Anfang April
Danke, Herr Steiner, dass Sie mir das erzählt haben. Bei mir entwickelt sich jetzt ein Bild von dieser Frau.»
Das Fenster stand weit offen, von draußen drang der Duft der ersten Blüten herein. Die fette Anwältin saß breit und zufrieden in Tims einzigem guten Sessel. Tim fühlte sich plötzlich unwohl, weil er dieser Manteufel so viel erzählt hatte, diesen ganzen Kram, an den er seit Jahren – zum Glück – nicht gedacht hatte. Jugendsünden. Aber wirklich, manche Leute legten es darauf an, ausgenutzt und verarscht zu werden. Sabrina Pfister war so jemand gewesen.
«Wann haben Sie eigentlich Ihre Freunde Hanno und Hendrik zuletzt gesehen?»
Tim fragte sich allmählich, worauf das hinauslief. Das hörte sich jetzt nicht mehr an, als wolle sie bloß Informationen über Sabrina sammeln.
«Den Hanno auf dem Abitreffen vor fünf Jahren», sagte er. «Hendrik – der hat mich neulich mal angerufen, nach Jahren zum ersten Mal.» Am liebsten hätte er es verschwiegen. Aber er hatte keine Ahnung, in welche Art von Ermittlung er hier geraten war. Und Telefonkontakte ließen sich über irgendeine Vorratsdatenspeicherung, oder wie das hieß, wahrscheinlich überprüfen.
«Was wollte er denn von Ihnen?»
Das geht Sie einen Dreck an, hätte Tim am liebsten gesagt.
«Sich mit mir treffen», behauptete er, «aber ich hatte keine Lust.»
Hendrik war wirklich die allerletzte Type. Nach wie vor. Tim war in der Schulzeit in eine Birthe Feldkamp verliebt gewesen, hatte sich aber nicht rangetraut. Hendrik hatte diese Birthe jetzt in Frankfurt aufgetrieben und etwas mit ihr angefangen, was er so ausdrückte, dass sie ihm aus der Hand fresse. Und dann hatte er doch tatsächlich auf den Abend des Abiballs angespielt und vorgeschlagen, «das Gleiche in Grün» mit Birthe Feldkamp zu machen: Er, Hendrik, werde Tim «the lovely Birthe angespitzt auf dem Silbertablett» servieren, und dafür müsse Tim nichts weiter tun als einen «Taui» überweisen, da er gerade echt klamm sei. Einen «Deal unter alten Freunden», nannte Hendrik das.
Sorry, hatte Tim gesagt, an dieser Art von Deal habe er kein Interesse. Und im Übrigen sei er selbst finanziell weit klammer, als sich jemand wie Hendrik das vorstellen könne. Falls Hendrik zufällig Birthes Nummer dahabe, könne er sie ihm ja mal geben. Oder er könne ihr Grüße von ihm ausrichten, und dann solle sie sich selbst überlegen, ob sie sich bei ihm melden wolle. Aber das mit dem «Taui» und dem Silbertablett könne Hendrik vergessen.
André Bründl stand in einem unbeleuchteten Flur des alten Uni-Hauptgebäudes in der Mertonstraße. Der junge Archäologe hatte eiskalte, feuchte Hände. Die Prozedur, die ihm bevorstand, nannte sich Feuertaufe. Der Name verharmloste die Sache noch. Für manche war das, was sie hier erwartete, ein echtes Höllenfeuer. Der letzten Doktorandin hatte Professor Grafton nicht einmal angedeutet, dass mit ihrer Arbeit etwas nicht stimmte, um das Werk dann bei der Feuertaufe, offiziell «Vorstellung der Dissertation im Kolloquium», erbarmungslos zu zerreißen.
Lord Grafton of Blaby hatte einen wilden, inzwischen halb ergrauten und sehr telegenen Lockenschopf samt dramatischer Hakennase, ein als exzentrisch beschriebenes Wesen, besaß angeblich ein Schloss in Schottland, obwohl das noch niemand zu Gesicht bekommen hatte, und vor allem hatte er mehrere archäologische Sensationen hingelegt. André hatte in Bamberg studiert, sich aber in Frankfurt zur Promotion angemeldet, weil Grafton die Koryphäe auf seinem Gebiet war und der bekannteste deutsche Archäologe. Wobei Grafton natürlich ursprünglich kein Deutscher war. Eben das trug wahrscheinlich zu seiner Popstar-Ausstrahlung bei.
Jetzt, keine Minute zu früh, kam der große Grafton mit seiner Anhängerschar den Flur entlang. Andrés Herz klopfte heftig. Der Famulus schloss die Tür auf, alle betraten den alten Uni-Senatssaal. Grafton ließ sich samt Lockenschopf und Hakennase am Kopf der U-förmigen Bestuhlung nieder, seine Lieblingsstudenten und Mitarbeiter nahmen rechts und links neben ihm Platz, andere Teilnehmer des Kolloquiums setzten sich weiter außen im Rund. Für André, den «Täufling», stellte jemand einen einsamen, ungepolsterten Stuhl der U-Kurve gegenüber. Als Einziger hatte André keinen Tisch vor sich, musste sein Konzept in der Hand halten. Folien gab es keine. PowerPoint war bei Grafton verpönt.
Andrés Doktorarbeit war sorgfältig ausgearbeitet. Er hatte Grafton schon vor Wochen über die rätselhaften Datierungsergebnisse informiert, und der hatte sich das ohne cholerischen Anfall angehört. Dennoch zitterten André die Hände, mit denen er das Papier hielt.
Zunächst fasste er die unproblematischen Ergebnisse zusammen: eine Kartierung der Cottbusser Rautenkeramik-Ausgrabungsstelle, die Größe der Ansiedlung, die mutmaßliche Zahl der Bewohner, die gehaltenen Tiere und angebauten Pflanzen, eine Beschreibung dessen, was André als Brunnen deutete, Anzeichen für Jagd und für Handel bis ins Mittelmeergebiet, eine kleine Sensation für sich.
Den Hammer mit der Datierung hob er sich für den Schluss auf. André hatte nach den Menschenknochen noch Proben von Ziegenknochen sowie Holz und Holzkohlereste einer Herdstelle durch den Beschleuniger-Massenspektrometer laufen lassen. Und leider waren alle Ergebnisse ganz anders, als nach Graftons berühmten Publikationen zum Thema zu erwarten.
«Die Daten», fasste er schließlich zusammen, «weisen einen Mittelwert von viertausendzweiundachtzig Jahren vor Christus auf, mit einer Standardabweichung von zweihundertzwei Jahren, wobei die Obergrenze des Konfidenzintervalles …»
André hielt inne, weil die höhnischen Äußerungen des Publikums um ihn herum so laut wurden, dass er sie nicht mehr ignorieren konnte. Grafton lehnte ausdruckslos im Stuhl, sagte trocken: «Fällt Ihnen das Sprechen schwer, oder was? Weiter bitte, wir haben nicht ewig Zeit.»
André spürte seine Zunge am Gaumen kleben. Mühsam las er seinen Text ab, bis er sich etwas besser fühlte und wieder frei reden konnte. Da war er auch schon bei seinem Schlusswort angelangt:
«Es ließe sich aufgrund dieser überraschend jungen Daten folgende Hypothese aufstellen: Die Rautenkeramikkultur hielt sich im ostelbischen Raum drei Jahrtausende, war aber nach ihrer frühen Blüte marginal, wobei sie gegen Ende des fünften Jahrtausends in situ in die Trichterbecherkultur überging und erst in dieser Form neue Verbreitung fand. Weitere Ausgrabungen in der Region könnten hierüber Klarheit bringen.»
Nun hätte eigentlich der Applaus einsetzen müssen, der an der Uni traditionell durch Klopfen auf die Tische ausgedrückt wurde. Doch André umgab eisiges Schweigen.
«Zur Diskussion», befahl Grafton. Sofort meldete sich Stahl, einer von Graftons Lieblingsstudenten, der gerade sein Diplom hinter sich gebracht hatte.
«Darf man fragen, welche Eichdaten Sie der Datierung zugrunde gelegt haben?»
Seit wann siezte Stahl ihn, fragte sich André.
«Die Eichwerte des Gerätes lagen mir nicht vor», erklärte er. Diese befanden sich in Graftons Giftschrank, waren angeblich genauer als die jedes anderen Radiokarbon-Labors weltweit, aber wurden aus unerfindlichen Gründen nur den privilegierten Eingeweihten zugänglich gemacht. «Deshalb habe ich eine eigene Eichung vorgenommen», fuhr André fort. «Das ist alles in den Anhängen zur Dissertation dokumentiert. Professor Grafton hat schon eine Kopie erhalten, damit er meine Eichung mit den bisherigen Daten abgleichen kann.»
Höhnisches Lachen kam aus der Runde.
«Aus Ihren sogenannten Eichdaten», sagte Graftons Famulus und Seniormitarbeiter Hartkopf, «geht vor allem hervor, wie inkompetent Sie sind.»
André spürte, wie er rot wurde. Das schien ein abgekartetes Spiel zu sein. Grafton hatte sich vorher mit seinen Jüngern zusammengesetzt und besprochen, wie sie ihn fertigmachen würden. Verdammter Mist.
«Ich habe vor meinem Magister extra ein Semester bei den Physikern in Erlangen verbracht», verteidigte sich André. «Die C-14-Technik hab ich da von der Pike auf gelernt.»
«Ein Semester?», sagte ein Ko-Doktorand kopfschüttelnd. «Mann, ey, da hast du ja echt Erfahrung.»
Du falsche Schlange, dachte André. Beinahe stiegen ihm die Tränen in die Augen. Doch die Entrüstung über das, was mit ihm gemacht wurde, war stärker und trieb ihn, sich weiter zu verteidigen. «Weil die Datierungen so ungewöhnlich waren, habe ich ja eine externe Kontrolle machen lassen. Eine Probe von dem Holz, mit dem der Brunnen befestigt war, ging ans Dendrolabor der Uni Köln. Die sagen auch, das ist ums Jahr 4200 vor Christus gewachsen.»
«Und woher willst du wissen, dass der Brunnen tatsächlich zu dem Fundensemble gehört?», fragte derselbe Doktorand hochnäsig. «Das wäre nämlich die erste Rautenkeramikfundstätte, die einen Brunnen hat.»
«Außerdem scheinen Sie noch nie davon gehört zu haben», meldete sich Stahl wieder, «dass die Dendroreihe, mit der Köln arbeitet, auf nordwestdeutschen Eichen beruht. Für das ostelbische Gebiet gibt es überhaupt keine wissenschaftliche Baumjahresreihe. Und Sie Stümper schicken Ihre Probe nach Köln. Ts, ts. Wie viel hat der Spaß denn gekostet?»
André hatte die dendrochronologische Untersuchung in Köln aus eigener Tasche bezahlt, das war aber mit 200 Euro nicht annähernd so teuer gewesen wie ein Radiokarbon-Test in einem Fremdlabor. Er hatte auf dem Kölner Einreichbogen deutlich erklärt, woher der Fund kam. Niemand im Kölner Labor hatte angedeutet, dass bei Lausitzer Holz die Datierung unzuverlässig sein könnte.
«So, beenden wir das Trauerspiel», mischte sich endlich Grafton ein. Den Bruchteil einer Sekunde glaubte André, dass Grafton jetzt das Ruder herumreißen und die Kritik seiner Getreuen relativieren würde. Doch das geschah nicht.
«Junger Mann», sagte Grafton, «ich habe schon datiert, da haben Sie noch in die Windeln geschissen. Ich habe sogar einst das Gerät in Harvard zusammengebaut und geeicht. Nachdem Sie mir von Ihren erstaunlichen Ergebnissen berichtet haben, die natürlich nicht stimmen konnten, hab ich ein paar Pröbchen von der Fundstelle nehmen lassen und selbst datiert und zur Sicherheit auch noch welche nach Oxford geschickt, das einzige wirklich verlässliche europäische Labor außer dem unseren. Ja, die Fundstätte ist etwas jünger als die anderen der Rautenkeramik. Aber nicht ganz so jung, wie Sie behaupten. Hier habe ich den Brief aus Oxford, und da steht …» – er las ab – «… ‹Mittelwert 9230 Jahre vor heute›. Sie liegen also nur knapp dreitausend Jahre daneben.» (Gelächter.) «Ihnen ist ja wohl klar, dass Sie sich mit der Art, wie Sie hier bedenkenlos Ihre Schwachsinnsergebnisse vortragen, wissenschaftlich ganz und gar disqualifiziert haben. Der Ko-Gutachter sieht das ebenso. Kurz und knapp: non sufficit – und falls Ihr Latein so dürftig ist wie Ihre restlichen Kenntnisse, hier noch die Übersetzung: ungenügend. Sie sind durchgefallen. Wenn Sie mir in ein paar Jahren eine neue Dissertation einreichen, die weniger stümperhaft ist, dann gebe ich Ihnen eine neue Chance. Falls ich gerade meinen netten Tag habe.»
André fühlte sich wie ein geprügelter Hund. Die anderen zogen beim Rausgehen an ihm vorbei, als sei er nicht da.
Allein im leeren Senatssaal, fiel ihm seine erste persönliche Begegnung mit Grafton ein, vor beinahe drei Jahren. Er hatte sich für Graftons Sprechstunde zu Beginn eines Semesters angemeldet. Vor der Sprechstunde lag die Anfängervorlesung. Da André früh angekommen war, setzte er sich mit dazu, um Grafton einmal im Unterricht zu erleben. Die Vorlesung begann damit, dass Grafton Folgendes an die Tafel schrieb: Prof. Dr. B. Grafton, B. S, M. A:, Ph. D., 4th Viscount of Blaby, Knight of the Order of St. John in Jerusalem, Director of the Oxford Policy Foundation.
Dann drehte er sich zur Klasse um und erklärte schroff: «So heiße ich. Damit es schneller geht, erlaube ich Ihnen, mich kurz und knapp Lord Professor Grafton zu nennen. Wer Herr Grafton zu mir sagt, fliegt raus.»
André hätte es schon in diesem Moment wissen müssen: Grafton war ein Arschloch. Ein Riesenarschloch.
Konnten Andrés Zahlen wirklich so grundfalsch sein? Dass er selbst einen Fehler bei der Eichung gemacht hatte, konnte er sich vorstellen. Aber dass dann das Kölner Labor ein Ergebnis lieferte, das zu seinen falschen Daten exakt passte – wie unwahrscheinlich war das denn?
Nicht viel unwahrscheinlicher, sagte sich André, als dass Grafton betreffs der Oxforder Kontrollergebnisse gelogen hatte. Ja, vielleicht war schon Graftons ursprüngliche Datierung für diese andere Fundstelle der Rautenkeramik, die ihn berühmt gemacht hatte, eine freche Lüge gewesen. André würde versuchen, das nachzuprüfen. Zu verlieren hatte er nichts mehr. Gar nichts.
Birthe kam mit heißem Gesicht und voller Wut und Scham nach Hause. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Zweimal schon hatte sie Hendrik Geld «geliehen». Heute dann waren sie zusammen auf einen Ball dieser Verbindung gegangen, zu deren «Alten Herren» Hendrik gehörte, Birthe als seine «Tischdame». Und Hendrik schaffte es doch tatsächlich, binnen dieses eines Abends in Birthes Gegenwart penetrant nicht mit einer, sondern nacheinander zwei anderen Frauen zu flirten. Die erste war eine höchstens zwanzigjährige exotische Schönheit, Südseeinsulanerin oder vielleicht Karibik, und die andere schmückte sich mit einem ellenlangen Adelstitel auf dem angesteckten Namenskärtchen und hatte wahrscheinlich Kohle wie Heu.
Okay, von Hendrik von Sarnau war Birthe jetzt geheilt. Gemeinsame Jugend hin oder her, der war nichts für sie. Es gab tausend Gründe, angefangen davon, dass er sich jüngst nicht entblödet hatte, ihr zu einer plastischen Operation des Nabels und der Brustwarzen zu raten. Ihre hätten nicht die «derzeit bevorzugte Form». Sie war ihm als Mensch schnurzegal, er nutzte bloß die günstige Gelegenheit und ihre Doofheit, ihr Geld aus der Tasche zu leiern, und den Sex nahm er als Service am Rande mit.
Der perfekte Kontrast zu Matthias: Der wollte sie auch nicht. Aber der war nicht einmal für Gegenleistungen wie Kost und Logis bereit, mit ihr ins Bett zu gehen. Der Gedanke an Matthias schmerzte noch immer.
Als Birthe den Anrufbeantworter blinken sah, dachte sie wirklich eine Sekunde voller Hoffnung, er sei es: Matthias. Aber nein. Es war Tim Steiner, jemand aus der Schulzeit, den sie seit dem Abi nicht gesehen hatte. Er habe ihre Nummer aus dem Internet. Ob man sich nicht mal treffen könne, er wohne nicht so weit?
Birthe hatte null Interesse an Tim Steiner. Der hatte ihr nie gefallen. Außerdem, hatte ihr nicht irgendjemand erzählt, der begabte Tim Steiner mit dem Top-Abi würde sich heutzutage als Ein-Euro-Jobber durchschlagen?
Vielleicht wollte der auch bloß Geld von ihr schnorren. Es war beinahe ein Fluch, dass sie so viel geerbt hatte.
Okay, Männer konnte sie derzeit vergessen. Dann eben Plan B, um etwas Wärme in ihr Leben zu bringen. Sie brauchte ein Kind. Am besten irgendein kleines Ding aus China, das von seiner Mutter aus Armut abgegeben worden war. Bloß nicht aus Russland, die russischen Babys hatten so oft einen Alkoholschaden. Aber kam man als Alleinstehende überhaupt an Adoptivkinder aus dem Ausland ran?
Birthe rieb sich die Schläfen. Sie hatte Kopfschmerzen. Wie dauernd in letzter Zeit.