einer Gruppe ähnlicher Häuser: alle aus den Fünfzigern oder frühen Sechzigern, alle besaßen einen Hof umrahmt von Anbauten, die weit älter aussahen. Winter hatte neben der Einfahrt geparkt. Als er die Wagentür öffnete, schlug ihm ein stechender Geruch von Mist ins Gesicht. Er stieg aus, schlenderte über den Hof und sah sich um. Winter rechnete damit, Jörg Krombach, von Beruf Landwirt, nicht im Wohnhaus anzutreffen, sondern in einem der Nebengebäude, wenn er nicht auf dem Feld seiner Arbeit nachging. Krombachs Trecker war allerdings hier: Das Gefährt stand vor einem offenen Scheunentor und sah aus, als stamme es aus den Zeiten vor der letzten Landreform. Wahrscheinlich war es auch seitdem nicht gewaschen worden. Winter warf einen Blick in die Scheune, wo im Halbdunkel diverse Anhänger herumstanden. Weiter konnte er in Plastikfolie gehüllte Ballen sowie Eimer und Tröge erahnen, die vielleicht Tierfutter oder Dünger oder dergleichen enthielten. Doch keine Menschenseele. Winter trat auf den Hof zurück. Da kam ein älterer Mann in Arbeitskleidung mit rotem, knochigem Gesicht, buschigen Brauen und einem blauen Stoffhütchen erregt auf ihn zu: «Was machen Sie denn hier? Das ist Privatgelände!»

«Herr Krombach?», fragte Winter. Eigentlich war der Mann zu klein für die Beschreibung, die Aksoy ihm gegeben hatte. Zu klein und zu alt.

«Krombach, Dieter», erklärte der Mann, während Winter seinen Dienstausweis zeigte.

«Winter, Kriminalpolizei. Ich muss mit Herrn Jörg Krombach sprechen. Das ist Ihr Bruder, nehme ich an?»

«Das mag wohl sein. Der ist aber nicht da.»

«Wo ist er denn?»

«In der Stadt. Den können Sie nicht sprechen.»

Die Aussage klang ängstlich und nicht gerade glaubwürdig.

«Davon würde ich mich gerne selbst überzeugen», sagte Winter und ging seelenruhig auf die Haustür zu. Der ältere Krombach kam hinter ihm hergelaufen. «Wenn ich’s doch sag, es hat keinen Zweck», rief er, plötzlich im Kasernenton. «Der Jörg ist heut nicht da, wenn Sie auch zwanzigmal von der Kripo sind.» Winter wollte gerade die Hand zum Klingelknopf ausstrecken, da öffnete sich die Tür wie von selbst und ein Bär von einem Mann erschien. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Auf seinem schwarzen T-Shirt standen um ein drohendes weißes Augenpaar in Rot die Worte: Sieh mich nicht an – ich bin schizophren!

«Jörg!», sagte Dieter Krombach mit entsetztem Tadel in der Stimme.

Der Mann ignorierte seinen Bruder und sah Winter in die Augen.

«Ich hab Ihnen nichts zu sagen», sagte er ruhig.

«Ich aber vielleicht Ihnen», entgegnete Winter ebenso ruhig. Er spürte, dass er diesen Kandidaten anders anfassen musste als üblich, wenn er etwas erreichen wollte. Krombach sah ihn immer noch ausdruckslos an. Winter bemühte sich, dem Blick standzuhalten und ihn möglichst genauso zu erwidern. Nach einer halben Minute schweigendem Starrwettbewerb sagte Krombach. «Gut. Kommen Sie rein.»

«Jörg!», schimpfte sein Bruder, dann keifte er irgendwas in tiefstem Dialekt hinterher, das Winter nicht verstand.

«Lass mich in Ruhe, ich bin erwachsen», gab Jörg Krombach zurück und schob mit Gewalt die Tür zu, gerade als sein Bruder hinter Winter den Flur betreten wollte.

«Bloß weil der fuffzehn Jahre älter ist wie ich, meint er, er kann mich gängeln wie ein Baby», kommentierte er gegenüber Winter. Er führte den Polizisten in ein abgedunkeltes, kühles, penetrant nach kaltem Zigarettenrauch riechendes Wohnzimmer. Ein riesiger Plasmabildschirm hing an der Wand. Auf einem großen Esstisch in der Mitte lag ein angefangenes Puzzle mit abstrakten Motiven, daneben ein überquellender Aschenbecher.

Krombach ließ sich in den einzigen Sessel fallen, der vor dem Fernseher stand, und begann eine Zigarette zu drehen. Ein Sofa gab es nicht. Winter nahm sich einen der Stühle vom Tisch und setzte sich Krombach schräg gegenüber. Eine Weile sagte er nichts, weil er überlegen musste, wie er die Sache am besten anfangen sollte. Das Schweigen schien Krombach nicht zu stören. In aller Seelenruhe zündete er sich seine Zigarette an.

«Also, Herr Krombach», sagte Winter. «Wir stecken ziemlich in der Bredouille. Wir haben dieses Jahr in Frankfurt zwei Mordfälle an Frauen, die ursprünglich aus Allmenrod stammen. Sie wissen sicher, wovon ich spreche. Es gibt Anzeichen, dass die beiden Fälle zusammenhängen. Aber wie genau, das macht uns noch Probleme. Für die Sabrina Vogel, geborene Pfister, die im Januar gefunden wurde, hätten wir einen möglichen Täter und ein passendes Motiv. Und damit meine ich nicht Sie, obwohl wir wissen, dass hier im Dorf behauptet wird, Sie hätten Sabrina Vogel umgebracht. Im Moment haben wir aber eine andere Theorie. Mehr Rätsel gibt uns der Mord an Ihrer Verwandten Verena Tamm auf. Vielleicht können Sie uns betreffs Frau Tamm weiterhelfen. Sie kennen sich ja im Dorf aus. Ihr Bruder und Ihre Schwägerin waren leider letzte Woche nicht so wahnsinnig hilfreich.»

Jörg Krombach lachte laut. Sein Lachen klang unnatürlich, wie das eines sehr schlechten Schauspielers. «Wenn der alte Pfister noch fit wäre, dann wäre es klar, der hat die Verena umgebracht», verkündete er. «Bei seiner Frau, der Gunhild, bin ich mir nicht sicher. Trotzdem. Sie kann es gewesen sein.»

«Was wäre das Motiv?»

«Rache. Pfisters denken, ich hätt die Sabrina umgebracht.»

«Und? Haben Sie?»

«Im Leben nicht. Ich hab nicht mal eine Waffe zu Hause. Wenn ich jemanden hätt umbringen wollen, ich hätt den alten Pfister gekillt und mich nicht an der Sabrina und ihrem Macker versucht. Auf die Sabrina hab ich seit Jahren schon keinen Hals mehr. Die kann doch am wenigsten dafür. Dafür, was ihr Alter meiner Mutter angetan hat, mein ich. Wissen Sie davon?»

Winter nickte.

«Warum ermitteln Sie da nicht? Mord verjährt nicht.»

«In der alten Sache schreiben Sie am besten der Staatsanwaltschaft», versuchte Winter abzulenken. «Die Polizei kann so einen Altfall nicht selbständig wiederaufnehmen, wenn der als Unfall gilt. Übrigens hat sich Ihre Familie vielleicht der Vertuschung mitschuldig gemacht, wenn Sie das damals nicht angezeigt haben. – Aber zurück zu heute, wann haben Sie Verena Tamm denn zuletzt gesehen oder gesprochen?»

«Keine Ahnung. Doch, Weihnachten war das.»

«Hat sie irgendetwas Ungewöhnliches erzählt, zum Beispiel, dass sie jemanden kennengelernt hat?»

«Nein. Mir nicht.»

«Hat Verena jemals von ihrem Arbeitgeber Professor Grafton erzählt?»

«Da müssen Sie die Frauen fragen. Ich hab nur mitgekriegt, sie hat erzählt, sie ist froh, dass sie drei Tage die Woche was Festes hat. Bei denen ging’s immer ums Geld. Die haben gehortet.»

«Der Mann hat doch gar kein Geld verdient?»

«Aber dick von der Versicherung kassiert. Die haben jede Möglichkeit genutzt, ein paar Euro abzustauben. Immer nur geschnorrt und nie was abgegeben. Als der Opa gestorben war und sein Haus verkauft werden musste, hat der Mann von der Verena es vermakelt. Wir dachten, umsonst. Provisionsfrei. Hinterher stellte sich raus, er hat sich die Provision vom Verkaufserlös genommen und auf unsere Kosten einen Schnitt gemacht.»

«Hat sie erzählt, dass ihr Chef, Professor Grafton, eine Waffe in seinem Haus hatte?»

«Davon weiß ich nix. Ist die Verena etwa mit der Waffe von dem Professor erschossen worden?»

«Das kann ich Ihnen nicht sagen. Herr Krombach, Sie haben eben gesagt, Sie hätten selbst keine Waffe. Kennen Sie jemanden im Dorf, der einen Magnum-Revolver besitzt oder besessen hat?»

Krombach ließ noch einmal seine befremdliche Lache hören.

«Der alte Pfister, der liebt die Dinger. Wenn die Verena mit einem Magnum-Kaliber erschossen worden ist, dann war’s mit Sicherheit die Gunhild. Oder der Pfister ist nicht so krank, wie er tut, und er war’s selber. Überprüfen Sie das mal, ob der sich nicht doch bewegen kann. Weiß ja keiner, was da hinter verschlossener Tür passiert.»

Winter räusperte sich. «Es war aber Sabrina Vogel, die mit einem Magnum-Kaliber getötet wurde.» Gelogen war es nicht, nur irreführend, denn dies traf ja für beide Opfer zu.

«Was?» Krombach kratzte sich am Ohr, in einer hilflosen, fast ängstlich wirkenden Geste, die zu dem bärengleichen Mann nicht passte. «Versteh ich nicht.»

«Wir auch nicht, ehrlich gesagt. Können Sie mir zum Fall Vogel auch noch ein paar Fragen beantworten? Wann haben Sie die Sabrina zuletzt gesehen oder gesprochen?»

«Letzten Sommer. Da war sie mit dem Mann und den Kindern hier, wie immer.»

«Haben Sie sie damals nur von weitem gesehen, oder haben Sie auch mit ihr geredet?»

«Ich hab auch mit ihr geredet. Sie hat mich mal morgens angesprochen, als sie ausnahmsweise alleine draußen war. Wie sie so ist, wollte sie sich an mich ranmachen. Weiß nicht mehr genau, was sie gesagt hat, aber es war eindeutig. Die war schon immer so, dass sie bei jedem Mann gebaggert hat. Jeder, der wollte, konnte ran. Hatte aber den Eindruck, es geht diesmal nicht um Sex, sondern sie sucht einen Neuen. Neuen Mann, mein ich. Sie war wohl nicht so glücklich. Am nächsten Tag waren wir verabredet, da kam sie aber nicht. Und noch einen Tag später sehe ich sie von weitem, da hat sie ein Ei im Gesicht, als hätt sie sich geprügelt. Da hab ich ihr zugerufen, was ist los, aber sie hat so getan, als hört sie’s nicht. Die Gunhild hat dann später gemeint, sie wär die Treppe runtergefallen. Wer’s glaubt, wird selig. Ihr Alter wird sie geprügelt haben. Hatte sie mit mir gesehen, wahrscheinlich. Bei Männern hatte die kein glückliches Händchen, die Sabrina. Na ja, sie war halt kein Glückskind, genau wie ich. Mit mir wär sie auch schlecht bedient gewesen. Zwei so kranke Köppe wie sie und ich zusammen, das geht nicht gut.»

«Kranke Köpfe? Wie meinen Sie das?»

«Na ja, also, normal war die doch nicht, die hat gesponnen, irgendwie. Und ich …»

«Ja?»

Er machte eine abwehrende Bewegung. Winter schwieg, wartete. Der ist depressiv oder so, hatte der junge Hanno Krombach gesagt. «Sie sind psychisch krank», sagte Winter schließlich, als wäre das ein Fakt.

«Na, wenn Sie’s eh schon wissen», sagte Krombach schulterzuckend. «Meine Mischpoche will nicht, dass es sich rumspricht, schlechte Heiratschancen für die Kinder, meinen sie. Und der Polizei soll ich’s erst recht nicht sagen. Die Bullen könnten ja glauben … Also, ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat. Ich sag’s Ihnen jetzt, wie’s ist. Ich bin zwar manchmal ein bisschen schizo, aber ich bin nicht verrückt. Nicht so wie die Leute, die ich in der Klinik sehe, wenn ich zum Einstellen da bin. Ich hab so meine Phasen gehabt, wo ich nicht gut zurechtgekommen bin, aber im Großen und Ganzen … Ich nehm meine Tabletten, und gut ist’s. Ich darf halt keinen Stress haben, zu viele Leute, das ist nix für mich, deshalb geh ich nicht mehr schaffen. Kann mich auch nicht gut konzentrieren durch die Medikamente, das macht so … so benebelt. Aber ein bisschen Landwirtschaft, ein bisschen puzzeln, das krieg ich noch hin.»

Winter tat nonchalant so, als sei das mit der Schizophrenie keine Neuigkeit für ihn. Kein Wunder, dass der Bruder Dieter Krombach vorhin so heftig reagiert hatte. Er wollte Jörg vor Verdächtigungen schützen, wollte nicht, dass dessen Krankheit oder sein mögliches Motiv für einen Mord der Polizei bekannt wurde. Und dann öffnet Jörg der Polizei in einem T-Shirt mit der Aufschrift: Sieh mich nicht an – ich bin schizophren!

Winter verband diese Krankheit mit Wahnvorstellungen, mit gefährlichem Realitätsverlust, mit Leuten, die unberechenbar plötzlich gewalttätig wurden. Sie hatten etwa einmal im Jahr einen solchen Fall im K 11. Seine Krankheit machte Jörg Krombach mit einem Schlag verdächtiger als vorher. Vielleicht waren die Taten im Haus Vogel und im Haus Grafton gerade deshalb so rätselhaft, weil die verquere Logik von Wahngedanken dahinter stand. Ließe sich so auch die Geschichte mit der kaputt geschossenen Tür erklären? Und hatten Vogels das deshalb nicht angezeigt, weil Sabrina Pfister den Täter kannte, wusste, dass er krank war, und ihn nicht anzeigen wollte?

Andererseits: Augenblicklich wirkte Jörg Krombach tatsächlich ganz normal. Und er war sehr offen gewesen. Bis jetzt.

«Herr Krombach, wissen Sie denn irgendetwas über den Mord an Sabrina Vogel und ihrem Mann?»

«Nein, gar nichts. Hab gedacht, er wird in krumme Geschäfte verwickelt gewesen sein. Oder sie hatte einen Neuen, und der Neue war sauer, dass sie sich dann doch nicht trennen wollte. Ich sag ja, die Sabrina hatte kein glückliches Händchen mit Männern.»

«Haben Sie ein Alibi für die Mordnacht, vom 25. Dezember auf den 26.? Ich muss das jeden fragen, der Frau Vogel kannte.»

Er sei drüben beim Dieter gewesen, sie hätten zusammen ferngesehen bis zehn, dann habe er sich zu Hause ins Bett gelegt. Er müsse wegen der Melkziegen früh raus. Für deren Milch habe er Abnehmer in Lauterbach, ein Bio-Restaurant.

Also nicht einmal ein halbes Alibi. Die Aussagen von Dieter und seiner Frau waren wegen der Verwandtschaft wenig wert, selbst wenn sie Jörgs Angaben bestätigten. Und theoretisch hätte Jörg es schaffen können, den Tatort rechtzeitig zu erreichen, selbst wenn er nach zehn losgefahren war, je nachdem, wie in jener Winternacht die Straßenverhältnisse im Vogelsberg gewesen waren.

«Wo steht denn Ihr Motorrad?», schoss Winter ins Blaue.

«In der Garage. Hab es aber seit Jahren nicht angemeldet. Woher wissen Sie, dass ich ein Motorrad hab?»

«Dorftratsch», log Winter. Er wollte Jörg Krombach eigentlich nicht verdächtigen. Der Mann tat ihm irgendwie leid. Aber da kam jetzt einiges zusammen. «Wann haben Sie zuletzt mit Hendrik von Sarnau gesprochen?»

Krombach stierte ihn ausdruckslos an.

«Kenn ich nicht», sagte er schließlich. Jeder andere hätte nachgefragt: Wer soll das sein? Nicht Jörg Krombach. Vielleicht deshalb, weil er ganz genau wusste, wer Hendrik von Sarnau war?

Winter bedankte sich vorläufig für Krombachs Mitarbeit und verabschiedete sich. Dummerweise hatte er keinerlei Utensilien dabei. Eigentlich müsste er Krombach auf Schmauchspuren untersuchen. Obwohl es eh schon etwas spät dafür war.

Draußen lehnte Winter sich an den Wagen und grübelte. Die Waffe. Was hatte Krombach eben über Magnum-Revolver gesagt? «Der alte Pfister liebt die Dinger.» Der pensionierte Förster war ein Waffennarr, das zeigte seine Sammlung. Wie, wenn er mehr als einen solchen Revolver besaß? Beim Amt gemeldet war nur einer. Aber Waffensammler nahmen es mit der Meldung mehrerer Waffen desselben Typs nicht immer so genau.

Winter erinnerte sich an den Pfister’schen Flur: Das Schlüsselbrett mit dem Schlüssel zum Waffenschrank hing bei der Haustür. Gleich daneben lag die Tür zur Gästetoilette. Der Waffenschrank war oben im zweiten Stock und konnte über das Treppenhaus erreicht werden, ohne dass man es im Wohnzimmer mitbekam. Winter nahm an, dass diese Verhältnisse den meisten Allmenrödern bekannt waren. Praktisch jeder, der in den letzten Jahren einmal bei Pfisters gewesen war, hätte die Möglichkeit gehabt, sich an dem Waffenschrank zu bedienen.

Noch ein Grund mehr, Pfisters zu besuchen. Winter trat auf die Dorfstraße und ging zu Fuß zum Haus des pensionierten Försters. Vom Krombach’schen Anwesen aus waren es keine hundert Meter. Die verfeindeten Familien hatten sich in dem engen Dorf kaum ausweichen können. Vielleicht war es gerade die Nähe, die diese Familienfehde so lange lebendig gehalten hatte, dass bei einem Mord an dem Mitglied einer Familie automatisch die andere im Verdacht stand, für die Tat verantwortlich zu sein.

Sabrina Vogels Mutter öffnete mit pflichtbewusstem, ängstlichem Blick. Winter freute sich, die Siebzigjährige heute in einem hellen Sommerkleid zu sehen statt in dem tristen Sack-und-Asche-Braun, das sie das letzte Mal getragen hatte. Doch Frau Pfisters Stimmung schien keineswegs verbessert. «Ja?», sagte sie mit heiserer, ängstlicher Stimme. Ihre wasserblauen, tiefliegenden Augen wanderten unruhig hin und her.

«Sie kennen mich ja sicher noch. Winter, Kriminalpolizei. Frau Pfister, ich habe noch ein, zwei Fragen. Könnte ich hereinkommen?»

«Entschuldigung. Bitte.» Sie hielt die Tür auf.

«Wie geht es denn Ihrem Mann?», fragte er im Flur. Das Schlüsselbrett hing genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Der Schlüssel zum Waffenschrank mit einem roten Anhänger in Form eines Herzens fiel ihm sofort ins Auge. Wer jemals dabei gewesen war, wie der Förster seinen Waffenschrank öffnete, würde sich an diesen Anhänger erinnern.

Auf die Frage nach ihres Mannes Befinden machte Gunhild Pfister eine hilflose, beinahe behindert wirkende Geste mit beiden Händen, die so ziemlich alles bedeuten konnte. Statt ins Wohnzimmer am Ende des Flurs, von wo man lautstark einen laufenden Fernseher vernahm, führte sie Winter in die Wohnküche. Die zeichnete sich durch eine Achtziger-Jahre-Einbauküche in rustikalem Stil bei neuen weißen Fliesen an Wand und Boden aus. Winter hatte den Eindruck, dass Frau Pfister ihn daran hindern wollte, ihren Mann zu sehen.

«Hat Ihr Schwiegersohn die Fliesen verlegt?», fragte er unschuldig.

«Ja. Der konnte viel, der Thomas. Der hat uns auch oben renoviert. Wir hätten’s ja bezahlt, aber er hat kaum was genommen, außer fürs Material.»

«Steht Ihre Haustür öfter offen?»

Sie sah ihn ratlos an. «Ich schließe immer zu», sagte sie schließlich. Eben hatte sie aber nicht mal richtig zugedrückt. Winter hatte immer mehr das Gefühl, mit einer leicht geistig behinderten Person zu sprechen. Im Januar hatte er diesen Eindruck nicht gehabt. Er musste es sich einbilden.

«Hatten Sie in diesem oder dem letzten Jahr mal jemanden aus der Familie Krombach im Haus?»

Verschreckter Blick. «Kann sein. Das kommt vor.»

«Wann und wer zuletzt?»

«Ich weiß es nicht. Mein Gedächtnis ist so schlecht geworden.»

Beginnende Demenzerkrankung? Oder waren das schlechte Gedächtnis und hilflose Betragen nur gespielt?

Winter verließ ohne Ankündigung die Küche und kam mit dem Schlüssel zum Waffenschrank in der Hand zurück. «Sie sichern Ihre Waffen nicht korrekt», sagte er. «Diesen Schlüssel müssen Sie versteckt aufbewahren. Er darf nicht für jeden greifbar am Schlüsselbrett hängen. Haben Sie das verstanden?»

«Ja. Ja, natürlich. Entschuldigung.»

«Ich werde dafür sorgen, dass bei Gelegenheit jemand von der örtlichen Polizei vorbeikommt und das kontrolliert. Wenn der Schlüssel dann noch am Brett hängt, bekommt Ihr Mann seinen Waffenschein entzogen.»

Das war zwar eine leere Drohung. So problemlos funktionierte ein Entzug selbst seit den letzten Verschärfungen des Waffengesetzes nicht. Aber Winter wollte ihr Angst machen. Wie man in der Familie Pfister mit Waffen umging, war inakzeptabel. Jeder potenzielle Amokläufer aus Allmenrod hatte Zugang zum Pfister’schen Schrank, wenn er wollte. Es reichte ein bisschen Geduld, ein Vorwand oder eine Kreditkarte, um ins Haus zu kommen.

Frau Pfister stand noch immer stocksteif mitten in der Küche, die Hände vor dem Körper gefaltet, und machte keine Anstalten, ihm einen Platz oder etwas zu trinken anzubieten. Ganz anders als ihre extrem zuvorkommende Höflichkeit beim letzten Mal, als er hier gewesen war. Winter lehnte sich gegen die Arbeitstheke.

«Eine Frage, Frau Pfister», begann er. «Ihre Tochter Sabrina hatte eine Lebensversicherung, oder?»

«Das weiß ich nicht», sagte sie.

«Merkwürdig. Dabei hatten Sie den Lebensversicherer vom Tod Ihrer Tochter informiert. Also müssen Sie doch von der Versicherung gewusst haben.»

«Ach so. Das war eine Lebensversicherung? Ich weiß bloß, Sabrina hatte mir einen Zettel gegeben, da stand, ich soll die und die Nummer anrufen, falls ihr mal was passiert. Das wär eine Versicherung, die müsste im Todesfall sofort benachrichtigt werden. Der Thomas wüsste nichts davon. Ich dachte, es geht um Geld für die Kinder.»

Frau Pfister blickte wieder ganz dumm und ratlos drein. Winter hielt das jetzt für eine Masche. Dement war sie jedenfalls nicht. Er wechselte das Thema. «Wie viele Magnum-Revolver besitzt Ihr Mann eigentlich?», fragte er unschuldig.

Wahrscheinlich hatte er ins Schwarze getroffen. Gunhild Pfister schluckte dreimal, bevor sie antwortete. «Ich weiß nicht. Doch. Nur den einen.»

«Aha. Dürfte ich ihn das selber fragen?»

«Aber – Sie wissen doch …»

«Ja, ich weiß, dass Ihr Mann einen Schlaganfall hatte. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass er noch vieles mitbekommt.»

Winter wartete nicht darauf, von Gunhild Pfister gebeten zu werden. Unhöflich verließ er die Küche und steuerte das Wohnzimmer an. Gunhild Pfister kam ihm hinterher. In dem gruseligen Wohnzimmer mit den Hirschköpfen und Gewehren an der Wand stand nun zusätzlich ein Pflegebett. Herr Pfister saß wie beim letzten Mal im Rollstuhl vor dem Fernseher und nahm Winter erst wahr, als dieser den Fernseher ausschaltete. Winter stellte sich dem Kranken laut und deutlich vor, dann ging er neben dem Rollstuhl in die Hocke. Er begann mit zwei simplen Einführungsfragen, auf die Pfister eine Ja-Nein-Antwort geben konnte. Und siehe da, der Förster konnte sich mittels Kopfschütteln und Nicken sowie sprachähnlichen Lauten korrekt dazu äußern. «Herr Pfister, jetzt geht es um Revolver. Magnum-Revolver. Null-Vierundvierziger Magnum.» Pfister nickte zum Zeichen, dass er verstanden habe. «Wie viele Magnum-Revolver haben Sie im Haus?»

Die Antwort kam prompt, mittels eines aufgestellten Daumens, zu dem Herr Pfister ein nasales «Ah» hören ließ. «Einen?», fragte Winter enttäuscht zurück. Pfister nickte mühsam.

Weg war sie, Winters schöne Theorie. Falls der Mann nicht log.

Winter erinnerte sich, dass er im Januar vermutet hatte, Pfister wisse etwas über den Mord an seiner Tochter, könne sich aber nicht artikulieren. Da Pfister jetzt besser kommunizieren konnte, probierte Winter es noch einmal. «Herr Pfister, wer hat Ihre Tochter umgebracht?»

Pfister hielt den Mund offen, sein Gesicht zitterte vor Anstrengung, aber es kam kein Laut, und seine Augen sahen an Winter vorbei. Winter drehte sich in die Richtung, in die der alte Mann blickte: Da stand Gunhild Pfister. Herr Pfister gab schließlich ein Kopfschütteln zur Antwort. Winter hätte schwören können, dass eben eine stille Kommunikation zwischen den Eheleuten stattgefunden hatte. Um genau zu sein, er hätte schwören können, dass Herr Pfister sich nicht traute zu sagen, was er wusste, weil seine Frau es ihm verbot. Winter stellte sich vor, von Carola derart abhängig zu sein, wie es Herr Pfister jetzt von seiner Frau war. Ihn schauderte.

Er traf einen Entschluss. Im Wohnzimmer hielt er sich nicht mehr lange auf. Wieder in der Küche, fragte er Gunhild Pfister, die ihm nachgefolgt war: «Frau Pfister, wo waren Sie am letzten Dienstag zwischen zehn Uhr vormittags und zwei Uhr nachmittags?»

Gunhild Pfister fragte nicht, warum und wieso. Sie wusste offenbar, worauf sich die Frage bezog, und schon das sprach nach Winters Meinung gegen sie. «Ich war hier», erklärte sie.

«Im Haus?», fragte Winter.

«Ja.»

«Wer kann das bezeugen?»

«Mein Mann.»

Ein sehr verlässlicher Zeuge würde das sein. «Geben Sie mir bitte einen Gefrierbeutel», befahl Winter. Frau Pfister gehorchte, ohne zu fragen, wozu er den Beutel brauche. Den Gefrierbeutel in der Hand, griff Winter nach dem Schlüssel zum Waffenschrank, der seit vorhin auf der Arbeitsplatte lag.

«Ich muss Ihnen noch einmal Ihren Magnum-Revolver entführen», erklärte er, «für eine weitere kriminaltechnische Untersuchung.» Das war gelogen. Es war ja längst klar, dass bei beiden Verbrechen ein anderer Revolver benutzt worden war als der im hiesigen Waffenschrank. Winter ging es hauptsächlich darum, Gunhild Pfister zu zeigen, dass man sie in Verdacht hatte. Falls sie die Täterin war, ließ sich allein dadurch vielleicht ein weiterer Mord verhindern.

Anders, als man es von ihr kannte, zeigte Frau Pfister eine Regung des Protests. «Aber … wann bekomme ich ihn wieder?», fragte sie in beinahe verzweifeltem Ton.

So dringend brauchte sie persönlich die Waffe? Sie musste gemerkt haben, dass etwas an ihren Worten verdächtig klang, und fügte erklärend hinzu: «Das letzte Mal hat es drei Monate gedauert, bis wir den Revolver von der Polizei zurückbekommen haben. Das sind doch teure Sammlerstücke.»

«Sie hatten also vor, die Waffe in nächster Zeit zu verwenden?», fragte Winter ironisch. Da gab sie doch tatsächlich zur Antwort: Ja! Sie hätten einen guten Schweißhund, und wenn ihr Mann nicht könne, wie jetzt ja immer, würden die Jagdpächter schon einmal sie zur Nachsuche holen. Sie nehme dafür gerne die Smith-Wesson.

Winter sah sie entgeistert an. Sein Bild von dieser Frau wandelte sich von Minute zu Minute. «Das heißt», fragte er, «Ihr Hund sucht das Tier, das der Jäger in der Nacht verwundet hat und das sich irgendwo versteckt hat. Und wenn der Hund Sie hingeführt hat, erschießen Sie es?»

«Ich gebe den Gnadenschuss», sagte sie würdevoll.

«Sie haben einen Jagdschein?»

«Seit 1998. Mein Mann wollte das nicht. Aber ich hab ihn trotzdem gemacht.»

Da eröffneten sich ja ganz neue Perspektiven, dachte Winter. Sie war so stolz auf ihren Jagdschein, dass ihr offenbar egal war, dass sie sich dadurch verdächtig machte. Ihre Stimme hatte noch nie so fest geklungen.

«Ist der Schweißhund der, der im Wohnzimmer im Körbchen liegt und schläft, als wäre er tot?»

«Nein. Der Schweißhund ist im Zwinger im Garten. Der Hund im Wohnzimmer ist wirklich tot.»

«Ausgestopft, meinen Sie?»

«Ja, natürlich.»

Ein ausgestopfter Hund. Winter wurde die Familie Pfister immer unheimlicher. Wie war das noch: ein Gnadenschuss?

«Wie erschießen Sie die Tiere denn genau?», fragte er.

«Schmerzlos und wildbretschonend», sagte sie, wieder mit dieser Würde in der Stimme.

«Das heißt?»

Er sah, wie sich ihr Kehlkopf heftig bewegte. «Kopfschuss», hauchte sie. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund. Winter hatte den Eindruck, dass sie mit einem Würgereiz kämpfte.

Winter konnte nicht anders.

«Frau Pfister, haben Sie Ihre Tochter Sabrina getötet? Ein Gnadenschuss, weil sie unter einem tödlichen Hirntumor litt?»

Sie schüttelte den Kopf, noch immer mit der Hand vorm Mund und jetzt auch mit Tränen in den Augen. Ihr Gesicht war gerötet. Sie sah ihn nicht an.

Schweren Herzens entschloss sich Winter, ohne eine Verhaftung zu fahren. Er konnte so oder so nicht sicher sein. Gewarnt war Frau Pfister, sie würde nicht gleich wieder töten. In Jörg Krombach hatte er noch jemanden, der nicht gerade unverdächtig war. Und in Frankfurt saßen bereits zwei Personen in der Sache Vogel/Tamm in U-Haft beziehungsweise in Gewahrsam: Wladimir Preiß und Hendrik von Sarnau. Winter kam die Zeichnung der kleinen Merle wieder in den Sinn, die vorhin in einem der Bücher aus dem Hause Vogel aufgetaucht war. Er musste zugeben: Der muskelbepackte Preiß passte nicht schlecht auf die Kinderzeichnung von dem Bewaffneten. Besser als Jörg Krombach, der zwar ein Bär war, aber kein Bodybuilder.

Wenn Winter jetzt ungeplant mit Frau Pfister ankam, würde Fock von Chaos reden, ausnahmsweise einmal zu Recht.

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