Am folgenden Tag, nachmittags um drei, betrat Birthe Feldkamp die Vorhalle der Frankfurter Universitätsbibliothek an der Bockenheimer Warte. Ihr Herz begann zu flattern, als sie die Person, die sie suchte, zwischen anderen an einem langen Tisch entdeckte. Zuerst bemerkte der Mann sie nicht, und sie hatte Muße, ihn unbemerkt zu beobachten: Das dunkle, kurzgeschnittene Haar, das seinen Kopf wie ein Samtüberzug bedeckte, die fein gezeichneten Brauen, die gerade Nase, der sensible Mund über dem geschwungenen Kinn. Er saß konzentriert über ein großformatiges Buch gebeugt, die Arme aufgestützt. Es war das erste Mal, dass Birthe Matthias außerhalb von Gefängnismauern sah. Zwar war er schon seit Monaten Freigänger. Doch der Freigang war ihm nur für den Besuch der Universität gewährt worden, und er nutzte ihn auch nur dafür. Heute aber war ein besonderer Tag, ihr Geburtstag. Matthias hatte sie per Brief, ihrer üblichen Kommunikationsweise, gefragt, ob er ihr ein kleines Geschenk überreichen könne. Falls sie Zeit habe, er sei an ihrem Geburtstag zwischen vierzehn und sechzehn Uhr in der Unibibliothek am Campus Bockenheim. Er werde in der Eingangshalle sitzen und auf sie warten. Und hier saß er auch, perfekt zuverlässig.

Sobald Birthe gezielt auf den zehn Meter langen, mit lesenden oder Kaffee trinkenden Studenten besetzten Tisch zuging, sah Matthias auf und entdeckte sie. Als seine Augen ihre trafen, kitzelte es ihr im Bauch wie in der Achterbahn.

Matthias stand auf, ging zwei Schritte auf sie zu und tat etwas, was er bei ihren Besuchen im Knast nie getan hatte: Er umarmte sie. Locker, freundschaftlich. Er roch aufregend gut. Birthe wünschte sich, die Umarmung würde ewig andauern, doch sie war sofort wieder vorbei. Matthias überreichte ihr ein kleines weiches Päckchen, professionell verpackt in Geschenkpapier. «Herzlichen Glückwunsch. Ich hoffe, es gefällt dir.» Sie friemelte die Verpackung auf. Das Geschenk erwies sich als Schal, in einem zarten, luftigen Strickmuster, lindgrün, das Schild mit einem italienischen Firmennamen versprach hundert Prozent Merinowolle. Billig war der nicht gewesen. Birthe war gerührt und geschmeichelt, bedankte sich überschwänglich, obwohl ihr die Farbe nicht gefiel (warum glaubten alle Leute, dass Rothaarigen Grün stand?), und nutzte den Dank für eine weitere Umarmung. «Nein», sagte Matthias, «ich muss dir danken. Du hast keine Ahnung, wie wichtig deine Unterstützung für mich war.» Birthe hörte das beglückt, bis ihr die Vergangenheitsform auffiel: War? Nicht ist? Unsinn, so hatte er das nicht gemeint. Es dauerte ohnehin noch fast ein halbes Jahr bis zu seiner Haftentlassung. Birthe piesackten in letzter Zeit Zweifel, ob er sie danach noch brauchen würde. Würde er den Kontakt mit ihr einschlafen lassen, sobald er ein freier Mann war?

Sie hatte Matthias über eine Gefangeneninitiative im Internet kennengelernt. Erst hatte sie ihm bloß ein Abo bezahlt, dann begann ein Briefwechsel. Eigentlich wusste sie seit seinem ersten Brief, dass dies mehr werden würde als nur ein flüchtiger Kontakt. Matthias war offensichtlich intelligent und sensibel; nur eine übel verkorkste Kindheit und Jugend konnten ihn in den Knast gebracht haben. Der Klassiker: drogenabhängige Mutter, frühe Heimaufenthalte, schlechte Gesellschaft. Jetzt war er alt genug, sein Leben in Ordnung zu bringen. Als sie ihn damals kennenlernte, steckte er mitten in Prüfungsvorbereitungen. Er nutzte nämlich die Haft, um sein Abi nachzumachen. Sie war der stabilisierende Einfluss, den er brauchte. Eine Art mütterliche Helferin. So sagte sie sich zunächst, denn sie war sieben Jahre älter als er, und sie hatte eine pädagogische Ausbildung. Doch als sie ihn zum ersten Mal in der JVA persönlich sah, meldeten sich sehr schnell alles andere als mütterliche Instinkte.

Das war jetzt ein Jahr her. Ein Jahr, in dem sie jeden Abend, jede Nacht von Gedanken an Matthias verfolgt wurde, von einem Begehren, das nie erfüllt und nie angesprochen wurde.

Jetzt wagte sie es einfach. Heute, wo kein Aufsichtsbeamter dabei war, vor dem sie sich blamieren konnte. Wagte es zumindest ein bisschen.

«Übrigens, Matthias. Was ich dir noch sagen wollte. Ich hab ein Haus, fünf Zimmer, da wohne ich ganz alleine. Wenn du rauskommst und nicht weißt, wohin: Du kannst gerne bei mir einziehen. Ich wollte nur, dass du das weißt.»

Er sah für den Bruchteil einer Sekunde drein, als ob ihm dieses Ansinnen lästig sei. Sofort verschwand der Ausdruck wieder. Matthias bedankte sich für das Angebot, ohne jedoch anzudeuten, ob er es anzunehmen gedenke. Sie sprachen nun nicht mehr lange. Birthes Stimmung war schlagartig im Keller. Und Matthias warf Blicke auf seine Bücher, so als ob sie ihn von der Arbeit abhalte.

Draußen blieb Birthe einen Augenblick allein auf dem Bibliotheksvorplatz stehen, ließ sich den kalten Januarwind um die Nase wehen. Gegenüber auf der anderen Seite der Bockenheimer Landstraße lag der alte Unicampus. Birthe hatte dort studiert. Es erschien ihr unglaublich, dass die meisten Gebäude hier abgerissen werden sollten, um schnöden Büroflächen Platz zu machen. Das Senckenbergmuseum würde als fast einziges Relikt alter Zeiten zurückbleiben, ohne die herrlichen Säulengänge, die das Museum mit den altehrwürdigen naturwissenschaftlichen Instituten nebenan verbanden und die entlang der Senckenberganlage die Fassaden prägten.

Birthe drückte den weichen grünen Schal ans Gesicht wie ein Kind seine Kuscheldecke. Ihr Leben schien ihr mit einem Mal unerträglich einsam. Die Freunde aus der Studienzeit hatten sich in alle Welt zerstreut. Eine Beziehung zu einem Mann hatte sie seit fünf Jahren nicht gehabt. Ihre Aktivitäten in der Gefangenenhilfe und bei Amnesty waren nichts weiter als der verzweifelte Versuch, der Stille ihres Hauses zu entgehen. Leider gab es bei Amnesty fast nur Frauen. Genau wie im Kollegium der Schule für praktisch Bildbare, an der sie arbeitete.

Birthe marschierte Richtung Haltestelle Dantestraße los, um noch ein paar Schritte an der Luft zu tun. Es musste sich etwas ändern. Bald. Sie wollte nicht mehr allein leben. Entweder ein Mann musste her oder ein Kind oder am besten beides. Zur Not eben ein Kind per Samenspende, wenn sich gar niemand bereitfand. Die Männer waren heutzutage derart feige, die taten alles, um Verpflichtungen und der Verantwortung für ein Kind zu entgehen. Jedenfalls die attraktiven. Und von einem unattraktiven wollte sie keines. Zum Beispiel der Mann von Sabrina, vielen herzlichen Dank, für sie wäre der nichts.

***

Winter hatte zur selben Zeit Janine Paulus vor sich auf dem Bildschirm, die kanadische Freundin von Sabrina Vogel. Jene, die am zweiten Weihnachtstag bei Vogels angerufen hatte und dann von der kleinen Tochter zu hören bekam, ihre Mutter sei erschossen worden. Paulus saß während des Videogesprächs auf einer lauten Polizeiwache in einem Ort namens Thunder Bay, Ontario, von dem Winter noch nie gehört hatte. Sie versicherte ihm, der Ort sei paradiesisch schön. In dem schlechten Licht der Computerkamera wirkte ihr Gesicht grün und geisterhaft. Ansonsten sah die Zeugin aus wie eine durchschnittliche junge Frau um die dreißig, hellbraune Haare, ovales Gesicht, nettes Lachen, das ein offenes, umgängliches Wesen versprach. Winter stellte ein paar Vorfühlfragen, erfuhr, dass es Janine Paulus einst als Au-pair-Mädchen nach Thunder Bay verschlagen hatte. Damals hatte sie sofort gewusst, dass sie nie wieder wegwollte. Inzwischen war sie mit einem Einheimischen verheiratet, dessen Namen sie auch trug, und befand sich im vorletzten Jahr eines Medizinstudiums. Sie und Sabrina Vogel kannten sich aus der gemeinsamen Gymnasialzeit in Lauterbach im Vogelsberg. Das wusste Winter schon von den allerersten Akteneinträgen, die noch vom Kriminaldauerdienst stammten. Von Kollegin Aksoy, um genau zu sein.

Winters erste fallrelevante Frage an Janine Paulus war sehr allgemein gehalten:

«Ist Ihres Wissens im Laufe des letzten Jahres irgendetwas Ungewöhnliches oder Erzählenswertes in Sabrina Vogels Leben vorgefallen?»

Die grünliche junge Frau auf dem Schirm sah ihn mit leicht erhobenen Brauen an.

«Sie meinen, außer der Tatsache, dass Sabrina einen Hirntumor hatte und wusste, dass sie sterben würde?»

«Was?», platzte Winter heraus. Er dachte, er höre nicht recht. «Frau Vogel hatte einen Hirntumor?»

«Aber das habe ich doch Ihrem Kollegen schon beim letzten Mal gesagt.»

«Welchem Kollegen?»

«Männlich, lockige Haare, Halbglatze, Brille mit schwarzem Rand. Namen weiß ich nicht mehr.»

Natürlich. Winter versuchte, aufschäumenden Ärger über Sven Kettler zu unterdrücken und sich auf die Befragung zu konzentrieren.

«Leider müssen Sie mir das alles noch einmal berichten. Seit wann wusste Frau Vogel von der Diagnose?»

«Seit dem Sommer. Sie war bei Ihren Eltern die Treppe runtergefallen und hatte danach heftige Kopfschmerzen bekommen. In Fulda im Krankenhaus haben sie eine Tomographie gemacht, um eine Hirnblutung auszuschließen. Dabei wurde ein Glioblastom entdeckt. Also ein bösartiger Hirntumor. Rein zufällig. Die Kopfschmerzen waren von der Gehirnerschütterung und hatten damit gar nichts zu tun. Die haben ihr im Krankenhaus dann klipp und klar gesagt: ‹Sie haben noch ungefähr zwei Jahre zu leben.› Der Schock muss furchtbar gewesen sein.»

Winter war ebenfalls schockiert.

«Gibt es denn gar keine Behandlungsmöglichkeit? Soweit Sie als Medizinerin wissen?»

«Doch, sicher. Operation, Chemo, Strahlung. Das bringt bloß alles wenig. Man lebt vielleicht ein paar Monate länger. Das Glioblastom ist wirklich sehr bösartig. Weg bekommt man das nicht. Ich habe Sabrina aber geschrieben, du bist noch jung, es ist viel früher entdeckt worden als bei den meisten, du bist noch symptomfrei, bei dir kann es noch viele Jahre gutgehen.»

«Wie ist denn Frau Vogel mit der Diagnose fertiggeworden?»

«Gefasst und fatalistisch, hatte ich den Eindruck. ‹Man lebt, solange man lebt, man verlässt diese Welt, wenn die Zeit gekommen ist›, hat sie geschrieben.»

«War sie religiös?»

«Nicht im klassischen Sinne. Also, nicht christlich. Aber sie hatte so eine esoterische Tendenz.»

«Gehörte sie einer bestimmten Bewegung an? Gab es eine Gruppe, die sie regelmäßig besuchte?» Winter hoffte auf neue Namen, eine neue Spur.

«Ich glaube nicht. Ich weiß allerdings nicht, ob sie mir das erzählt hätte. Sabrina wusste, dass ich von diesem ganzen New-Age-Mumpitz nichts halte.»

«Wann hatten Sie denn zuletzt von ihr gehört?»

«Da müsste ich nachsehen. Ende November wahrscheinlich. Ehrlich gesagt hatten wir nicht mehr so viel Kontakt. Aber ich habe ihr öfter geschrieben, seit ich wusste, dass sie den Tumor hat.»

«Das lief über E-Mail?»

«Ja. Sabrina mochte es nicht, wenn man sie anrief. Es schien ihr immer ungelegen zu kommen. Also habe ich meistens gemailt. Bloß diese Weihnachten … Aber das wissen Sie ja.»

«Frau Paulus, haben Sie irgendeine Ahnung, wer Frau Vogel und ihren Mann umgebracht haben könnte?»

«Nicht die geringste. Es waren doch sicher Einbrecher? Irgendeine osteuropäische Bande?»

«Wir vermuten eher, dass es jemand war, der die Familie gut kannte. Können Sie mir weitere Kontaktpersonen nennen, Freunde oder Bekannte von Sabrina?»

«Puh. Ehrlich gesagt, nein. Sabrina lebte ganz für ihren Mann und ihre Kinder. Die einzige andere Person, von der sie mal erzählt hat, ist eine jüngere portugiesische Kollegin aus dem Supermarkt. Die mochte sie wohl. Aber ich glaube nicht, dass sie die außerhalb der Arbeit gesehen hat. Und so wie ich Sabrina kenne – die Sympathie muss nicht auf Gegenseitigkeit beruht haben.»

«Wie meinen Sie das?»

«Sabrina war immer eine Außenseiterin. Nicht beliebt, weil sie irgendwie anders war. In der Schulzeit hat sie versucht, sich an verschiedene Leute dranzuhängen, aber das war meistens nicht sehr erfolgreich.»

«Außer bei Ihnen?»

«Ich mochte sie, gerade weil sie nicht so war wie alle. Außerdem tat sie mir leid.»

«Können Sie mir ein paar Namen nennen von Leuten aus der Schulzeit, an die Sabrina sich, wie sagten Sie, versucht hat dranzuhängen?»

«Ja. Christine Heinze. Birthe Feldkamp. Und natürlich Hendrik von Sarnau. In den war sie verliebt. Der kam erst in der Dreizehnten zu uns, adeliger Name, reiches Elternhaus, sah gut aus und war so selbstbewusst, dass er jeden in die Tasche stecken konnte. Sogar die Lehrer waren so klein mit Hut, wenn der was sagte. Also mit anderen Worten: Wenn es an der Schule ein Mädchen gab, das absolut keine Chance bei Hendrik von Sarnau hatte, dann Sabrina. Und genau in den verliebt sie sich, läuft ihm hinterher wie ein Hündchen und macht sich zum Gespött. Das Arschloch war manchmal, wenn sie alleine waren, ein bisschen nett zu ihr, um sie auszunutzen oder sie bei nächster Gelegenheit vorzuführen und lächerlich zu machen. Schlimm war das. Ekelhaft. Aber mit dem hat sie seit Ende der Schulzeit keinen Kontakt mehr. Ihr göttlicher Thomas würde das sowieso nicht erlauben. Vielmehr, hätte es nicht erlaubt.»

«Sie sprechen so ironisch von Herrn Vogel. Mochten Sie ihn nicht?» Winter sah im Geiste die Fotos des Toten vor sich. Thomas Vogel war wohl kein ausnehmend attraktiver Mann gewesen, vielleicht rührte der ironische Ton daher.

«Ehrlich gesagt, nein, ich mochte Thomas wirklich nicht. Aber das habe ich Sabrina nicht gesagt. Ich hatte auch keinen richtigen Grund dafür. Er war mir bloß nicht sympathisch. Wenn ich alle Jubeljahre mal da war, war er die ganze Zeit auf diese schleimige, künstliche Art freundlich zu mir. Aber ich hatte immer das Gefühl, sobald ich ihm den Rücken kehre, zerreißt er sich das Maul über mich. Außerdem hat er ständig versucht zu verhindern, dass ich mit Sabrina alleine war. Er hat sich jedes Mal ein paar Tage freigenommen, wenn ich da war. Angeblich zu Ehren meines Besuches, aber Sabrina und mir wäre es lieber gewesen, wenn wir mal in Ruhe zu zweit hätten reden können. Soweit das mit den Kindern halt möglich war.»

«Wie war das Verhältnis zwischen Sabrina Vogel und ihrem Mann?»

«Keine Ahnung, ehrlich gesagt. An der Oberfläche harmonisch. Jedenfalls hat sie nie was Gegenteiliges gesagt. Aber Sabrina hat einen nicht in sich reinsehen lassen. Sie hat immer den Schein gewahrt. Dass sie Thomas geliebt hat, bezweifle ich. Er war halt der Erste, der sie wirklich wollte. Das reichte, um sie glücklich zu machen. Sie war stolz wie Oskar, als sie mir erzählt hat, sie hat diesen wunderbaren Mann getroffen, der für sie gemacht ist, und eine neue Sonne ist in ihr Leben getreten und sie werden heiraten und in sein verwinkeltes altes Bauernhaus ziehen.»

«Das hört sich doch aber sehr nach großer Liebe an.»

«Ach was. Sie kennen Sabrina nicht. Die hat immer alles so überhöht. Das war ihr Versuch, anzugeben und sich ihr Leben schönzureden. Einmal hat sie in Allmenrod mit irgendeinem Besoffenen nachts beim Osterfeuer im Gebüsch gepennt; was meinen Sie, wie pathetisch sie mir davon berichtet hat. Das mit Thomas kam übrigens Knall auf Fall. Das Erste, was ich über ihn hörte, war, dass sie ihn heiratet. Thomas war ja schon ein paar Jährchen älter als wir. Ich nehme an, der war auch froh, endlich eine gefunden zu haben. Dem brannte es in der Hose.»

Winter war es immer unangenehm, wenn eine Frau so explizit wurde.

«Aha. Und wie war das Verhältnis zwischen Sabrina Vogel und ihrer Schwiegermutter?»

«Nicht existent. Die haben sich meines Wissens nie gesehen. Thomas ist hauptsächlich bei seiner Oma aufgewachsen. Mit seiner Mutter hatte er sich überworfen, und es herrschte totale Funkstille. Sabrina tat das leid. Deshalb hat sie Frau Vogel nach Merles Geburt eine Geburtsanzeige geschickt. Sie hat wohl gehofft, dass sich der Bruch irgendwie kitten lässt. Aber als sie das dem Thomas gestanden hat, bekam sie feste eins auf die Nase.»

«Im wörtlichen Sinne?»

«Wie? Ach so, nein, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Thomas hat sich bloß furchtbar aufgeregt und ihr verboten, je wieder Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen.»

«Wann haben Sie Sabrina Vogel zuletzt gesehen?»

«Vor zwei Jahren um Weihnachten herum.»

«Haben Sie damals bei Vogels übernachtet?»

«Ja.»

«In welchem Zimmer?»

«Oben war so ein kleineres Zimmer, wo Sabrina ihre alten Sachen aufbewahrt hat, und da stand auch ein Gästebett.»

«Hatte der Raum eine Tür?»

«Sicher hatte der eine Tür.»

«Was war das für eine Tür? Welche Farbe?»

«Holz, denke ich. Aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe gerade kein Bild vor Augen, wie bei Sabrina die Türen sind.»

«Blau gestrichen?»

«Ach so, ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Sie hatte oben die Türen und Türrahmen alle abgeschliffen und blau gestrichen. Als ich das letzte Mal da war, hatte sie das gerade frisch gemacht. Es roch noch nach Lack.»

«Und im Gästezimmer war eine Tür? Oder war die womöglich zum Trocknen ausgehängt?»

«Nein, die Tür war drin. Da bin ich sicher.»

Von Wertsachen im Gästezimmer oder sonst irgendwo im Haus wusste Janine Paulus nichts. Das hatte sie vor Wochen auch schon Sven Kettler so zu Protokoll gegeben. Pro forma fragte Winter noch ein Alibi ab. Paulus gab wie erwartet an, zur Tatzeit in Kanada gewesen zu sein. Durch ihren Anruf beim Polizeipräsidium war dies für den Nachmittag des zweiten Weihnachtsfeiertages auch belegt. Aus Sorgfalt würde Winter noch jemanden von seinen Leuten überprüfen lassen, ob Paulus in den zwölf Stunden zuvor nicht etwa einen Flug von Frankfurt genommen hatte. Doch hier war mit keiner Überraschung zu rechnen.

***

Während die Schreibkraft das Protokoll ins Reine schrieb, marschierte Winter ins Büro zurück, um sich Sven Kettler zur Brust zu nehmen, der fahrlässig den Hirntumor unterschlagen hatte. Doch Kettler war gar nicht da. Winter griff nach der Akte und durchforstete den Obduktionsbericht aus der Rechtsmedizin. Da hätte ein Tumor doch ebenfalls bemerkt werden müssen?

Das wurde er auch, nur konnte das ohne Vorinformation kein Laie verstehen:

… winzigste Infiltrationen abnorm differenzierter, gemästeter Zellen mit strichförmigen Nekrosen ventral zum zweiten Schusskanal im rechten Temporallappen, die ein Glioblastom in unmittelbarer Nähe vermuten lassen, dessen Hauptmasse vermutlich zu dem ausgetretenen Gewebe gehört. Jedoch ist keine Verschiebung der Mittellinie erkennbar, sodass die Raumforderung begrenzt gewesen sein dürfte.

Winter verspürte Ekel aufsteigen. Wenn er das richtig verstanden hatte, klebte der Tumor im Vogel’schen Schlafzimmer an der Wand.

***

«Da ist ja Kollege Winter», riss ihn Focks Stimme aus seiner momentanen Abwesenheit, gerade als sich die Umrisse einer neuen Idee formen wollten. Hinter Fock, der wie immer mit schwarzem Zweiteiler und roter Fliege bekleidet war, betrat Sven Kettler den Raum.

«Sie haben die guten Nachrichten noch nicht gehört, nehme ich an?», fragte Fock. Winter verneinte.

«Sie können die restlichen Zeugenvernehmungen abblasen. Kollege Kettler hat ganze Arbeit geleistet. Madame Renate Vogel kann nicht erklären, was sie mit den 5000 Euro Barabhebung gemacht hat. Angeblich hat sie sich liften lassen, aber in der Klinik, wo das gewesen sein soll, weiß man davon nichts. Und das Schönste ist, ihr sauberer Mieter hat jetzt sowieso alles gestanden.»

Winter musste das erst einmal verdauen. Hatten sie nicht vereinbart, die Vernehmung der beiden Verdächtigen erst nach den anderen Zeugen zu machen? Aber egal, es schien ja alles gutgegangen zu sein.

«Dann ist ja alles bestens. Und was war das Motiv?»

«Habgier und Rache.»

In dieser Sekunde klingelte Winters Telefon. Reflexartig hob er ab. «Andreas?», kam es vom anderen Ende. «Hier ist Hilal. Ich stehe jetzt in der Tiefgarage mit den beiden Mädchen. Wohin soll ich sie bringen?»

Winter zögerte kurz. Doch er fühlte sich nicht in der Lage, Aksoy lapidar zu sagen, sie könne die Kinder gleich wieder dahin bringen, woher sie sie geholt habe.

«In die V4», sagte er und spürte Focks kritischen Blick auf sich.

«Die Vogel-Kinder», erläuterte er, nachdem er aufgelegt hatte. «Ein paar Fragen will ich denen nach all den neuen Erkenntnissen schon noch stellen.»

Der fensterlose Spezial-Vernehmungsraum war kindgerecht und in hellen Farben eingerichtet. Doch das half nicht.

Für die kleine Merle Vogel gab es in ihrer Verzweiflung nur ein Thema: Warum sie beide nicht zur Oma könnten. Oder zur Hilal. Oder zur Janine nach Kanada.

Dass sie und die Schwester im Heim unglücklich waren, erschien Winter kaum verwunderlich. Kinder, die ihre Eltern auf derart grausame Weise verloren hatten, brauchten ein warmes Nest und eine feste Bezugsperson, um wieder Vertrauen zur Welt aufbauen zu können. Ganz bestimmt kein unpersönliches Heim.

Aksoy erklärte den Mädchen, in ihrer eigenen Wohnung sei auf Dauer kein Platz, und die Oma im Vogelsberg sei schon alt und im Augenblick mit der Pflege des kranken Opas überlastet. Aber warum die Oma nicht wenigstens zu Besuch gekommen war, dazu fiel ihr keine Erklärung ein.

Merle war weinerlich und wenig kooperativ; entsprechend schleppend lief das Gespräch. Die kleine Schwester mit dem verrückten Namen Wolke sagte sowieso kein Wort, wirkte zurückgeblieben für ihre drei Jahre. Nach wenigen Minuten Vernehmung kroch Wolke ihrer Schwester auf den Schoß und blieb dort daumenlutschend und schweigend sitzen, ihren weißblonden Schopf an Merle geschmiegt. Als «Regression» erklärte die polizeiliche Kinderspezialistin Rita Lenz später in ihrem Bericht Wolkes Verhalten. «Ein Rückzug in eine frühere Entwicklungsstufe nach einem traumatischen Erlebnis.»

Winter beobachtete die Vernehmung still aus der Zimmerecke. Die Fragen stellte die fesche Rita – so der allgemeine Spitzname der Kinderspezialistin –, die er zuvor genau instruiert hatte.

Die anfänglichen Fragen zur Tatnacht waren offensichtlich quälend für beide Kinder. Winter gab Rita daher leise den Hinweis: «Abbruch und nächstes Thema.» Über die Tatnacht waren die Mädchen direkt nach dem Ereignis schon zweimal ausführlich befragt worden. Das nächste Thema war der Verlauf des Tages davor. Merle machte einsilbige, uninteressante Angaben. Es schien nichts Wichtiges vorgefallen zu sein.

Nach der Großmutter väterlicherseits befragt, behauptete Merle, diese nicht zu kennen, denn die sei böse. Die zusätzliche Frage: «Wann hast du die Oma Renate aus Kelkheim zuletzt gesehen?», beantwortete sie entsprechend mit «Noch gar nie». Das schien eindeutig. Dann kam die erste Überraschung.

«Hatte die Mami einen Freund?», fragte Rita. Darauf Merle: «Nein.»

Die fesche Rita holte zur nächsten Frage aus, da sagte Merle plötzlich: «Aber ich weiß ein Geheimnis.» Das Geheimnis wolle sie nur der Hilal sagen.

Aksoy spielte mit, hockte sich neben Merle auf das Kindersofa, und alle hörten, wie das Mädchen ihr ins Ohr flüsterte: «Die Sabrina hat heimlich einen Freund, das darf aber niemand wissen.»

Winter musste an sich halten, nicht «Also doch!» zu rufen.

Aksoy sah Merle gespielt konspiratorisch an und flüsterte dann ihrerseits vernehmlich dem Kind ins Ohr: «Und wie heißt der Freund?»

«Sumati», hauchte Merle zurück.

«Wie?»

«Sumati.»

«Und mit Nachnamen?»

«Der hat keinen Nachnamen. Der kommt von einem anderen Planeten.»

Aksoy überspielte, was sie davon hielt.

«Und, war der manchmal bei euch zu Hause?»

«Nee. Aber die Mami spricht immer im Internet mit dem. Und manchmal, aber nur manchmal hat sie ihn in der Stadt gesehen.»

Winter notierte, dass er dringend noch mal an den Vogel’schen Rechner musste.

Da kam schon die nächste Überraschung. Aksoy nutzte das «heimliche» Flüstergespräch für eine weitere Nachfrage: «War mal ein Mann mit einem Motorrad bei euch?»

«Jaaa.»

«Wann war das?»

«Als das passiert ist. Das Schlimme.»

«Kanntest du den?»

«Nee.» Aksoy drehte sich kurz zu Winter um und hob die Brauen, bevor sie weitermachte.

«Wie hieß der denn?»

«Weiß nicht.»

Aus dem Hintergrund fragte Winter: «Hat der Motorradmann die Mami erschossen?»

«Weiß nicht», sagte Merle abwehrend.

Das Kind war plötzlich unruhig und unkonzentriert und zappelte mit den Beinen. Winter raunte, dass Rita übernehmen und das geplante Frageprozedere fortsetzen sollte. Aksoy setzte sich wieder auf ihren Platz.

«Euer Gästezimmer hat keine Tür», begann Rita Lenz nach einem Blick auf ihre Notizen. «Merle, was ist denn mit der Tür passiert?»

Merle schob ihre kleine Schwester gegen deren Widerstand vom Schoß, sprang auf und hüpfte durchs Zimmer. «Weiß ich nicht», sagte sie dabei schnippisch.

Winter war sich sicher, dass sie gerade log. Nun mischte er sich selbst ein. «Hat jemand die Tür kaputt geschossen?»

Merle hüpfte ein Himmel-und-Hölle-Muster. «Ja», presste sie zwischendurch hervor.

«Wer war das, der die Tür kaputt geschossen hat?»

«Weiß nicht.» Gelogen. Sie hüpfte weiter.

«Warum hat derjenige die Tür kaputt geschossen?»

«Weiß ich nich, weiß ich nich, weiß ich nich», verkündete Merle singend im Rhythmus ihres Hüpfspiels.

«Hat dir jemand gesagt, dass du das nicht sagen darfst?»

Sie nickte wortlos, aber ausdrucksstark beim Hüpfen.

«Wer hat dir das gesagt?»

«Der Thomas.»

Ihr Vater also. Was eigentlich für die Diebstahlthese und einen der Familie bekannten Täter sprach.

Nach mehreren weiteren Fragen zu der Tür, auf die Winter keine brauchbare Antwort erhielt, hatte er genug. Er stand auf, ging vor Merle in die Hocke und hielt das Mädchen an beiden Schultern fest. «Merle, jetzt hör mir mal gut zu. Das hier ist kein Spiel. Etwas sehr, sehr Schlimmes ist passiert. Jemand hat deine Eltern getötet. Du musst uns jetzt alles sagen, was du weißt.»

Merle sah ihn mit großen unglücklichen Augen an, ihr Gesicht verzerrte sich. Aus dem Hintergrund traf Winter der missbilligende Blick beider Frauen. «Andi, lass», sagte ganz leise Hilal Aksoy.

Er machte weiter. «Merle, bitte sag es mir: Wer hat die Tür zerschossen?»

Merle sagte keinen Ton und schluchzte los.

«So, Andreas, vielen Dank für die professionelle Hilfe», kommentierte mit beißender Ironie Rita Lenz. «So erreicht man bei Kindern gar nichts.»

Hilal Aksoy war plötzlich bei Winter, zog Merle von ihm weg und nahm das Mädchen tröstend in den Arm. Er stand auf, gereizt.

«Na, wenn ihr Frauen das besser könnt, werde ich ja hier nicht mehr gebraucht», verkündete er.

Draußen vor der Tür hoffte er, dass sein Spruch zum Abgang wenigstens ironisch geklungen hatte und nicht beleidigt. Was ihn getroffen hatte, war nicht die Rüge der feschen Rita. Die konnte ihn mal. Sondern der missbilligende Blick von Hilal Aksoy.

Dabei war es nicht gerade das erste Mal, dass Aksoy eine weibliche Zeugin vor seinen Verhörmethoden schützen wollte. Im Gegenteil. Ihr feministisches Gutmenschentum war ja gerade der Grund, warum er sie bis vor kurzem auf den Tod nicht hatte ausstehen können. Dumm bloß, dass das jetzt etwas anders war.

Dumm auch, dass die beiden Frauen mit ihrer Kritik an ihm scheinbar recht behielten: Im Videoraum musste er verfolgen, wie Merle Vogel im weiteren Verlauf einfach gar nichts mehr sagte, genau wie ihre Schwester. Die fesche Rita brach die Vernehmung nach etwa fünf weiteren Minuten ab. Winter wollte gerade das Gerät ausschalten, da hörte er, wie Rita Lenz zu Hilal Aksoy vernehmlich sagte: «Der Winter macht seinem Ruf ja alle Ehre.»

Winter drückte den Ausknopf, marschierte den Flur entlang und öffnete die Tür des Kindervernehmungsraums. «Was für einen Ruf habe ich denn?», fragte er herausfordernd die fesche Rita.

«Du hast das gehört? Sorry. Tja, frauenfeindlich, vorsintflutliche Vernehmungsmethoden. Das hier hast du jedenfalls gründlich verbockt.»

«Woher weißt du das eigentlich? Hättet ihr mich machen lassen, wäre das hier ganz anders ausgegangen.»

«Ja, ja, ganz bestimmt. Du bist ja auch der große Kinderexperte. Wie man an deinen Suggestivfragen gehört hat. Und generell beratungsresistent, das ist bekannt.»

Bevor er dazu etwas sagen konnte, zischte Rita mit ihrer großen Tasche ab wie auf der Flucht. «Findest du das auch?», fragte Winter Aksoy, als er und sie mit den Kindern alleine waren. «Vorsintflutliche Verhörmethoden, meine ich. Was du betreffs frauenfeindlich von mir hältst, weiß ich ja.»

Aksoy lachte, dann wurde sie ernst. «Du neigst dazu, auf Verdächtige, die nichts sagen, Druck auszuüben. Nahekommen, Anbrüllen und so. Laut den neueren Lehrbüchern soll die Brüllmethode kontraproduktiv sein. Keine Ahnung, ob das überhaupt stimmt. Dazu hab ich zu wenig Erfahrung.»

«Danke für die Info», sagte er trocken, an den Sekretär an der Wand gelehnt, und sah zu, wie sie ihren Mantel anzog. Die Kinder hockten auf dem Teppich und spielten mit Bauklötzen. Ihm fiel ein, dass er Vernehmungen durchzuführen vom Kollegen Glocke gelernt hatte, damals, als sie beide noch nicht bei der Kripo waren.

«Dass du beratungsresistent bist, kann ich übrigens nicht bestätigen», sagte Aksoy lächelnd, öffnete ihre Haare, schüttelte sie und band sie mit zwei Handgriffen neu zum Zopf.

«Na, immerhin», sagte Winter. Er schaffte es, zurückzugrinsen. Danach fühlte er sich besser.

«Da fällt mir noch was ein», sagte Aksoy. Sie kam ganz dicht heran, sodass er sie riechen konnte, und erzählte leise: «Was den mysteriösen Mann mit dem Motorrad betrifft. Vielleicht war das gar nicht der Motorradfahrer, den die Nachbarn gehört haben. Vielleicht meinte Merle bloß jemanden von der Schupo. Als ich nach der Tat hinkam, hatten sie die Kinder schon vom Tatzimmer in ein Kinderzimmer gebracht. Da saßen sie zusammen im Bett, und zur Aufsicht saß Bernd Schwab dabei. Ich weiß nicht, ob du den kennst.» Winter schüttelte den Kopf.

«Der war mal beim SEK. Einer von denen, die zur Polizei gehen, um Rambo zu spielen. Und wenn dann mit Anfang vierzig oder so der Körper streikt und diese Leute plötzlich ganz normal Streife fahren müssen, bringen sie null Motivation mit. Egal, jedenfalls hab ich mich über den Schwab ziemlich aufgeregt, weil die Kinder total verstört und verängstigt im Bett saßen, während er seelenruhig in der Ecke ein Motorradmagazin liest und sich um nichts kümmert. Er hatte ihnen nicht mal was zu essen oder trinken besorgt; es war fünf Uhr nachmittags, und die Ärmsten hatten seit dem Vorabend weder gegessen noch getrunken. Außerdem war die Heizung aus, und es war eiskalt und die beiden Mädchen nur im dünnen Nachthemd. Zu mir sagt er dann, ich soll jetzt mal schön die Supernanny spielen –»

Winter lachte, weil er sich zu gut vorstellen konnte, wie Aksoy sich darüber echauffiert hatte.

«Jedenfalls», redete Aksoy leise weiter, «ich denke, Merle könnte mit dem Motorradmann den Schwab gemeint haben.»

«Weil er ein Motorradmagazin gelesen hat? Frag sie doch», schlug Winter vor.

Aksoy nickte. Sie hockte sich zu den Kindern auf den Teppich. «Sag mal, Merle, weißt du, was eine Uniform ist?»

«Ja. Die Mutter von der Julia hat eine.»

«Der Mann mit dem Motorrad, der bei euch war, hatte der eine Uniform an?»

«Ja.»

«War das der Polizist, der bei euch im Zimmer saß?»

«Ja.»

Winter seufzte. Wieder so ein Fall, in dem eine Kinderaussage sich als wörtlich richtig, aber dennoch irreführend erwies. Der Mann hatte tatsächlich ein Motorrad dabeigehabt. Doch das war aus Papier.

«Na ja», sagte Aksoy, als sie wieder stand. «Viel haben wir hier nicht rausbekommen. Aber zum Glück ist der Fall ja sowieso schon geklärt, oder?»

Daran allerdings hatte Winter noch immer seine Zweifel. Was auch der Grund dafür war, warum er Merle so hart rangenommen hatte.

***

Zurück im Büro, sah Winter sich an, was Kettler an Beweisen für seine Auftragsmord-These geliefert hatte. Das Geständnis des angeblichen Killers war knapp und wenig überzeugend, da viele Details ungeklärt blieben. Frau Renate Vogel ihrerseits stritt kategorisch ab, ihren Mieter auf Sohn und Schwiegertochter angesetzt zu haben. Sie behauptete steif und fest, mit den abgehobenen 5000 Euro ein «Facelift» bezahlt zu haben, und zwar in der Klinik Liliengarten bei Wiesbaden. Von dem dortigen Sekretariat wiederum hatte aber Kettler telefonisch erfahren, man habe von einer Renate Vogel keine solche Zahlung verbucht.

Winter fiel ein, dass es von Großmutter Vogel das Vernehmungsvideo gab, aufgenommen am 2. Januar, etwa zwei Wochen nach dem angeblichen Lifting-Termin. Beim ersten Ansehen schon war ihm aufgefallen, dass Thomas Vogels Mutter sehr gepflegt und gut für ihr Alter aussah. Jetzt spielte er das Video noch einmal ab. Renate Vogel trug eine dicke Make-up-Schicht. Das Gesicht darunter war viel zu straff für eine Fünfundsechzigjährige, die Kinnlinie klar und ohne Hängepartien, die Augen groß und ohne jedes Anzeichen für Schlupflider.

Es bestand kein Zweifel, dass Renate Vogel geliftet war. Die Frage war nur, wie lange war die Operation her.

Winter zoomte ein paar Standbilder heran, glaubte, an einer Stelle etwas Verräterisches zu erkennen.

Er nahm die Kassette mit in die Kriminaltechnik, wo er auf Pietsch traf, der ungeschickt versuchte, eine heimliche Zigarette verschwinden zu lassen. Der Geruch war ohnehin nicht zu überriechen.

«Markus, du kennst dich doch mit Bildbearbeitung aus, oder? Kannst du mir hiervon eine hochaufgelöste Vergrößerung machen?» Winter zeigte auf einen bestimmten Bildausschnitt in einem Standbild bei Minute 2:30.

Pietsch fragte nicht lange und machte sich sofort an die Arbeit, sicher darauf hoffend, dass Winter ihn dann aus Gefälligkeit nicht wegen des Rauchens verpfeifen werde. Das hatte Winter allerdings sowieso nicht vor. Winter hatte selbst vor ein paar Jahren aufgehört und wusste, wie hart das war. Er wartete, bis Pietsch die hochauflösende Vergrößerung hergestellt hatte.

«Okay», sagte Pietsch schließlich. «Hier hast du’s.»

Das vergrößerte Bild zeigte die Augenpartie Renate Vogels, während sie die Augen beim Blinzeln für einen Moment geschlossen hielt.

Winter packte das Bild in eine Mail an die Rechtsmedizin und rief dort an. Er erwischte Professor Butzke mitten während einer Obduktion. Fröhlich versprach Butzke, wenn er «zugenäht» habe, einen Blick auf die Mail zu werfen. Eine Viertelstunde später meldete sich der Professor, mit hörbar vollem Mund. Winter stellte sich bildlich ein Mettbrötchen vor. Für Mettbrötchen besaß Butzke eine berüchtigte Vorliebe. «Sie wollen sicher wissen, was die dünnen roten Linien über den Augen sind?», begann der Rechtsmediziner mampfend das Gespräch

«Exakt», antwortete Winter.

«Klarer Fall. Narben einer Lidstraffung. Gut gemacht übrigens.»

«Wie lange ist das auf dem Bild her?»

«Nicht lange. Ein bis drei Wochen vielleicht.»

«Können Sie mir das schriftlich geben? Es ist sehr wichtig.»

«Ungern. Nur ein plastischer Chirurg kann das sicher sagen.»

Butzke war bekannt dafür, dass er sich nie schriftlich festlegen wollte. Winter legte nach.

«Dass Sie nicht der Richtige dafür sind, können Sie ja reinschreiben in Ihre Stellungnahme, aber bitte auch, wie Sie das laienhafterweise einschätzen. Verstehen Sie, dann stimmt mein Chef eher zu, einen richtigen Experten zu befragen.»

Damit hatte er Butzke bei der Ehre gepackt.

«Ja nun, so inkompetent bin ich auch wieder nicht.»

«Eben. Schreiben Sie mir also bitte das Brieflein, es ist wirklich wichtig.»

«Ach ja, Herr Winter. Für Sie tue ich doch alles.»

***

Auf dem bewachten Parkplatz der Klinik Liliengarten standen Ferraris und andere Protzkarossen, und zwar auf ausgewiesenen Ärzteparkplätzen. Die noble Eingangshalle war marmorgefliest.

An der Rezeption wies Winter sich aus und fragte nach Doktor Melzer, den er als Experten in einem Fall befragen wolle. Ganz ehrlich war das nicht. Aber mit voller Ehrlichkeit würde er womöglich nicht weit kommen. Während die Empfangsdame telefonierte, sah Winter hinter ihr an der marmorgetäfelten Wand ein rotgoldenes Plakat mit einer Aussage, die er im Internet schon gefunden hatte. Man warb für ein «Weihnachtsspecial», ein verdammt harmloser Name für eine große, gesundheitlich fragwürdige Operation. Dieses weihnachtliche Special wurde als «Rundum-Sorglos-Paket: Facelift inklusive Halsstraffung, Lidstraffung und Stirnlifting» beschrieben und ging für den «Schnäppchenpreis» von 6999 Euro über den Tresen, und zwar vom 2012. bis 201. Jede OP im Rahmen des Weihnachtsspecials werde «persönlich von unserem Starchirurgen Dr. Melzer durchgeführt, der extra für Sie auf seinen Urlaub verzichtet».

Melzer, der sogenannte Starchirurg, fühlte sich von der Anfrage eines Kriminalhauptkommissars geschmeichelt. Oder aber seine Neugierde war geweckt. Jedenfalls vermeldete die Empfangsdame, der große Mann stehe Winter für einige Minuten zur Verfügung. Eine junge Frau in Krankenpflegeuniform erschien und führte Winter in das Sprechzimmer des Chirurgen, vorbei an einer Reihe von wartenden Damen aller Altersstufen und einem Herrn, allesamt mit grüngelb und lila verfärbten Gesichtern.

Melzer begrüßte Winter mit Handschlag. Er war an die sechzig und sah nicht so aus, als ob er selbst jemals plastisch-chirurgische Dienste in Anspruch genommen hätte. «Was kann ich für Sie tun?», fragte er, demonstrativ im Stehen, was wohl andeuten sollte, dass er nicht viel Zeit habe.

Winter holte das Foto von Renate Vogels geschlossenen Augen hervor.

«Diese Frau hatte eine Lidstraffung. Können Sie mir sagen, wie lange das ungefähr her ist?»

Melzer nahm das Bild, studierte es prüfenden Blicks.

«Sieht noch relativ frisch aus. Die Bildqualität ist nicht so gut, sie ist auch geschminkt, deshalb … aber länger als zwei, drei Wochen ist das nicht her.»

«Könnte das bei Ihnen gemacht worden sein?»

«Möglich. Das ist die gleiche Technik, die ich auch verwende. Ist aber Standard heute. Ist die Frau etwa tot?»

«Nein, zum Glück nicht. Es handelt sich um eine Tatverdächtige. Können Sie sich erinnern, diese Frau operiert zu haben?»

Winter reichte ihm jetzt die beiden Fotos von Renate Vogel, die heute Morgen bei der erkennungsdienstlichen Behandlung gemacht worden waren.

«Aber sicher. Das ist Renate Vogel. Die ist bei uns Stammkundin. Was soll die denn ausgefressen haben?»

«Vielleicht gar nichts. Wenn sie bei Ihnen operiert worden ist, so wie sie behauptet, könnte das Frau Vogel entlasten. Wann hatten Sie sie denn zuletzt unterm Messer?»

«Das ist nicht lange her. Moment.» Melzer öffnete die Tür, rief: «Anne, bring mal das Terminbuch vom letzten Jahr.» Die Sprechstundenhilfe kam mit einem großen schwarzen Wälzer vorbei. Melzer legte ihn auf seinen Schreibtisch, blätterte. «Hier», sagte er schließlich. «Hier haben wir sie.» Sein Daumen zeigte auf einen gut lesbaren Eintrag vom 2212.: Renate Vogel WS B5, der die Zeit von zehn bis dreizehn Uhr belegte.

«Was bedeuten die Abkürzungen?»

Melzer schlug das Buch zu, gab es an die Sprechstundenhilfe zurück, die sofort entschwand.

«WS heißt Weihnachtsspecial. Ein großes Lifting mit allem Drum und Dran.»

«Und die andere Abkürzung?»

«Das war sicher die Erinnerung daran, dass wir Frau Vogel einen Rabatt gewährt hatten. Vor ein paar Jahren hat sie bei uns an einer Studie über eine neue Methode teilgenommen, Gesichtsstraffung mit Goldfäden, die durch die Wangen gezogen wurden. Leider hat sich die Methode nicht so bewährt, und wir mussten ihr jetzt die Goldfäden wieder entfernen. Die bohrten sich allmählich nach außen durch. Bei der Gelegenheit wollte sie dann gerne ein großes Lifting, weil das letzte bei ihr schon fünfzehn Jahre her war, und wir haben gesagt, wir kommen ihr mit dem Preis entgegen, sozusagen als Entschädigung, weil das mit den Goldfäden schiefgegangen war.»

Aha, dachte Winter. Seine Meinung war, dass B5 für «5000 in bar» stand, die wahrscheinlich Melzer und sein Anästhesist auch bar eingestrichen hatten. Daher hatte das Kliniksekretariat nichts verbucht, und Kettler hatte die falsche Auskunft bekommen.

Winter instruierte Melzer, in den nächsten Tagen ins Präsidium zu kommen, um seine Aussage offiziell zu Protokoll zu geben.

Von Wiesbaden kommend, fuhr er kurz entschlossen über das Nordwestkreuz nach Preungesheim und hielt bei dem riesigen Gefängniskomplex in der Kreuzäckerstraße. Der angebliche Auftragskiller war nach seinem Geständnis jetzt hier in U-Haft. Auf dem Handy versuchte Winter Fock zu erreichen, um seinen Plan mit ihm abzusprechen. Leider vergeblich. Fock war bereits heimgegangen. Es war nach sechs. Doch Winter fiel es schwer, die Sache über Nacht ruhen zu lassen, wo er nun schon einmal hier war. Er versuchte es beim Staatsanwalt. Der war noch da und stimmte zu.

Winter meldete sich am Eingang, wies sich aus und teilte mit, Wladimir Preiß dringend sprechen zu müssen. Der Wachbeamte war unfreundlich und unwillig, auf Sonderwünsche der Ermittler zur Abendzeit einzugehen, bekam aber vom Vorgesetzten nach dessen Rücksprache mit dem Staatsanwalt die Weisung, Winter einzulassen.

Nach zwanzig Minuten Wartezeit wurde in einem Besuchsraum der junge Mann vorgeführt, der bei Renate Vogel ein Zimmer gemietet hatte. Mit seinem gedrungenen tätowierten Körper und seinen ultrakurz rasierten blonden Haaren bediente er die gängigen Klischees über problematische junge Russlanddeutsche. Ein leichtes Opfer für falsche Verdächtigungen.

«Setzen wir uns erst mal», begann Winter. «Ich hätte da als leitender Ermittler im Doppelmord Vogel ein paar Fragen. Kannst du mir sagen, welche Farbe die Türen im Obergeschoss der Familie Thomas Vogel haben?»

Schulterzucken. «Keine Ahnung. Braun bestimmt.»

«Frau Vogel hat dir Geld dafür gegeben, dass du ihren Sohn erschießt?»

Preiß sah zu Boden, murmelte: «Ach, leckt mich doch alle am Arsch.»

«Wann war das genau? Dass sie dich bezahlt hat?»

«Was weiß ich.»

«Sag mal, Kumpel, kann es sein, dass mit deinem Geständnis was nicht stimmt?»

Preiß stöhnte. «Klar kann das sein. Wenn der Blödmann mich nicht an meinen Stoff lässt. Was willste machen, da gestehst du, dann hast du deine Ruhe. Davon ab, es gibt Schlimmeres als Knast. Ich hab da überall Kameraden.»

Kettler! Einen Drogensüchtigen auf Entzug zu bringen, bis er gesteht! Das war einfach unglaublich. Im Gegensatz zur Gutmenschin Aksoy fand Winter zwar keineswegs, dass Tatverdächtige mit Samthandschuhen angefasst werden mussten. Aber bei einer Sache kannte er keine Kompromisse: Körperliche Qualen waren tabu. Folter war nicht nur verboten, weil sie grausam war. Sie war auch verboten, weil man sich auf Aussagen unter Folter niemals verlassen konnte. Man musste nur an die Hexenprozesse denken. Da hatten unschuldige Frauen unter Folter Märchen erzählt, sie hätten sich mit dem Teufel getroffen, nur weil die Kirche das hören wollte.

«Okay», sagte Winter. «Sprich morgen mit deinem Anwalt, und danach holen wir dich noch mal zur Vernehmung.» Er zweifelte nicht, dass der junge Mann in der JVA mit «Stoff» gut versorgt war. Die Gefängnisse waren Drogenumschlagplätze und Organisationszentren der Kriminalität. Der ewige Sparzwang und die Personalnot hatten es so weit gebracht.

***

Winter wusste später nicht, welche Intuition ihn anschließend trieb, nach dem ohnehin schon langen Arbeitstag einen Bogen nach Westen Richtung Kalbach zu fahren. Zum Tatort. Vielleicht hatte er einfach nur keine Lust, nach Hause zu kommen.

In der Dunkelheit wurde ihm erst richtig bewusst, wie einsam das Vogel’sche Gehöft lag. Ideal für einen Überfall. In der Ferne glänzten die Lichter der Schnellstraßen ums Homburger Kreuz, doch von dort hatten Bewohner des Hauses keine Hilfe zu erwarten.

Als Winters Wagen sich dem Ende der unbeleuchteten Stichstraße näherte, sah er bei Vogels zwischen Haus und Schuppen ein Licht aufblitzen. Von einer Sekunde auf die nächste war er hellwach. Er schaltete den Motor aus. In der Dunkelheit erahnte er Bewegungen auf dem Hof, schemenhafte Gestalten, ab und zu flackerte der Lichtkegel einer Taschenlampe auf. Da stimmte etwas nicht.

Winter griff zum Funkgerät und rief zwei Streifen zur Verstärkung. Um besser hören zu können, was draußen geschah, ließ er ein Fenster herunter. Wenige Minuten später knallten auf dem Vogel’schen Hof Autotüren. Rücklichter leuchteten auf. Ein Wagen, anscheinend ein Transporter ähnlich dem Thomas Vogels, manövrierte vor dem Haus. Winters Dienstlimousine stand mitten auf der schmalen Stichstraße und versperrte den Herrschaften den Rückweg. Auch gut. Nun würde er das ohne Verstärkung lösen müssen. Sein Herz klopfte stark und gleichmäßig. Er wünschte sich nur, er hätte seine Weste an.

Doch der Transporter mit den Unbekannten kam mitnichten auf ihn zu. Er bog in die andere Richtung auf den Feldweg ein, fort von Kalbach. Winter blendete in derselben Sekunde sein Licht auf, notierte sich, was er vom Kennzeichen erkennen konnte, und begann die Verfolgung. Über Funk gab er durch, dass die Zielpersonen in Richtung Wiesen unterwegs waren. Der Kleinbus zog jetzt erheblich das Tempo an. Hinter Winter erschien mit Blaulicht die erste Streife, aber die nutzte ihm hier nichts mehr. «Fahrt außen herum und schneidet ihnen den Weg ab», rief Winter ins Funkgerät, während er auf dem Feldweg kräftig durchgeruckelt wurde. In der Einsatzzentrale hatten die Kollegen eine genaue Karte vor sich, die würden das so gut lösen, wie es ging. Winter bekam die Direktive dranzubleiben. Der Transporter bog irgendwann vom Feldweg auf eine geteerte schmale Straße und raste weiter zwischen Wiesen und Lagerhallen entlang. Winter vermutete, dass die Verdächtigen die Autobahn erreichen wollten, und genau so war es auch. An der Auffahrt östlich Kalbachs hatte die Zentrale die zweite Streife positioniert. Diese übernahm nun Winters Verfolgerrolle. Er selbst ließ sich erleichtert zurückfallen und vom Navi auf gewöhnlichen Straßen zum Vogel’schen Haus zurückführen. Im Labyrinth der Kalbacher Wiesen hätte er sich bloß verfranst. Wie war noch gleich der Gedanke, der ihm eben gerade während der Verfolgung gekommen war? Irgendetwas war ihm klargeworden, aber nun war es nicht mehr greifbar.

Am Vogel’schen Haus erhielt er über Funk die Nachricht, dass man die Fliehenden am Bad Homburger Kreuz verloren hatte. Winter fluchte kurz, dann sah er nach dem Zettel, auf dem er das Kennzeichen notiert hatte: Er war bei einer Zahl und einem Buchstaben unsicher gewesen. Wie er seinen Datenbankfreak Steffen Leibold kannte, würde der den Halter dennoch ziemlich gut eingrenzen können.

Winter stieg aus, ließ zur Beleuchtung das Licht an. Das Siegel an der Haustür wirkte unversehrt. Aber die Tür zu einem der Schuppen stand offen. Es war derselbe Schuppen, in dem er die zerschossene Tür gefunden hatte.

***

Am Morgen lag ein bleigrauer Januarhimmel über Frankfurt. Um halb zehn war es noch so dunkel in den Räumen, dass fast überall Licht brannte.

Hendrik von Sarnau knipste seine Deckenbeleuchtung dennoch aus Gründen der Sparsamkeit aus. Angewidert sah er dabei aus dem Fenster. Sein Blick ging frontal auf das geschwungene neue Glasdach des Frankfurter Hauptbahnhofs. Unvorstellbar, dass ihm dieser triste Anblick einmal gute Laune bereitet hatte. Sarnau ließ sich wieder an seinem leeren Schreibtisch nieder. Durch die Tür zum Foyer hörte er, wie seine Sekretärin mit einem älteren Ehepaar über die Gebühr für eine Erstberatung feilschte. Unlukrative Zufallskundschaft. Seine Kanzlei lag in einem der Jugendstil-Gründerzeithäuser am Bahnhofsvorplatz, die als einzige in Frankfurt einen leisen Hauch von Paris verströmten. Seit einem Jahr saß Hendrik von Sarnau jetzt hier in einer stylish ausgestatteten Anwaltspraxis und wartete auf Klienten, die meisten Tage vergeblich. Der Gründungskredit der Bank war bald dahin, und allmählich ließ sogar sein stahlhartes Selbstvertrauen ersten Schwund erkennen.

Die Sekretärin klopfte und trat ein. Sie war attraktiv, doch auch das bereitete Sarnau keine Freude mehr. «Herr von Sarnau? Ich soll fragen, ob Sie eine Viertelstunde Erstberatung für zwanzig Euro machen würden?»

«Für fünfundzwanzig können die Herrschaften kurz reinkommen.»

Ein kleingewachsenes, hausbackenes, knackbraun gesonntes Paar um die sechzig betrat sein Büro. Die Frau war die Wortführerin. Man wolle das Geld für einen Urlaub «in DomRep» zurück und noch 1000 Euro Schadenersatz dazu, verkündete sie. Es sei nämlich Schimmel in der Dusche gewesen, der Strand total verdreckt, und ihr Mann habe sich «dank dem schlechten Essen was am Magen geholt». Hendrik von Sarnau stellte ein paar Rückfragen, erfuhr, dass der zweiwöchige Urlaub inklusive Flug 498 Euro pro Nase gekostet hatte, das Hotel nur zwei Sterne besaß und man außerdem vor Ort nicht reklamiert hatte. «Mir habben abbä Fottos gemacht von allem.» Es wurde ein Foto auf dem Handy präsentiert, auf dem mit viel Phantasie ein schwarzer Schimmelrand auf einer Duschfuge zu erkennen war sowie ein Strandabschnitt, auf dem verbeulte Getränkedosen herumrollten. Hier und da war ein Ästchen im Sand zu sehen, gewiss herabgefallen von den Palmen, die den Strand säumten. Die Leute konnten allerhöchstens mit einer minimalen Kulanzrückerstattung rechnen, so viel war klar. Aber Hendrik von Sarnau war nicht so dumm, den Klienten das zu sagen. Dann bliebe es ja bei der Erstberatung. Und die lohnte sich in diesem Fall am allerwenigsten.

Hendrik von Sarnau war aufgewachsen mit der Sicherheit, dass sein Name und sein Auftreten ihm stets alle Türen öffnen würden. Über seine nur durchschnittliche Note im ersten Jura-Staatsexamen hatte er die Schultern gezuckt, zuversichtlich, es beim zweiten Staatsexamen besser zu machen. Doch da lief nichts wie geplant. In einer Hausklausur hatte er ohne schlechtes Gewissen (so arbeitete man heute eben) aus dem Internet kopierte Textschnipsel verwendet und damit die pedantische Prüferin verärgert. In der zweiten hatte er die juristische Krux des Problems übersehen. In der dritten lief es besser, doch der Prüfer war einer, der ihn persönlich nicht leiden konnte. Im Mündlichen, einer lachhaften Gruppenprüfung, wurden ihm dann seine äußerst mäßigen Vornoten zum Verhängnis. Am Ende stand nur ein schwaches Ausreichend, durchschnittlich für Juristen, aber weit entfernt von dem Prädikatsexamen, auf das die Edelkanzleien bei ihren Bewerbern so erpicht waren.

Ein «Befriedigend» hätten Hendrik von Sarnaus Name und Persönlichkeit vielleicht überstrahlen können. Ein schwaches «Ausreichend» aber offenbar nicht. Auf seine vierzig Bewerbungen bei den Großen hatte er nicht ein einziges Mal auch nur eine Einladung erhalten. Nicht einmal persönliche Vorsprache half.

Das alles aber verunsicherte Sarnau noch immer nicht. Im Gegenteil. In der Tiefe seines Herzens war sein Ziel sowieso immer die Selbständigkeit gewesen. Eine eigene Kanzlei. Zwar hatte er davon gehört, dass es eine Anwälteschwemme gebe. Zu viele junge Anwälte drängten auf den Markt und nahmen sich gegenseitig die Butter vom Brot. Er allerdings besaß erstens Kapital, und zweitens hieß er eben nicht Jens Müller oder Katrin Schmidt. Auch die Bank ließ sich leicht von seinen guten Chancen überzeugen und spendierte einen Gründungskredit. Hendrik konnte sich daher an einer zentralen Adresse einmieten, wo täglich viele wohlsituierte Passanten auf dem Weg vom Bahnhof zum Bankenviertel vorüberkamen. Ein Erfolgsrezept, glaubte er. Zur Sicherheit schaltete er außerdem eine Anzeige in den gelben Seiten. Wo sein adeliger Name neben anderen prangte, glaubte er, würden die Leute sich eher an ihn als an die anderen wenden. Doch nachdem die Kanzlei mehr als schleppend anlief, erkannte er: Es gab viele Anzeigen von Anwälten, deren Name etwas hermachte. Zum Beispiel, weil ein Doktortitel davorstand oder ein Master of Laws oder eine Fachanwaltskompetenz. Nicht einmal im Alphabet war er weit vorne.

«Zu einem Prozess würde ich Ihnen nicht raten, jedenfalls nicht sofort», schwafelte er der gelockten braunen Kruste von Billigurlauberin vor. «Man setzt in einem solchen Fall erst einmal den Reiseveranstalter unter Druck. Lassen Sie Ihren Anwalt einen wohlformulierten Brief schreiben, in dem er auf einschlägige Urteile verweist und mit einem Prozess droht, sollte der Veranstalter eine außergerichtliche Einigung verweigern.»

«Können das net Sie für uns machen?», fragte die Frau, geködert von seiner Formulierung.

Sarnau tat so, als werfe er einen Blick in seinen Terminkalender. «Einen einzelnen Brief könnte ich nächste Woche mit knapper Not noch dazwischenschieben», befand er. «Dann lassen Sie bitte vorne meine Sekretärin Ihre Urlaubsunterlagen kopieren und füllen Sie ein Klientendatenblatt aus; ich brauche Ihre Adresse und Kontoverbindung. Schließlich muss der Reiseveranstalter ja wissen, an wen er die Erstattung zu schicken hat.»

«Jo, das ist wahr», kicherte die Dame und entschwand samt Gatten hoffnungsfroh ins Vorzimmer.

Die Leute waren so dumm. Alles, was von Sarnau jetzt für die Klienten tat, fiel nicht mehr unter Erstberatung, sondern unter das Rechtanwaltsvergütungsgesetz. Der Brief, den er an den Reiseveranstalter schrieb, würde die beiden Sonnenanbeter schlappe 250 Euro kosten, im für sie besten Fall. Nämlich wenn die Sekretärin es nicht schaffte, ihnen vorne eine Unterschrift unter seine spezielle Honorarvereinbarung zu entlocken.

«Herr von Sarnau?» Die Sekretärin betrat den Raum.

«Ja?»

«Ein Einschreiben.» Sie legte ihm eilig das Kuvert auf den Schreibtisch, bevor sie wieder verschwand.

Als Hendrik von Sarnau den Absender sah, erstarrte er. Es wurde ganz still im Raum. Er hörte nichts mehr, keinen Verkehrslärm von unten, keine Stimmen vom Vorraum, nur noch den Schlag seines eigenen Herzens.

Pfister hatte es getan. Hatte es tatsächlich getan. Damit hatte er im Leben nicht gerechnet. Die Menschen waren so dumm.

Außer ihm selbst natürlich.

***

«Sag mal, hast du sie noch alle?»

Sven Kettler war rot im Gesicht und schäumte vor Wut. Er fühlte sich von Winters gestrigem Ausflug nach Wiesbaden und Preungesheim hintergangen.

«Du warst nicht mehr da, als ich von der Vernehmung der Vogel-Kinder zurückkam», verteidigte sich Winter. «Ansonsten hätten wir das zusammen –»

In diesem Moment betrat Fock den Raum, seinerseits mit vor Erregung roten Wangen.

«Was höre ich? Die Mutter Vogel müssen wir entlassen, und ihr Komplize soll heute noch einmal verhört werden, weil es Zweifel am Geständnis gibt?»

Winter hatte ihm das gemailt.

«Es gibt keine Zweifel am Geständnis», klinkte sich Kettler sofort ein, plötzlich ganz ruhig. «Lediglich Herr Winter hat welche. Deshalb hat er gestern Abend den Verdächtigen in Preungesheim aufgesucht und ihm nahegelegt, er könne das Geständnis auch wieder zurücknehmen. Darauf hat sich unser Mann besonnen, dass ich ihn angeblich unter Drogenentzug verhört hätte. Was natürlich frei erfundener Unsinn ist. Kann auch Kollege Glocke bestätigen, Moment …»

Kettler entschwand. Fock sagte: «Winter, ich muss mich wundern», da war Kettler schon wieder da, mit Glocke im Schlepptau: «Heinz, bitte bestätige doch mal, dass der Verdächtige Preiß gestern keinerlei Anzeichen von Entzug gezeigt hat und wir ihm außerdem zwei Unterbrechungen gewährt haben.»

«Ja, sischä», erklärte Glocke nach einer Pause von drei Sekunden, in denen er perplex dreingeblickt hatte. «Das war so. Alles korrekt gelaufen gestern.»

Winter nahm beschwichtigend die Hände hoch. «Ist ja gut. Dann hab ich mir von dem Jungen einen Bären aufbinden lassen. Aber sein Geständnis ist trotzdem nicht hundertprozentig koscher. Der Preiß hat ja ursprünglich behauptet, dass ihm Renate Vogel die 5000 Euro gegeben hat dafür, dass er ihren Sohn und ihre Schwiegertochter umbringt. Das Geld ist aber, wie wir inzwischen wissen, in Wahrheit an diesen Arzt der Klinik in Wiesbaden gegangen und nicht an den Preiß. Außer einer fragwürdigen Anschuldigung des Preiß haben wir also gegen Renate Vogel nichts in der Hand. Abgesehen davon, dass durch den Einbruch ins Vogel’sche Haus gestern Abend neue Verdächtige hinzugekommen sind.»

Fock zog sich an der roten Fliege und stöhnte.

«Meine Herren! Bekommen Sie endlich mal Ordnung in diesen Fall! Das ist mir alles viel zu chaotisch!»

In diesem Moment betrat Steffen Leibold den Raum. Sozial unsensibel, wie er war, ignorierte er Focks erhabene Anwesenheit und die aufgeheizte Stimmung. «Ich hab den Halter, glaub ich», sagte er lapidar zu Winter. Er hatte Winters Notiz zum Autokennzeichen der gestrigen Einbrecher bearbeitet. «Ein Kalbacher Betrieb für Badsanierungen. Fährt einen Peugeot-Kastenwagen.»

«Mensch, super, Steffen», lobte Winter. «Das ist garantiert der Richtige.»

***

Winter fuhr direkt hin, nahm Steffen Leibold mit, obwohl der keine Lust hatte, sich von seinem geliebten Computer wegzubewegen. Winter wollte diesmal keinen Alleingang riskieren. Die Sache war zu wichtig.

Sie hatten Glück. Der Klempnermeister namens Noll, dem die Firma gehörte, war in seinem Büro, einem abgeteilten winzigen Raum neben der Werkstatt, wo er am Computer an seiner Steuererklärung saß. Noll war ein sehr kleiner, sehr schlecht gelaunter Mann mit mausgrauem Haarkranz um die Glatze.

«Gestern gab es einen Einbruch bei Thomas Vogel, einem Fliesenleger hier in Kalbach», begann Winter ruhig. «Daran war Ihr Wagen beteiligt. Was können Sie uns dazu erzählen?»

«Scheiße», knurrte der Klempnermeister. «Aber ich hätt’s mir ja denken können.»

In diesem Moment wusste Winter, dass Noll mit dem Tod von Thomas und Sabrina Vogel nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte. Der Ton war der eines aufrechten Bürgers, der beim Falschparken erwischt worden war.

«Wir warten», sagte Winter. Er und Leibold hatten sich nicht gesetzt, dazu war hier sowieso kein Platz. Leibold stand schräg hinter Noll und schielte ihm in die Steuererklärung.

«Ja, ich geb’s ja zu, ich war gestern da. Der Vogel ist doch tot, da hab ich mir gedacht, ich lad mir was von dem Material ein, was er noch rumliegen hat. Wär doch eh alles auf dem Sperrmüll gelandet. Außerdem, der Mann hat mir derart geschadet zu Lebzeiten, da find ich, ich hab ein Recht, mir wenigstens ein bisselchen was zurückzuholen.»

«Wie hat er Ihnen denn geschadet?»

«Ja, Schwarzarbeit natürlich. Der Vogel hat die Preise verdorben, hat alles für lau unter der Hand gemacht, und dann noch im Sanitärbereich, wo der überhaupt nicht für ausgebildet war, der Pfuscher. Das hat er den Leuten aber nicht gesagt. Komplettbäder hat der angeboten. Der hat halb Kalbach die Bäder neu gemacht. Ich hätt den anzeigen sollen bei der Handwerkskammer. Anzeigen hätt ich den sollen. Hier, sehen Se mal –», er stand ruckartig auf und verschwand nach nebenan in die Werkstatt, kam mit einer Bananenkiste voll weißer Schachteln zurück. «Das hab ich gestern von ihm geholt. Kann ich alles wegschmeißen. Schrottarmaturen sind das, die sind in Deutschland gar nicht zugelassen.» Entrüstet entpackte er eine Waschbecken-Mischarmatur und hielt sie in die Höhe. «Ein Fachbetrieb darf so was gar net einbauen. Der war ein echtes Arschloch, der Vogel.»

«Und deshalb haben Sie ihn erschossen?»

«Was? – Natürlich nicht! Ja, ich hab doch mit dem Mord nichts zu tun, du lieber Gott! Das werden irgendwelche Spitzbuben gewesen sein, mit denen er sich eingelassen hat. Sie glauben doch nicht etwa …» Jetzt mischte sich Angst in den Blick, der zuerst nur ehrlich entrüstet gewesen war.

Falls der Klempnermeister log, war er ein ausgezeichneter Schauspieler.

Winter erfragte, wer gestern bei dem Einbruch mit dabei gewesen war. (Es waren der Lehrling und Nolls Frau, die aber von jeder Schuld frei seien: Noll selbst habe die anderen überredet.) Weiter erkundigte sich Winter, ob Noll ein Alibi für die Tatnacht habe (ja, denn am ersten Weihnachtstag abends hatte die ganze Familie Noll bis nach ein Uhr mit auswärtigen Verwandten zusammengesessen und Fondue verspeist). Winter stellte noch ein paar Fragen zu Nolls Verhältnis zu Thomas Vogel. Aber letztlich wusste er, das war vergebens. Noll war unschuldig an dem Doppelmord.

So war das in diesem Fall: Einen Schritt vor, zwei zurück.

***

Direkt nach seiner Rückkehr aus Kalbach wurde Winter in Focks Büro bestellt.

Hildchen, die Sekretärin, wedelte im Vorzimmer nur bedenklich mit der Hand zum Zeichen, dass wieder einmal nicht alles zum Besten stehe.

«Ich nehme an, Ihr Ausflug eben hat nichts Wesentliches erbracht?», begann Fock das Gespräch.

Was soll das denn heißen, dachte Winter. «Wie man’s nimmt», sagte er und berichtete. «Soso», sagte Fock, der kaum zugehört hatte. Er zog ein seltsames Gesicht hinter seinem Schreibtisch, legte die Hände mit spitzen Fingern wie zum katholischen Gebet zusammen. «Ehe Sie sich aufregen», begann er ominös, «wollte ich Ihnen nur sagen, dass wir den Verdächtigen Preiß schon hier haben zur Klärung der restlichen Fragen, und dass ich den Kollegen Kettler beauftragt habe, das Verhör zu übernehmen. Es ist ja nicht so, dass der Kollege Kettler gestern irgendetwas falsch gemacht hätte, nicht wahr. Und ich wollte Ihnen generell noch sagen, nehmen Sie sich doch bitte in der Angelegenheit Vogel mal etwas zurück und überlassen Sie dem Kollegen Kettler die Führung. Der kennt den Fall zwei Wochen länger als Sie, hat mehr Zeugen gesehen und ist in der Materie einfach besser drin.»

Winter konnte kaum glauben, was er hörte.

«Ach, tatsächlich?», sagte er. «Sie wollen mir doch nicht etwa sagen, dass es falsch war, dass ich gestern in Wiesbaden persönlich bei dem Chirurgen der Klinik nachgefragt habe, nachdem sich Kollege Kettler mit der telefonischen Auskunft irgendeiner überlasteten Sekretärin begnügt hat? Als leitender Beamter werde ich ja wohl noch unsichere Ermittlungsergebnisse überprüfen dürfen. Das ist schließlich mein Job.»

Fock wand sich. «Je nun, es war aber in dem Fall etwas unkollegial, weil Sie den Kollegen nicht informiert hatten, und wie ich schon sagte …»

«Entschuldigung, wenn ich um halb vier aus der Vernehmung komme und der Herr Kettler schon nach Hause gegangen ist, soll ich dann für den Rest des Tages Däumchen drehen und wichtige Dinge aufschieben, bloß weil er nicht da ist?»

«Je nun, Winter, Ihr Eifer in der Sache war übertrieben. Es war doch nicht so wichtig. Der Fehler wäre früher oder später von selbst ans Licht gekommen. Madame Vogel hätte den Chirurgen ja sicher als Entlastungszeugen angegeben.»

Winter konnte nur staunen. «Ja, vor Gericht! Das hätte eine dicke Blamage für die Staatsanwaltschaft gegeben und Kosten für den Steuerzahler. Renate Vogel hätte man noch Entschädigung für die Haft zahlen müssen. Entschuldigung, Chef, aber das meinen Sie doch nicht ernst!»

«Regen Sie sich mal nicht so künstlich auf. Etwas Mäßigung im Ton kann nicht schaden. Wie ich schon sagte, in diesem Fall sehe ich Kettler als den leitenden Beamten, und dessen Entscheidungen haben Sie nicht zu hinterfragen, auch wenn sie vielleicht nicht immer richtig sind. Mein Gott, Sie machen doch auch Fehler. Ich brauche Ruhe in der Kiste und keine Kabbeleien in meiner MK. – Sagen Sie mal, Winter, haben Sie eigentlich Probleme zu Hause, oder warum sind Sie im Augenblick so gereizt?»

Das nahm Winter die Luft aus den Segeln. Er schluckte seinen Protest herunter, um bloß schnell das Thema zu wechseln.

«Chef, wissen Sie eigentlich, dass die Geschädigte Sabrina Vogel einen tödlichen Hirntumor hatte?»

Fock sah ihn verblüfft an. «Was?»

«Korrekt. Ich habe das auch erst nachträglich herausbekommen, weil Herr Kettler es vergessen hatte, in der Akte zu vermerken.» Das war ihm so rausgerutscht. Doch in dem Moment, als seine Worte erklangen, wurde Winter klar, dass er sich gerade nach Petze anhörte.

Fock befand bloß: «Je nun, es ist ja auch nicht so wichtig. Dieser Hirntumor hat doch sicher nichts mit dem Verbrechen zu tun.»

«Woher wissen Sie das? Nach meinem Gefühl haben wir überhaupt noch nicht verstanden, was da bei Vogels passiert ist. Es gibt mehrere Leute aus Sabrina Vogels Umfeld, die noch gar nicht befragt wurden.»

«Dann machen Sie das in Gottes Namen, aber lassen Sie Sven Kettler in Ruhe arbeiten. Der ist nicht schlecht, der Junge. Nötzel sagt auch, er mag seine knappen Protokolle. Ihre sind immer so ausufernd. Das will doch kein Mensch lesen.»

Winter hob bloß die Brauen und verabschiedete sich. So sah man also seine Sorgfalt.

Eines war jetzt klar. Es gab nur einen Weg, wie er sich gegenüber Sven Kettler behaupten konnte. Er musste diesen Fall aufklären und zeigen, dass Kettler falsch lag. Vollkommen falsch.

***

In einem hatte Fock recht: Es war ein großer Nachteil, dass er nicht von Anfang an dabei gewesen war.

Winter begab sich zum Büro zwei Türen neben dem seinen, wo Heinz Glocke und Arno Ziering ihren Arbeitsplatz hatten. Als er eintrat, wich Glocke seinem Blick aus. In dieser Sekunde verstand Winter, dass Glocke vorhin für Kettler gelogen hatte. Heinz Glocke, den er zwanzig Jahre kannte, der sein Streifenpartner gewesen war und dem er in mehr als einer Situation aus der Patsche geholfen hatte. Wahrscheinlich sogar einmal zu viel. Erst jetzt erkannte er, dass hier eine echte, gezielte Intrige gegen ihn lief. Ihn fröstelte.

Er fasste sich, tat so, als wäre nichts.

«Sag mal, Heinz, du hast doch damals die Eltern der Sabrina Vogel befragt?»

Die Eltern waren die allerwichtigsten Informanten zu Sabrina Vogel. Am Abend nach der Tat war Glocke alleine nach Allmenrod bei Lauterbach gefahren, um die Todesnachricht zu überbringen und die Eltern als Zeugen zu vernehmen. Winter vermutete, dass in dem knappen, förmlichen Protokoll nicht alles stand.

«Ja, das stimmt», sagte Glocke, erleichtert, dass es nur darum ging.

«Wussten die Eltern von dem Hirntumor der Tochter?»

«Hirntumor? Was für ein Hirntumor? Davon weiß ich gar nix.»

Winter seufzte. «Sabrina Vogel litt an einem bösartigen Hirntumor. Okay, das war also kein Thema bei dem Gespräch.»

«Nein. Die Befragung hab isch aber auf Kassette aufgenommen. Kannst du dir anhören, wenn du willst.»

Glocke kramte, bis er die beschriftete Mikrokassette gefunden hatte. Er bevorzugte die alten analogen Geräte, da er mit jeglicher digitaler Technik auf Kriegsfuß stand. Diktiergeräte lieferten generell nicht die besten Aufnahmen. Aber sie waren besser als nichts.

***

Nach dem Mittagessen mussten sie sich immer alle ins Bett legen. Der Betreuer schimpfte, als Wolke wieder bei Merle unterkriechen wollte. Er riss Wolke aus dem Bett, legte sie in ihr eigenes. Merle hörte Wolke wimmern. Der Vorhang vor den Fenstern wurde zugezogen, und nun sollten sie schlafen. Merle hasste das. Gerade mittags konnte sie immer nur halb einschlafen. Immer nur so weit, bis die Träume kamen. Diesmal träumte sie von Wolke. Ein Mann holte sie aus dem Bett. Er sagte zu ihr: Du bist mein Pipi-Mädchen. Dann sagte er: Du musst bestraft werden, weil du böse warst. Deswegen darfst du nicht im Bett liegen. Er legte Wolke auf den Boden und machte Fickifacki mit ihr. Dann sah er hoch, zu Merle. In diesem Moment erst sah sie sein Gesicht. Es war der Motorradmann. Sie schrie.

***

Winter saß vor dem laufenden Diktiergerät, die Augen geschlossen, um besser hören zu können. Der resignierte Ton in der Stimme von Sabrina Vogels Mutter war eine Information, die das Protokoll nicht geliefert hatte. Brav, gehorsam und duldsam beantwortete Frau Gunhild Pfister banale Fragen, kochte Glocke Kaffee und schmierte ihm Brote, kurz nachdem sie die Nachricht über den gewaltsamen Tod ihrer Tochter erhalten hatte. Winter hatte Eltern Ermordeter am Boden zerstört erlebt, aggressiv, anklagend und ungläubig und gelegentlich auch gefühlskalt, wenn das Verhältnis zu dem Toten schlecht gewesen war. Doch diese sofortige traurige Fügung war ihm noch nicht begegnet.

Nein, sie wisse von keinen Feinden. Sie wisse von keinem Schmuck oder Wertsachen im Haus. «Die Sabrina hatte doch gar keinen Schmuck, die war immer so bescheiden.» Sie wisse nicht, wer Sabrina und ihren Schwiegersohn getötet haben könnte.

An dieser Stelle im Gespräch erklang im Hintergrund ein schauerliches Geräusch, wie ein entferntes Klagen Geisteskranker, von dem Winter Mark und Bein gefror.

Er trug das Gerät zwei Türen weiter, spielte Glocke die Stelle vor. «Wer oder was ist das?»

«Das ist der Mann. Der Herr Pfister. Der hatte doch den Schlaganfall. Saß da im Rollstuhl und hat auf sein Lätzchen geseibert und gab immer mal so Geräusche von sich.»

Winter spulte zurück und ließ die Stelle nochmals laufen. Wer könnte Ihre Tochter und Ihren Schwiegersohn getötet haben?, erklang Glockes Frage. Ich weiß es wirklich nicht, antwortete Frau Pfister. Und unmittelbar danach hörte man etwas wie ein langgezogenes «üh-ah» aus dem Hintergrund, dreimal wiederholt.

«Ich glaube, der will was sagen», schloss Winter. «Der weiß was.»

«Ach wo», sagte Glocke. «Der is bloß noch Gemüse, der Mann. Der veschetiert oder wie man des nennt.»

Glockes Einschätzungen war selten zu trauen.

«Wann hatte der eigentlich seinen Schlaganfall?»

«Die Frau meinte, es wär noch net so lange her.»

Winter hob die Brauen. Noch nicht so lange her? Dann gab es die Hoffnung, dass sich Pfisters Zustand inzwischen gebessert hatte und er reden konnte. Oder vielleicht schreiben. Winter fand es auffällig, dass die Frau die offensichtlichen Versuche ihres Mannes, sich zu äußern, komplett ignorierte.

Erst mal musste er sich den Rest des Bandes anhören. Er ging zurück in sein Büro.

Glockes nächste Frage war:

«Hat die Sabrina in letzter Zeit was gesagt, dass sie sich bedroht fühlt? Dass sie Angst vor jemandem hat?»

Frau Pfister zögerte lange. Sehr lange.

«Wissen Sie», seufzte sie schließlich, «nicht direkt. Aber ich habe schon lange das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Ich hab sie auch mal gefragt, im Sommer vor zwei Jahren war das. Kind, hab ich gefragt, du hast doch was, ist vielleicht was mit dir und dem Thomas? Aber sie hat abgestritten, dass irgendwas wäre. Die Sabrina war immer so verschlossen.»

Das bestätigte einiges, was Janine Paulus erzählt hatte.

Nach Angaben, wie oft und wann zuletzt sie ihre Tochter gesehen habe und dass sie von Freunden und Bekannten nichts wisse, kam Frau Pfister auf ihren eigenen Mann zu sprechen. Er habe seine Enkelin Merle besonders geliebt und auch zu seinem Schwiegersohn Thomas ein gutes Verhältnis gehabt. Thomas, er und die Merle seien immer zusammen in den Wald, wenn die Vogels wie üblich ihren Sommerurlaub in der Einliegerwohnung in Allmenrod verbrachten. «Mein Mann ist ja schon lange pensioniert. Aber als Förster hat er den Wald natürlich sehr geliebt. Er war jeden Tag im Wald unterwegs, als er noch konnte. Nicht wahr, Reinhard?»

In der Ferne ein herzzerreißendes Gurgeln.

Winter sprang auf, Gerät in der Hand, und lief zum dritten Mal zum Büro von Glocke und Ziering.

«Sag mal, Heinz, der Mann war Förster? Warum um Himmels willen steht das nicht in der Akte?»

«Kann ich dir genau sagen», antwortete statt Glocke Arno Ziering. «Sven hat Heinz gesagt, er soll das Protokoll kurz halten, die Leute seien ja unverdächtig. Dass der Förster war, höre ich jetzt auch zum ersten Mal. Das weiß Sven wahrscheinlich auch nicht.»

Winters Augen blieben kurz an denen von Ziering haften. Dieser Mitarbeiter stand auf seiner Seite.

«Warum, was soll denn dadran plötzlich so wichtig sein, was der von Beruf war?», fragte Glocke. Er war nicht fix darin, Zusammenhänge herzustellen. Solange er stur alle seine Informationen weitergab, anderen die Bewertung überlassend, war das nie ein Problem gewesen.

«Denk mal nach», sagte Arno Ziering. «Ein Förster hat zumeist Waffen.»

«Ja, na und? Sischä, der hatte ein paar Gewehre an der Wand hängen.»

«Mensch, Heinz!», brauste Winter ungeduldig auf. «Für die Jagd wird gerne mal ein Magnum-Kaliber eingesetzt. Das ist sogar das Hauptanwendungsgebiet. Zur Nachsuche, oder wie das heißt. – Arno, lass mich mal grad an dein Telefon.»

Während Winter Steffen Leibold anrief, den König der Datenbankrecherche, nörgelte Glocke verärgert: «Der alte Mann ist doch net im Rollstuhl nach Frankfurt gedüst und hat seine eigene Tochter umgebracht!»

Unterdessen sagte Winter in den Hörer: «Steffen? Überprüf bitte mal, ob der Vater der Sabrina Vogel, ein Reinhard Pfister, wohnhaft in Allmenrod bei Lauterbach, einen Waffenschein hat und für welche Waffen.»

Leibold meldete sich zehn Minuten später telefonisch zurück. «Volltreffer», sagte er. «Der Mann hat unter anderem einen .44er-Magnum-Revolver Marke Smith und Wesson. Das ist es doch, was du hören wolltest?»

Damit lag Leibold richtig. Das war es, was Winter hören wollte.

***

Es war eine Schneefahrt durch den Vogelsberg, die letzten Kilometer auf ungeräumten Straßen. Ein scharfer Ostwind trieb die dicht fallenden Flocken fast waagerecht. Winter fragte sich, wie sie später im Dunkeln wieder nach Hause kommen sollten.

Das Haus der Pfisters war altes Fachwerk, wunderschön herausgeputzt, mit Blumenkästen, die so eingeschneit waren, dass man sie kaum als solche erkennen konnte.

Frau Pfister öffnete die Tür. Sie war eher groß, eher schlank und trug Pullover und langen Rock aus brauner Wolle. Ihre glatte Kurzhaarfrisur betonte die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter, nur dass ihr Gesicht gealtert war, die Zähne gelb und lang, die Haut fahl unter den geplatzten Äderchen, und ihr Ausdruck der eines stillen, depressiven Erduldens. Bei der Vorstellung, dass diese Frau die Täterin sein könnte, wurde es Winter mulmig.

Nachdem Winter sich und Ziering vorgestellt hatte, wurden sie mit märtyrerhafter Resignation, aber vollkommener Höflichkeit hineingebeten. Vorm Haus parkte zur Verstärkung noch eine Streife, doch die Kollegen sollten nicht in Erscheinung treten, solange sie nicht gebraucht wurden.

Frau Pfister führte die Polizisten durch einen langen, eiskalten Flur in ein großes Wohnzimmer. Ein Fernseher lief auf Höchstlautstärke, ein grüner Kachelofen gleich neben der Tür glühte heiß, und von der Rückwand glotzten einen drei ausgestopfte Hirschköpfe unter mächtigen Geweihen an, darunter gekreuzte Jagdgewehre. Von Waffenschrankpflicht ließ man sich hier offenbar nicht beeindrucken. Die Gewehre zierten sicher schon seit anno Tobak diese Stelle.

In einem Rollstuhl vor dem Fernseher saß der Vater der Ermordeten, ein Greis mit schiefstehendem, zittrigem Kopf, dem man ein Lätzchen umgebunden hatte. Winter ging geradewegs auf den alten Mann zu und stellte sich vor. Dabei zeigte sich, dass es mit den Sprechfähigkeiten Herrn Pfisters seit Kollege Glockes Besuch vor zweieinhalb Wochen nicht besser geworden war. Dem Kranken gelang nicht mehr als eine lasche Bewegung der Hand. Das hieß wohl, er würde auch nicht schreiben können. Nur weil Winter beherzt zugriff, kam ein Händeschütteln zustande. Immerhin nahm Herr Pfister seine Umgebung wahr.

Frau Pfister fragte unterdessen, ob sie Kaffee trinken oder etwas essen wollten. Dankend lehnten sie ab.

Wie verabredet begann Arno Ziering das Gespräch.

«Frau Pfister, wir haben noch ein paar Nachfragen in Sachen der Tötung Ihrer Tochter und Ihres Schwiegersohns. Erst mal wollen wir Sie informieren, dass wir derzeit einen Verdächtigen in Haft haben, einen jungen Mann mit krimineller Vergangenheit.»

«Ach, Gott sei Dank, Gott sei Dank!», rief Gunhild Pfister. Es klang, als habe ihr jemand gesagt, ihre Tochter sei doch noch am Leben. Zierings und Winters Blick trafen sich. Es war seltsam, dass die zurückhaltende Frau gerade auf diese Information so stark emotional reagierte.

«Zweitens haben wir eine etwas delikate Frage an Sie. Bei der Obduktion Ihrer Tochter fiel auf, dass sie an einem Hirntumor litt. Wussten Sie davon?»

Im Auto hatten Winter und Ziering gemeinsam die Hypothese aufgestellt, der Mord an Sabrina Vogel könne eine Form von Sterbehilfe gewesen sein, eine Kurzschlussreaktion eines Elternteils, der mit dem Todesurteil Hirntumor nicht zurechtkam. Waffen zu besitzen schloss immer das Risiko ein, sie irgendwann gegen Menschen zu verwenden. Meist waren dann Familienmitglieder die Opfer, durch Unfälle, durch Affekthandlungen.

«Ja, also, die Geschwulst wurde ja festgestellt im Sommer, als sie bei uns waren. Die Sabrina hat mir aber gesagt, dass es gutartig wäre, und man müsste auch erst mal gar nichts machen.» Das klang allerdings so, als ob Frau Pfister an dieser Auskunft ihre Zweifel gehabt hätte.

«Wann hatte denn Ihr Mann seinen Schlaganfall?»

«Im November.»

So viele Schicksalsschläge so kurz hintereinander, dachte Winter. Die Familie tat ihm unendlich leid. Doch wenn die Auskunft stimmte, schloss das Reinhard Pfister als Täter aus.

«In welchem Krankenhaus war Ihr Mann da?»

«Fulda. Auch zur Reha.»

«Gut. – Frau Pfister, wir sind vor allem gekommen, um eine Waffe Ihres Mannes zu überprüfen. Eine Routineüberprüfung, aber sie muss gemacht werden. Einen Revolver mit Magnum-Kaliber. Wissen Sie, wo Ihr Mann seine Waffen aufbewahrt? Bis auf die beiden Gewehre hier, die eigentlich in einen Schrank gehören, das wissen Sie?»

«Ja … aber die sind doch nicht geladen. Die hängen hier schon immer.»

So wirkte das ganze Pfister’sche Wohnzimmer: Als ob hier alles so sei, wie es schon immer gewesen war. Sogar der schlafende Hund im Körbchen lag reglos wie ein Museumsstück.

Frau Pfister nahm in der Diele einen Schlüssel vom Haken und führte sie ins oberste Stockwerk, das weit heller und moderner wirkte. Der metallene Waffenschrank stand in einem ansonsten von naturbelassenem Fichtenholz dominierten Schlafraum, der picobello ordentlich und jungfräulich aussah wie ein Hotelzimmer.

Den Schlüssel zum Waffenschrank hatte Frau Pfister unten bei der Haustür vom Schlüsselbrett genommen; er wäre jedem Besucher des Hauses frei zugänglich gewesen. Als sie den Metallschrank damit öffnete, kam eine reichhaltige Waffensammlung zum Vorschein. Gleich auf den ersten Blick entdeckte Winter einen großkalibrigen Revolver mit hochpolierter Edelstahltrommel. Eine Magnum, der Traum jedes Waffennarrs. Ziering wollte schon die Hand danach ausstrecken, aber Winter gab ihm den Wink zu warten. «Wo ist denn die Munition?», fragte er.

«Da drüben.» Frau Pfister verwies auf eine Metallkommode in der Ecke und schloss diese ebenfalls auf. Der Schlüssel hing am selben Bund. So viel zum Sinn der Maßnahme, Waffen und Munition müssten getrennt aufbewahrt werden. Winter sah den Inhalt der Kommode durch. Von .44er-Magnum-Patronen war nur eine einzige Magazinladung vorhanden – sechsschüssig, wie erwartet. Von den anderen Munitionssorten gab es weitaus größere Vorräte.

Winter stellte sich unwissend. «Frau Pfister, wir bräuchten von Ihrem Mann einen .44er-Magnum-Revolver. Welche der Waffen könnte das sein? Ich kenne mich da leider nicht so gut aus.»

Frau Pfister griff müde und resigniert dreinblickend zur richtigen Waffe.

«Halt, nicht berühren!», rief Winter und stoppte ihren Arm durch einen Griff ans Handgelenk.

«Wir müssen die Waffe und die zugehörige Munition vorläufig beschlagnahmen», erklärte er, während Ziering mit Handschuhen alles vorsichtig in Beutel packte. «Reine Routinemaßnahme», wiederholte Winter. Frau Pfister nahm das Ganze mit ihrer üblichen duldsamen, passiven Miene hin.

Am Ende schloss Winter die beiden Schränke ab und erklärte, die Polizei müsse auch den Schlüssel vorläufig beschlagnahmen.

Das stimmte eigentlich nicht. Doch wenn sie Frau Pfister heute schon nicht verhafteten, wollte er sie wenigstens am Zugang zu dem häuslichen Waffenarsenal hindern. Nicht dass die Frau noch Amok lief und ihren Mann und das halbe Dorf hinmordete.

***

Gunhild Pfister stand oben am Giebelfenster. Unter ihr leuchtete schwach und gelb die einzige Straßenlaterne weit und breit. Im Schneetreiben manövrierten die Polizeiwagen, wendeten und verschwanden in der Dunkelheit. Beinahe hatte sie sich mit den Polizisten im Haus besser gefühlt als ohne sie.

Sie hätte Reinhard niemals heiraten dürfen. Aus Schlechtem entstand nichts Gutes. Und glaubte man dem Feind der Familie, Jörg Krombach, so war die Grundlage ihrer Ehe ein Mord gewesen. «Mörder meiner Mutter» hatte Jörg Krombach bei der Hochzeit Reinhard vor allen Leuten genannt.

Dabei galt Rosemarie Krombachs Tod offiziell als Unfall. Auch Jörg hätte das vielleicht so gesehen, hätte er nicht Reinhard, Rosemaries Liebhaber, schon davor jahrelang gehasst, weil er seine Mutter zur Hure machte und seinen Vater zum Gespött. Ein zorniger junger Mann war Jörg Krombach gewesen. Selbst seinem Vater grollte er, weil er die Daueraffäre seiner Ehefrau mit dem Förster hinnahm, einfach so tat, als sehe er es nicht.

Und dann kam eben jener Juniabend, an dem Jörgs Vater zu Hause auf seinem Hof blieb, während seine Frau mit ihrem Freund, dem Förster, zur Sonnenwendfeier nach Röthges fuhr, als Beifahrerin auf dem Motorrad, ihrem gesetzten Alter von fünfzig Jahren gänzlich unangemessen. Die Rosemarie war immer eine umtriebige Person gewesen, die es abends aus dem Haus zog. Auf dem letzten Stück der Rückfahrt von Röthges hatte Reinhard irrsinnigerweise einen Schleichweg durch Wald und Feld genommen, den er als Förster natürlich bestens kannte, und war auf dem holprigen Untergrund gestürzt. Er selbst holte sich nur eine Platzwunde und ein paar Schrammen. Aber seine Geliebte, Jörgs Mutter, kam bei dem Sturz zu Tode.

Erst hatte Reinhard noch versucht, die leblose Rosemarie aufzuladen, sternhagelvoll, wie er wahrscheinlich war. Dann hatte er eingesehen, dass das nicht ging; sie war ja auch nicht die Leichteste gewesen. Alleine war er nach Allmenrod gefahren und hatte dort die Kameraden von der freiwilligen Feuerwehr verständigt, damit sie Rosemarie holen kämen. Weil sie nach seiner Aussage tot war, wurde ein Krankenwagen gar nicht erst gerufen. Das wäre heute alles anders. Und obwohl Reinhard betrunken war, kam niemand auf die Idee, ihn zur Polizei in die Stadt zu bringen und einen Alkoholtest zu machen. Der Dorfpolizist, das Karlchen, war sein Freund und häufiger Saufkumpan. Der alte Dorfarzt war beim Totenschein gefällig. Solche Dinge regelte man damals intern. Es half ja niemandem, die Sache an die große Glocke zu hängen. Mit einem Forstwagen holten sie Rosemarie aus dem Wald und brachten sie nachts um drei nach Hause, mausetot, mit Erde und Laub und Ästchen verschmutzt und mit Schürfwunden im Gesicht sowie auf dem wogenden welken Busen, den sie wie immer zu entblößt getragen hatte. Die Wunden kamen daher, dass Reinhard versucht hatte, sie quer über seinen Motorradsattel zu legen und sie dabei über den Boden geschleift hatte. Die Tote sah aus wie nach einem Martyrium. Begreiflich, dass ihr Sohn diese Nacht und diesen Anblick nie vergessen konnte.

Der Tod Rosemaries war jedoch Gunhilds Chance. Sie war vierzig, hatte keinen Beruf außer Hauswirtschaft gelernt, und die Schwägerin wollte sie aus dem Haus haben, das merkte sie jeden Tag. Der Reinhard, wusste man, war nicht gern allein, war Junggeselle nur geblieben, weil er mit der Rosemarie sozusagen versorgt war. Nun war er fünfundfünfzig, zwar noch fesch für sein Alter, aber so viele Chancen hatte er nicht mehr. Zumal es im Dorf keine passende unverheiratete Frau gab. Außer eben Gunhild. Gunhild, die nie jemand gewollt hatte, obwohl sie auch nicht hässlicher war als andere.

Es war bekannt, dass der Reinhard abends nach acht gern in der Wachtel in Lauterbach beim Bier saß. Also machte Gunhild sich hübsch und ging eines Abends dorthin. Noch im Oktober desselben Jahres war Hochzeit.

Und gerade das hatte der Jörg wohl dem Reinhard besonders übelgenommen: Dass er erst die Rosemarie «umgebracht» und sich dann gleich mit einer anderen getröstet hatte, während Rosemaries Familie noch trauerte.

Nachdem Jörg ihnen zur Hochzeit lautstark «alles Unglück dieser Welt» gewünscht hatte, setzte er zu Sabrinas Taufe im nächsten Jahr noch eins drauf: «Mörderkinder sterben früh», prophezeite er und sah vielsagend drein, als habe er einen Plan in petto, das Kind zu töten. Gunhild ließ ihre kleine Tochter später nicht alleine aus dem Haus vor Angst, Jörg könnte sie im Bach ertränken, oder die Kinder aus Rosemaries Familie würden es tun. Jörg impfte seine Nichten und Neffen und später seine eigenen Kinder mit Hass auf die unschuldige Sabrina. Wenn Gunhild mit ihrer Tochter die Dorfstraße entlang zum Bäcker ging, und sie begegneten draußen irgendwelchen von Rosemaries Enkeln, ging das Gejohle los: «Da kommt das Pfister-Monster!», «Iiiih, das Pfister-Monster!», pflegten sie zu rufen. Pfister-Monster nannten sie die arme Sabrina, weil sie als Kleinkind unglücklicherweise einen dicken Blutschwamm auf der Backe hatte. Auch die anderen Kinder aus dem Dorf nahmen den Ausdruck an. Als Sabrina in die Grundschule kam, war der Blutschwamm verblasst, geschrumpft und kaum noch sichtbar, aber der Name «das Pfister-Monster» war ihr geblieben. Er begleitete Sabrina, abgekürzt zu «das Pfister», sogar noch ins Gymnasium nach Lauterbach, wie Gunhild entsetzt erfuhr, als sie eines Tages zur Mittagszeit in der Kreisstadt Besorgungen machen musste und eine Gruppe Schüler vor ihr herging. «Das Pfister ist doch ein Spast», hörte sie einen der Schüler zu den anderen sagen. Alle lachten. «Ey, woll’n wir das Pfister morgen –», begann ein weiterer, da ließ Gunhild sich zurückfallen, um nicht mehr zuhören zu müssen. Spätestens seit diesem Tag wusste sie, dass es keinen Sinn hatte, gegen das Schicksal anzukämpfen. Sie hätte Reinhard nicht heiraten dürfen. Nun aber war ihr Schicksal besiegelt und das ihrer Tochter ebenso. Sabrina als Kleinkind vor «Unfällen» zu schützen hatte nur dazu geführt, dass das Mädchen später umso schlimmer leiden musste.

Als Sabrina sechzehn war, beschloss Jörg Krombachs damalige Frau, sich von ihrem Mann zu trennen und die Kinder mitzunehmen. Das brachte den schwierigen, rachsüchtigen Menschen neuerlich aus dem Gleichgewicht. Traf man ihn auf der Straße, wurde er auf eine Weise ausfällig, dass Gunhild angst und bange wurde. Man hörte, er habe sich ein Motorrad zugelegt und den Motorradführerschein gemacht. Eines Morgens fand Gunhild einen Zettel im Flur, auf dem Folgendes stand:

Der HERR läßt niemanden ungestraft, sondern sucht heim die Missetat der Väter über die Kinder ins dritte und vierte Glied. Der Herr sagt: Ich will euch weitere siebenmal mehr strafen um eure Sünden, daß ihr sollt eurer Söhne und Töchter Fleisch essen.

Diese grausigen Drohungen aus der Bibel konnten nur von Jörg stammen. Aus irgendeinem Grund ahnte Gunhild, dass sie am Osterfest in Erfüllung gehen sollten, welches in wenigen Tagen bevorstand, und dass das Motorrad dabei eine Rolle spielen würde. Im Vorjahr war Sabrina zum ersten Mal zum Osterfeuer der Burschenschaft gegangen. Dieses Jahr wolle sie wieder hin, sagte sie. Allein natürlich, per Anhalter. Sie hatte ja keine Freunde im Dorf.

Als Sabrina am Ostersamstag fortgegangen war, fand Gunhild keine Ruhe. So verriet sie Reinhard, was sie befürchtete. Reinhard nahm seinen Revolver samt einer Ladung Munition und verließ das Haus. Gunhild saß im Wohnzimmer und wartete auf eine Katastrophe. Fast wünschte sie sich, es möge etwas Furchtbares geschehen, damit nur endlich diese Anspannung vorbei wäre. Die ewige Sorge um Sabrinas Wohl zermürbte sie. Es war ja alles vergeblich. Sabrina konnte ihrem Schicksal nicht entgehen. Der Fluch eines frühen Todes, den Jörg bei ihrer Taufe ausgestoßen hatte, der würde so oder so sein Werk tun.

Nachts um drei kam Reinhard nach Hause, grimmig. «Das Arsch kann meine Tochter vögeln, aber umbringen wird er sie nicht», verkündete er. Ohne weitere Erklärungen legte er sich ins Bett. Sabrina kam um vier, rotbackig und aufgedreht, in ihren Haaren und der Bekleidung steckten Pflanzenteile, und Gunhild musste an die tote Rosemarie denken. Schämte sich Sabrina denn nicht, dass jeder sehen konnte, sie hatte sich am Boden gewälzt? Sie sei den ganzen Abend mit dem Jörg zusammen gewesen, erzählte sie fröhlich im Wohnzimmer, wo Gunhild all die Zeit auf sie gewartet hatte. Sabrina schien stolz, dass der wesentlich Ältere sie umgarnte. Der Jörg habe sie auch mit dem Motorrad nach Hause fahren wollen. Aber die Reifen seien zerschossen gewesen. Einige Zeit vorher habe man Schüsse gehört, und alle hätten gedacht, jemand vom Schützenverein schieße in die Luft. Jörg habe getobt vor Wut angesichts der kaputten Reifen. Am Ende habe der Willy von der Burschenschaft sie beide mit dem Auto nach Hause befördert.

«Kind, halt dich vom Jörg fern», sagte Gunhild dazu nur. «Der will dir nichts Gutes.»

Sabrina kannte die alten Geschichten natürlich. Sie wusste auch, wem sie es zu verdanken hatte, dass sie im Dorf so unbeliebt war.

«Ach, Mama!», rief Sabrina. «Immer bist du so negativ. Wenn gute Vibrationen von einem ausgehen, passieren einem auch gute Sachen.»

Am nächsten Tag beim Frühstück teilte Reinhard Sabrina mit: Wenn sie noch einmal so blöd wäre, sich vom Jörg Krombach durchficken zu lassen, dann werde er sie persönlich erschießen, dann sei sie nämlich zu dumm für diese Welt.

Keine der beiden Frauen am Tisch wagte einen Kommentar. Man hörte danach nie wieder, dass Sabrina Kontakt mit Jörg pflegte.

Bis zu diesem Sommer. Da hatte Gunhild Sabrina mit Jörg auf der Dorfstraße reden sehen, während Reinhard mit Enkeln und Schwiegersohn in den Wald gegangen war.

In der folgenden Nacht war Sabrina die Treppe heruntergefallen. Angeblich.

***